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Wohnatelier der F+F Schule für Kunst und Design

In Ilaria Vincis Welt

Ilaria Vinci, «artist portrait», 2023, Fotografie.

Wenn man den Schlüssel hat, öffnen sich die Lifttüren im Dachgeschoss der F+F Schule für Kunst und Design. Beim Betreten des Wohnateliers fühlt man sich ein bisschen wie Alice, nachdem sie durch das Kaninchenloch ins Wunderland gefallen ist: An der Wand hängen überdimensional grosse Porzellantassen – der letzte Schluck Tee klebt entgegen den Regeln der Schwerkraft am Tassenboden. Es gibt auch filigrane Gemälde aus getrockneten Blumen, einen analogen Filmstreifen an der Wand oder eine riesige Mondsichel aus Fiberglas, die von einem der freiliegenden Balken knapp über dem Boden baumelt. Die beiden Spitzen sind mit einer Art verzierter Rüstung überzogen. Wir befinden uns in der Welt von Ilaria Vinci.

Die Künstlerin steht neben einem hüfthohen Baumstrunk. Seine Wurzeln scheinen im Betonboden zu verschwinden. Sie streicht über die herzförmige Schnittfläche und tätschelt die hohle Skulptur: «Daran möchte ich noch weiterarbeiten – irgendetwas ist noch nicht ganz so, wie es sein soll.» Ilaria Vinci arbeitet mit verschiedensten Materialien, unter anderem mit Keramik, Epoxidharz, Pappmaché oder Fiberglas, grossformatig und installativ. Alle Werke produziert sie selbst und eignet sich dafür jeweils neue Techniken und Fähigkeiten an. Sie lacht und sagt: «Ich mache mir das Leben nicht einfach. Es passiert mir immer wieder, dass ich mich im Detail verliere und die Zeit unterschätze. Zeit, die es zum Beispiel braucht, um die Löcher eines überdimensionalen Filmstreifens auszuschneiden oder um eine vier Meter lange und zwei Meter hohe handgemalte Kulisse einer Science-Fiction-Bibliothek zu airbrushen. Ich musste vor Ausstellungen schon einige Nächte durchmachen.»

Kluge Einfachheit

Ilaria Vinci wurde 1991 in Cisternino, einem kleinen Dorf in Süditalien, geboren. Nach ihrem Bachelor an der Accademia di Belle Arti di Brera in Mailand zieht sie für den Master an der École cantonale d’art (ÉCAL) in Lausanne in die Schweiz. Anschliessend kommt sie 2018 nach Zürich, wo sie sich zuhause fühlt und die aktive Kunstszene sowie die vielen Möglichkeiten als Künstlerin schätzt. So auch das von der Stadt Zürich verliehene «Atelierstipendium Kunst», in dessen Rahmen sie bis Dezember im Wohnatelier der F+F Schule für Kunst und Design wohnen und arbeiten kann. Hier hat sie genug Platz, um auch Ausstellungssituationen für ihre Arbeiten auszuprobieren. Die oft requisitenhaften Objekte erinnern in ihrer Ästhetik an Märchen, an Science-Fiction oder Fantasy-Geschichten: Auf den ersten Blick eine triviale, vertraute Bildsprache, die Vinci mit beeindruckenden technischen und gestalterischen Fähigkeiten umsetzt. Diese Einfachheit ist bewusst und klug eingesetzt, da die Künstlerin ihre Arbeiten auf vielen Ebenen und einem breiten Publikum zugänglich macht, ohne zu didaktisch zu werden. Sie kreiert Szenen und Welten, die Lust am Schauen und Entdecken von Details, Geheimnissen und Geschichten machen. «Ich interessiere mich dabei aber für die grossen Themen der Menschheit wie Liebe oder auch Standardisierung zum Beispiel. Dabei untersuche ich, in welchen Formen wir diese in unserem Alltag wiederfinden, nehme Klischees und schaue sie mir von innen an. Welchen Ursprung haben sie – und was bedeuten sie heute? Warum sind wir so besessen von Science-Fiction oder Märchen? Ich nehme Elemente heraus und übersetze sie in unsere Zeit.» 

Ilaria Vinci, «Key of Success», 2020, Fiberglas und Sprühfarbe, 55 x 25 x 5 cm / Foto Margot Montigny.

Die entstehenden Skulpturen stammen oft aus unserem Alltag, kippen jedoch durch einen kleinen Drall ins Fantastische. Zum Beispiel, indem sie von Vinci grösser oder kleiner gemacht werden: Spielereien, die auch etwas Ironisches haben. Etwa der «Key to Success» – der Schlüssel zum Erfolg. Diesen Schlüssel hat die Stadt Zürich angekauft – das Werk war über den Jahreswechsel 2022/23 in der Ausstellung «Kunstankäufe der Stadt Zürich 2018–2021» im Helmhaus zu sehen. Der überdimensionale Fiberglasschlüssel mit dem «Success»-Bart ist Teil einer Serie, in der die Künstlerin Metaphern des Schlüssels in unserer gesprochenen Sprache in reale Objekte übersetzt. So gibt es nebst diesem auch den «Schlüssel zu Deinem Herzen» und einen zur Unsterblichkeit, zur Weisheit oder Freiheit. Sie alle suggerieren Zugang zu etwas, das unserer Wunschvorstellung, unserer tiefsten Sehnsucht entspringt. «Manchmal denke ich gerne vom Objekt aus und verwandle es in etwas Symbolisches für ein grosses Thema unserer Gesellschaft.»

Regen prasselt gegen die Scheibe der Fensterfront, während die Künstlerin verschiedene Skulpturen aus dem abgetrennten Stauraum unter dem Dach hervorholt: Zwei Fische aus Fiberglas, die sich umkreisen und dabei herzförmige Luftblasen ausatmen, eine grosse Glasflasche, in der ein abgestürztes Raumschiff in einem Meer aus Blut drapiert ist – oder einen riesigen Cupcake mit Glasur und einem Schokoladentäfelchen, das darin steckt. Ihr gefällt die Idee des Replikats; so nah wie möglich an ein reales Material heranzukommen. «Aber schlussendlich ist und bleibt es immer fake.»

Raum und Zeit für Konzentration

Ilaria Vinci, «And nothing but the truths (130%)», 2021, Gips, Emaille, Harz, Teeblätter, Ø 34 x 22 cm / Foto Flavio Karrer.

Der Raum und die Zeit im Atelier kommen ihr gerade sehr gelegen: «Auch wenn es manchmal nicht nur einfach ist, am gleichen Ort zu leben und zu arbeiten, kann ich mich zum ersten Mal voll und ganz auf meine Kunst konzentrieren. Ich kann endlich meine Arbeiten der vergangenen Jahre Revue passieren lassen. Das ist wichtig, um neue Arbeiten zu entwickeln und mich einer neuen Schaffensperiode widmen zu können. Ich habe Lust, in eine neue Welt einzutauchen.» Im Moment interessiert sie die Symbolik und Geschichte der Kartografie und sie denkt darüber nach, eine grosse Karte ins Nirgendwo zu kreieren. Sie findet, dass Kunst sowohl sehr ernst sein als auch Spass machen sollte – auch ihr als Künstlerin. Im Rahmen ihres Aufenthalts an der F+F plant sie auch ein grösseres Filmprojekt, in das sie die Studierenden und die Räumlichkeiten involvieren möchte: «Ich sehe eine tolle Chance für meine Skulpturen, diese in ihrer Funktion als Requisit zu zeigen.» Für diese Recherche ist sie schon tief in die Geschichte und das Gemälde «Der Nachtmahr»  des Zürcher Malers Johann Heinrich Füssli abgetaucht. Aber zuerst widmet sie sich der Ausstellung für die Swiss Art Awards; die Keramikobjekte sind schon in Arbeit und fein säuberlich mit Plastik abgedeckt.

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