Sommerausstellung 2021 im Atelier Hermann Haller: «Zitronen und Zement – Vom Material zur Skulptur»
Die klassische Vorstellung von Bildhauerei verändert sich grundlegend, wenn das Material anstelle des Bildhauers in den Fokus rückt. Dass Künstler*innen sich heute von den Eigenschaften der Materialien bei der Entwicklung ihrer Kunstwerke beeinflussen und lenken lassen, klingt vielleicht zunächst ungewöhnlich. Die Bildhauerei als Feld der Herstellung von Plastiken und Skulpturen durch künstlerische Entscheidungen, handwerkliche und maschinelle Prozesse gilt traditionellerweise als eine der höchsten Domänen des menschlichen Schaffens. Ausgerechnet in dieses Gebiet soll die Materie als Hauptdarstellerin eindringen?
Viele Künstler*innen treiben heute eine Revision des klassischen Skulpturbegriffs voran, indem sie von einem direkten Bezug zwischen Mensch und Materie ausgehen. Einen solchen Zusammenhang schildert Jane Bennett in ihrem 2010 erschienen Buch «Vibrant Matter: A Political Ecology of Things». Laut der Philosophin und politischen Theoretikerin bestehen sowohl Menschen als auch Steine, Erden und ihre Derivate aus ‹lebhafter Materie›. Demzufolge sind menschliche und nichtmenschliche Entitäten durch die gleiche Beschaffenheit untrennbar verbunden. Die Annahmen in Bennets Auslegung revolutionieren nicht nur die herkömmliche Idee von Materie, sondern rufen auch ein radikales Umdenken im Umgang mit den unterschiedlichen Materialien hervor. Das wirkt sich unausweichlich auf den stark anthropozentrischen Skulpturbegriff aus.
Materialien bringen Formen hervor
Mit Materialtransformationen beschäftigen sich sowohl Kilian Rüthemann als auch das vom Künstler Daniel V. Keller initiierte Rechercheprojekt Lithic Alliance. Beide präsentieren neue Werke in der diesjährigen Ausstellung «Zitronen und Zement – Vom Material zur Skulptur» im Atelier Hermann Haller. Rüthemann überführt das Material in einen Zustand, in dem es selbst agiert und eine eigene Form hervorbringt. Dabei befreit der Künstler die verwendeten Werkstoffe aus der ihnen zugeschriebenen Objekthaftigkeit. Er lotet zugleich Eigenschaften und Potenziale der Materialien aus und lässt sie in Erscheinung treten. Lithic Alliance befasst sich mit ähnlichen Themen, wobei hier die Auseinandersetzung mit den Bereichen Animismus und Recht der Natur zentral ist. In seinen Installationen erprobt das Kollektiv neue Formen der Interaktion zwischen Menschen, Umwelt und Materialien. Das wechselseitige Aufeinandereinwirken der unterschiedlichen Faktoren wird dabei gleichermassen berücksichtigt.
Vertreterin einer verwandten künstlerischen Haltung, die man überspitzt als «nachhaltig» bezeichnen könnte, ist Vanessa Billy. Im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Forschung und alltäglicher Beobachtung untersucht sie die Zusammenhänge zwischen dem Kreislauf natürlicher Ressourcen und dem ausbeuterischen und verschwenderischen menschlichen Handeln. Für die Produktion ihrer Skulpturen, die ebenfalls in der Ausstellung zu sehen sind, setzt die Künstlerin die unterschiedlichsten Materialien präzis und experimentierfreudig ein: von Wasser über Kupferkabel und Batterien bis hin zu Silikon, Acrystal und Bio-Harz. Billy stellt die komplexen und oft abgründigen Mechanismen der wechselseitigen Beziehung von Mensch und Natur poetisch und hochästhetisch dar. Dadurch gelingt es ihr, die Aufmerksamkeit der Betrachter*innen derart zu fesseln, dass die Notwendigkeit einer vertieften Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Aspekten unübersehbar wird. Die kontraintuitive Anwendung des ästhetischen Potenzials von Formen und Materialien ermöglicht Vanessa Billy einen klaren Bruch mit der traditionellen, hauptsächlich kontemplativen Funktion der Skulptur.
Örtlichkeiten spielen mit
Von einem neuen Verständnis von Bildhauerei zeugen auch die grossen, raumfüllenden Skulpturen aus Recyclingpapier von Simone Holliger. Während die Formensprache der Künstlerin klare Bezüge zur modernen Bildhauerei aufweist, führt ihre Materialauswahl zu einer eindeutigen Infragestellung der Kunstrichtung, die sie zu Beginn inspiriert. Nicht zuletzt ist die von der Künstlerin ausgewählte Materialität eine Kritik an der epischen Geste der männlichen Bildhauerei. Fast programmatisch realisiert Holliger für die Ausstellung «Zitronen und Zement – Vom Material zur Skulptur» ein neues Wandrelief, das von Formen und Farben der Architektur des Ateliers Hermann Haller inspiriert ist.
Akustische Schwingungen als Materie stehen bei David Rengglis skulpturalem Objekt «Good Vibe Gong» (2016) im Fokus. Damit treibt der Künstler die Idee vom Material an ihre Grenzen. Die Arbeit aus der Kunstsammlung der Stadt Zürich hängt normalerweise im Lehrerzimmer einer Zürcher Schule. Nun wird sie Teil der Ausstellung im Atelier Hermann Haller. Indem Betrachtende das ‹Instrument› spielen dürfen, werden sie zu Mitschöpfer*innen des Werkes und haben die Möglichkeit, zu einer neuen Form der Interaktion und der Wahrnehmung zu gelangen.
Verblüffende Leichtigkeit
Die Reflexion über Wahrnehmungsphänomene, Materialität und Skulptur regte bereits das Künstlerduo Fischli/Weiss in den 1980er-Jahren mit einer Serie von Installationen und Skulpturen wie «Das Geheimnis der Arbeit» (1984) an. Die gleich nach ihrer Entstehung von der Kunstsammlung der Stadt Zürich angekaufte Arbeit wird im Atelier Hermann Haller zum ersten Mal dem Publikum zugänglich gemacht. In musealen Kontexten inszenieren Peter Fischli und David Weiss gewöhnliche Situationen mittels Reproduktionen alltäglicher Gegenstände und erzeugen somit einen verblüffenden Täuschungseffekt. Die skulpturalen Objekte sind aus Kunststoff nachgebildet und realitätstreu angemalt, sodass sie nur durch das geringere Gewicht von echten Gegenständen zu unterscheiden sind.
Eine neue Interpretation und interessante Überführung dieser Thematik in die heutige Zeit bietet die Arbeit von Valentina Pini, ebenfalls aus der Kunstsammlung der Stadt Zürich. Die Künstlerin verkoppelt digitale Verfahren und materielle Prozesse, um Veränderungen der Wahrnehmung auf das Alltägliche zu bewirken. Die Faszination für eine Pampelmuse ist der Ausgangspunkt für Pinis Videoarbeit «With Two Naked Eyes Watching Slime on the Ocean Floor» (2019). Mithilfe eines 3D-Scans gelingt der Künstlerin die Übersetzung einer organischen Form in digitale Daten, wobei deren Animation schliesslich zur völligen Verfremdung führt.
Die Gruppenausstellung «Zitronen und Zement – Vom Material zur Skulptur» im Atelier Hermann Haller vereint all diese neuen Herangehensweisen in Bezug auf den Umgang mit Material und die damit verbundene Erweiterung des Skulpturbegriffs. Im Zentrum stehen zwei unterschiedliche Themenbereiche, die eng miteinander verbunden sind: Einerseits die materiellen Eigenschaften der Plastiken Hermann Hallers, die mit neuen Produktionstechniken und Materialien in Dialog treten. Anderseits die Verwandlungen und Erweiterungen des Skulpturbegriffs durch den Einbezug von gegenwärtigen Positionen. Ein fundamentaler Aspekt des Œuvres von Hermann Haller steht so oder so im Vordergrund: das leidenschaftliche Interesse am handwerklichen Prozess und die Freude am Experimentieren mit den von ihm hauptsächlich verwendeten Materialien Englisch Zement, Gips, Ton, Terrakotta und Bronze.
Text: Irene Grillo
Sommerausstellung «Zitronen und Zement – Vom Material zur Skulptur»
Werke von Vanessa Billy, Fischli/Weiss, Hermann Haller, Simone Holliger, Lithic Alliance, Valentina Pini, David Renggli, Kilian Rüthemann
Kuratorinnen Maren Brauner und Irene Grillo
5. Juni–10. Oktober 2021
Freitag, Samstag und Sonntag, 12–18 Uhr
Eröffnung Samstag, 5. Juni 2021, 12–18 Uhr
Rundgang mit den Kuratorinnen Sonntag, 6. Juni 2021, 15 Uhr
Führungen jeden ersten Sonntag im Monat, 15 Uhr
Die Ausstellung wird unterstützt von:
Ernst und Olga Gubler-Hablützel Stiftung
Ernst Göhner Stiftung
Kulturstiftung des Kantons Thurgau