Die Medizin der Zukunft: Total digital?
Die Medizin schreitet mit Siebenmeilenstiefeln in Richtung Digitalisierung. Fast könnte einem schwindlig werden bei der Vorstellung, in welche Science-Fiction-Welt wir da hineingeraten. Werden wir auf der Notfallstation bald von Bodyscannern und Computern behandelt? Im Operationssaal von Chirurgierobotern operiert?
«Wer glaubt, dass der Computer alles übernehmen wird, unterschätzt die Individualität des Menschen», beruhigt Patrick Sidler, Leiter des Notfallzentrums im Stadtspital Waid. Der erfahrene Arzt weiss, wie unterschiedlich die Patientinnen und Patienten ihre Beschwerden schildern. «Ist ihnen etwas unangenehm, reden sie oft so darum herum, dass wir dem Sachverhalt nur mit viel Einfühlungsvermögen auf die Spur kommen.» Ein Computer hingegen kann nur gültige Resultate liefern, wenn er mit den hinterlegten Begriffen gefüttert wird. «Ich wüsste nicht, wie man ihm beibringen soll zu erkennen, wenn jemand sich schämt.» Ebenso in der Pflege. Ein elektronisch gesteuertes Gerät, das Medikamente rüstet: gewiss. Assistenzroboter, die beim Aufstehen am Bett helfen: warum nicht? Viele von uns werden froh sein, wenn sie nicht für alles und jedes klingeln müssen. Doch im grossen Ganzen wollen die Patientinnen und Patienten vermutlich auch im Zeitalter der Digitalisierung ihre Sorgen und Nöte noch Menschen aus Fleisch und Blut anvertrauen.
Sich ausschliesslich auf die neuen Technologien zu verlassen, hiesse das Gleiche, wie blind einem Navi zu folgen, selbst wenn es das Auto auf einen unzugänglichen Berggipfel schickt. Auf handelnde, planende und urteilende Menschen wird auch die Medizin der Zukunft nicht verzichten können. Nichtsdestotrotz ist absehbar, wie sehr der digitale Fortschritt die medizinischen Berufe und den ganzen Gesundheitsbereich verändert. Hier nur ein paar Beispiele.
Boomende künstliche Intelligenz
Die «künstliche Intelligenz» macht rasend schnelle Fortschritte. Noch vor wenigen Jahren war ein Computer nicht fähig, auf einem Foto einen Hund von einem Stein zu unterscheiden. Doch seit die Informatik gelernt hat, ihre Algorithmen dem menschlichen Gehirn abzuschauen, verläuft die Entwicklung in der Bilderklassifikation exponentiell. So kann die Automatik heute schon Tumore im Röntgenbild besser wahrnehmen als das menschliche Auge. Denn die mit Datenbanken verknüpften Systeme haben Millionen von Vergleichsmöglichkeiten, um bestimmte Muster zu erkennen. So müssen die Radiologinnen und Radiologen in Zukunft nur noch überprüfen, ob das Resultat des Computers tatsächlich plausibel ist.
Persönlich zugeschnittene Medizin
Für die Patientinnen und Patienten bietet die personalisierte Medizin viele Chancen. Medikamente etwa werden zunehmend massgeschneidert. Mit der neusten DNA-Analysetechnik lassen sich heute schon in einem einzigen Schritt mehrere hundert Gene bestimmen. Und da die Kosten für solche Analysen rapide sinken und das nötige genetische Wissen ebenso rasch steigt, werden wir auf diesem Weg immer häufiger genau jenes Medikament bekommen, das uns mit unseren genetischen Voraussetzungen am meisten hilft.
Das Kniegelenk aus dem 3D-Drucker
«Massgeschneidert» ist auch das Stichwort der Stunde in der Prothetik. Wer auf O-Beinen ins Spital kommt, um sich hier eine Kniegelenksprothese einsetzen zu lassen, soll es danach auf schnurgeraden Beinen wieder verlassen können. Die exakte Ausrichtung der Beinachse ist allerdings eine heikle Angelegenheit. Die Chirurgie des Stadtspitals Waid arbeitet dabei mit modernsten Methoden. Sie schickt Computertomographie-Bilder des Patientenknies nach Lugano, wo eine Firma das Gelenk originalgetreu in 3D ausdruckt, inklusive einer ingenieurmässig berechneten Schablone für die chirurgische Schnittführung. Steril verpackt kommt das Ganze dann nach Zürich. Im Operationssaal sehen die Chirurginnen und Chirurgen anhand des 3D-Modells genau, wie sie die Schablone auf das echte freigelegte Gelenk aufsetzen müssen. Sind sowohl der obere wie der untere Gelenkskopf einmal auf diese Hightech-Art angeschnitten, kann darauf eine konventionelle Prothese gesetzt werden. Im Vergleich zu einer herkömmlichen Operationsplanung ist dieses Vorgehen etwas teurer – Kosten, die das Stadtspital Waid im System der Fallkostenpauschalen selber trägt. Aber: «Wir sind überzeugt, dass sich das lohnt», erklärt Michael Dietrich, Chefarzt Traumatologie und Orthopädie. «Die Patientinnen und Patienten profitieren sehr davon.»
«Mobile Health» macht unabhängig
Ein riesiges Potenzial verspricht der ganze Bereich der mobilen Gesundheitsbetreuung. Die Patientinnen und Patienten werden dadurch enorm an Unabhängigkeit gewinnen. Chronische Krankheiten wie Diabetes Typ 1 verlieren durch die neuen Möglichkeiten erheblich an Mühsal. Statt sich zur Blutzuckerbestimmung ständig in den Finger stechen zu müssen, misst nun unbemerkt ein implantierter Sensor. Zusätzlich wird schon an der Marktreife einer ebenfalls implantierbaren automatischen Insulinpumpe gearbeitet. Dieses kombinierte System würde dann so schnell und präzis reagieren, dass die Betroffenen fast wieder ganz normal essen können. Sicherheit bietet dabei die Übertragung der Messwerte via Internet, so dass der Arzt oder die Ärztin eingreifen könnte, falls nötig. Routinemässige Arztvisiten hingegen werden zu einem grossen Teil überflüssig.
Oder zu hoher Blutdruck: Einmal messen und darauf ein Medikament verordnen? Das war einmal. Standardmässig tragen nun Betroffene zuerst 24 Stunden lang ein mobiles Blutdruckmessgerät. Dieses bildet den tatsächlichen Gesundheitszustand mit allen Hochs und Tiefs wesentlich genauer ab. Immer mehr Apps und Sensoren werden es chronisch kranken und alten Menschen ermöglichen, ihr Leben besser und länger selbständig zu gestalten. Ein SMS, das den Parkinsonpatienten daran erinnert, seine Tablette zu nehmen; ein Sensor, der die Smogwerte misst und der Asthmatikerin empfiehlt, ins Haus zu gehen… Die Möglichkeiten sind unzählbar.
E-Health: Alle Kommunikation erfolgt elektronisch
Unsere im Jahr 2009 eröffnete Notfallpraxis hat noch nie mit Papier gearbeitet. Und auch im stationären Bereich werden die Krankengeschichten längst elektronisch geführt. Worauf wir aber besonders stolz sind: Schon lange vor dem offiziellen Start zum elektronischen Patientendossier in der Schweiz hatten wir so etwas wie ein «elektronisches Dossier im Kleinen». eWaid heisst das Portal, über das unsere zuweisenden Ärztinnen und Ärzte die Berichte, Röntgenbefunde und Untersuchungsresultate ihrer Patientinnen und Patienten schnell und unkompliziert einsehen können. Jede dritte unserer zuweisenden Arztpraxen nutzt dieses Angebot bereits, weil sie selbst ihre Krankengeschichten schon elektronisch führen. Zudem werden die Ärztinnen und Ärzte, wenn sie wünschen, per E-Mail benachrichtigt, sobald jemand von ihren Patientinnen und Patienten bei uns ein- oder austritt. So sind sie immer sofort und umfassend informiert.
Videoschulungen: Gewusst wie
Schulungen per Video sind nicht nur für die Youtube-Generation sinnvoll – auch manche Dialysepatientinnen und -patienten des Stadtspitals Waid schätzen sie. Wer sich für eine Bauchfelldialyse entschieden hat, nämlich autonom zu Hause, kann sich zusätzlich per Videoanleitung die erforderliche Praxis und Sicherheit in der Handhabung aneignen. Das ist vor allem für Personen aus dem Ausland mit Sprachproblemen von Vorteil.
Solche Videos werden auch in anderen Bereichen mehr und mehr kommen, ist Patrick Sidler überzeugt. «Standardaufklärungen, zum Beispiel über das richtige Verhalten nach einem Herzinfarkt, können sehr gut per Video bereitgestellt werden», findet der Leiter Notfallzentrum und Stv. Chefarzt der Medizinischen Klinik. «Aber um persönliche Ängste aufzufangen, braucht es den Arzt oder die Ärztin.»
Weniger Zeit im Büro – mehr Zeit am Bett?
Die neuen Technologien könnten gar eine Entwicklung rückgängig machen, die sowohl Ärzteschaft wie Pflege in den letzten Jahren stark belastet hat: die massiv gestiegene Flut von administrativen Arbeiten. «Wenn die Pflegefachleute in der elektronischen Patientenakte nur noch die Daten eingeben müssen und darauf passende Pflegediagnosen, Pflegeziele und Pflegeinterventionen vorgeschlagen erhalten, verkürzt dies die Dokumentationszeit erheblich», erklärt Maria Müller Staub, Leiterin Pflegeentwicklung und Qualitätsmanagement im Stadtspital Waid. «Und die Qualität der Pflegeplanung steigt dadurch sogar.» Die im Büro gewonnenen Stunden könnten dann wieder dem direkten Kontakt mit den Patientinnen und Patienten zugutekommen. Die Zeit der medizinischen Fachpersonen ist kostbar, vielleicht in Zukunft noch mehr als heute – setzen wir sie also dort ein, wo es für die Patientinnen und Patienten wichtig ist. Wir als Gesellschaft können entscheiden, wie wir diese Chance nutzen.
Der Roboter, der eigentlich keiner ist
Wer kennt ihn nicht, den «Chirurgieroboter» DaVinci. Zum Einsatz kommt er vor allem bei urologischen Prostataoperationen. Was viele nicht wissen: Bei diesem Gerät handelt es sich nicht um einen selbständigen Roboter, sondern um ein Assistenzsystem. Tatsächlich sind es immer noch die Chirurginnen und Chirurgen, die operieren: «Wir lenken den Roboter mit zwei Joysticks», erklärt Josef Beatrice, Leitender Arzt Urologie im Waid. «Dabei kontrollieren wir über eine 3D-Projektion jede Bewegung millimetergenau.» Das Stadtspital Waid verfügt selbst über keinen DaVinci, wir nutzen diese Infrastruktur im Triemli.
Entwickelt wurde der DaVinci übrigens vom US-Militär für den Einsatz an der Front. Das System lässt sich auch aus weiter Ferne bedienen. So könnten Ärztinnen und Ärzte Verwundete operieren, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.