Dachreiter Predigerchor 2012
Dachreiter sind kühne und exponierte Konstruktionen. Der Dachreiter des im 14. Jahrhundert erstellten Chors der Predigerkirche wurde mehrfach vom Sturm umgeworfen. 2012 wurde er verstärkt. Im Turmknauf vorgefundene Dokumente zeugen von Schadensereignissen und Reparaturen seit 1629.
Ein graziler Turm…
Dachreiter sind typisch für Bettelordenskirchen. Sie sind die einfachere Form des repräsentativen, gemauerten Kirchturmes und ragen in ihrer gotischen Ausprägung als hölzerne «Nadel» weit über den First des Daches empor. Sie beherbergen eine Glocke, die einst zum Gebet aufgerufen hat. Was aus der Ferne grazil und schlank wirkt, ist aus der Nähe betrachtet eine tüchtige Zimmermannskonstruktion aus mächtigen, eichenen und tannenen Balken. Trotzdem genügte die Konstruktion auf dem Dach des Predigerchors 1629 nicht, um gegen den Wind zu bestehen, wie das älteste im Turmknauf hinterlegte Dokument belegt:
«Nach dem unns Gott der Almechtig mit Grossen und schweren Sturmwinden heimgesucht daruff Mitwuch den 28. Jenner 1629 der alte Thurm von sollichen Sturmwinden, überall, bis uff die Gloggen abhin geworffen worden. Da hierauff Herr Heinrich Balber dess Raths und Obman gemeiner Clöstern allhir bemält Jahrs diesere Jetzigen von Neüwem uffrichten unnd erbauwen lassen»…
Der Bauentscheid muss sofort umgesetzt worden sein. Das Fälldatum des Bauholzes für den neuen Turm lautet nämlich auf Herbst/Winter 1628/29. Der konstruktive «Kern» des neu aufgerichteten Dachreiters hielt bis heute und bleibt auch nach der Renovation 2012 die tragende Struktur. Die Hülle und stark beanspruchte Teile wurden hingegen mehrfach saniert. Dokumente im Knauf belegen Reparaturen am Schindelhut, am Blechwerk, am Anstrich, an der Vergoldung der Knäufe. 1790 wurde ein Blitzableiter installiert, 1830 eine «Helmstange von 27' [Fuss]» eingepasst. Bei der Helmstange handelt es sich um den obersten hölzernen Teil des Turmhelms.
…stark gebaut
Die sechseckige Konstruktion des Dachreiters besteht aus einem Turmschaft, welcher die Glockenstube beherbergt und vom ebenfalls sechseckigen, spitzen Turmhelm überdacht wird. Dieser ist wie ein Sparrendach konstruiert. Sechs lange Gratsparren bilden die Dachkanten, zuoberst umfassen sie die Helmstange, die die Sparren um mehrere Meter überragt. Der Helmstange ist sodann eine metallene Spitze aufgesetzt. Hier finden sich die beiden Knäufe und zuoberst der Wetterhahn – rund 24 Meter über dem First des Chores und 56 Meter über dem Boden.
Zier- und Gestaltungselemente sind die sechs Wimperge über der Glockenstube. Ihre geschweifte Front bildet den Auftakt zur noch steileren, übrigens ebenfalls geschweiften Linie des Turmdachs. Wie ihr grosser Bruder tragen sie an ihrer Spitze zwei blecherne, vergoldete Knäufe. Wasserspeier in Drachenkopfform an ihrer Basis tragen zur dekorativen Wirkung bei.
Metall wurde nicht nur für die Turmspitze, die Knäufe und die Entwässerung verwendet. Auch die Holzverbindungen an Schaft und Helm wurden mit eisernen Bändern gesichert und zwar schon beim Bau des Dachreiters 1629. Anders hielte die Konstruktion nicht zusammen. Eisen wurde im traditionellen Zimmermannshandwerk normalerweise nicht eingesetzt. Gut möglich, dass dessen Verwendung eine Innovation darstellte, die zur Dauerhaftigkeit dieses Dachreiters beigetragen hat. Er steht doch seit bald 400 Jahren an Ort und Stelle.
Frühere Dachreiter waren nicht derart beständig. Gemäss einer schriftlichen Quelle wurde 1594 ein neuer Turm aufgerichtet. Dieser Turm hielt folglich nur 35 Jahre. Von aussen unsichtbare Relikte eines noch älteren Turms finden sich im Dachraum zwischen First und Dachboden des Chors: Eine Sprengbock genannte, sechseckige Unterkonstruktion stammt von einem vermutlich 1496 errichteten Dachreiter. Es dürfte derjenige sein, den Jos Murer 1576 auf seinem Stadtprospekt abbildet. Erstaunlich ist, dass dieser Dachreiter um einen noch etwas älteren, nämlich 1475 errichteten Glockenstuhl herum errichtet wurde, wobei die beiden räumlich eng beieinander stehenden Konstruktionen tatsächlich keinerlei Verbindung untereinander aufweisen. Es ist eine wohlüberlegte Trennung. Sie hilft einerseits die Kräfte der schwingenden Glocke vom Dachreiter fernzuhalten, andererseits die wertvolle Glocke vor einem Sturmschaden des Dachreiters zu schützen. Ein Konzept, das sich bewährt hat, wie das 1629er-Ereignis zeigt. Die Glocke hat nämlich den Turmsturz schadlos überstanden. Bei der Glocke handelt es sich um die 1451 für den Dachreiter des Predigerchors gegossene Glocke. Es ist die älteste in situ hängende Glocke der Zürcher Altstadt, wenn nicht von ganz Zürich. Und das älteste erhaltene Stück des Dachreiters überhaupt.
(Fotos und Plan AfS/Archäologie)