Digitale Kunst – Neues Atelierstipendium der Stadt Zürich in San Francisco
Beatniks, Hippies, Makers, Hackers – die Bay Area hat in den letzten Jahrzehnten viele Avantgarde-Bewegungen hervorgebracht, die in einem rasanten globalen Feldzug Teil des weltweiten Kulturkanons wurden und bis heute kaum an Ausstrahlungskraft verloren haben. Das kalifornische Erfolgsrezept gründet auf einem kulturellen Experimentierfeld mit dem Anspruch, die Welt zu verändern – sei es mit der Band Grateful Dead im ehemaligen Hippie-Stadtteil Haight-Ashbury oder mit den Startups in den Garagen von Silicon Valley. Inzwischen leben wir in einer Zeit, in der dieser Nährboden eine Tech-Industrie erschaffen hat. Deren Kultur wird einerseits überall in Form eines Startup-Baukastens kopiert. Andererseits sind an deren Ursprungsort weltumspannende digitale Konzerne entstanden, deren massive soziale Auswirkungen auf unsere Gesellschaft momentan heftig diskutiert werden.
Die digitale Kunst hält dieser Gesellschaft den Spiegel vor und trägt so dazu bei, Chancen, Gefahren und neue Lesarten dieser Technologie zu reflektieren. Dieser Gedanke war ausschlaggebend dafür, einen kulturellen Austausch mit San Francisco gerade jetzt zu ermöglichen. Swissnex San Francisco ist der Innovations-Outpost der Schweiz, der Projekte und Ideen aus der Schweiz mit der US-Westküste zusammenführt, um die Zusammenarbeit in Bildung, Forschung und den Künsten zu fördern. Die Schweizer Organisation am Pier 17 hat durch eine langjährige Partnerschaft mit Pro Helvetia bereits eine Vielzahl an Ausstellungen, Präsentationen, künstlerischen Recherchen und immersiven Installationen ermöglicht. Seit 2018 bietet nun die Stadt Zürich mit swissnex San Francisco und dem Off-Space «The Laundry» ein neues Atelierstipendium in der Stadt der digitalen (Alb-)Träume für Künstlerinnen und Künstler an, die in Zürich wohnhaft sind.
13 Jahre Alltag im Bild
Die Zürcher Künstlergruppe U5 hat dieses Stipendium als erste erhalten und damit dieser Residenz Leben eingehaucht. Die Kunstschaffenden haben drei Monate in der Bay Area recherchiert, sich mit der «Counter-Culture» vernetzt, neue Perspektiven gewonnen und ihre Arbeit präsentiert. Im Fokus stand das Langzeitprojekt «PALM». Es geht dabei um Bilder, die von mobilen, tragbaren Kameras vollautomatisch geschossen und auf eine Plattform auf der Website von U5 hochgeladen werden. Auf diese Weise hat sich innerhalb von zehn Jahren ein enormes digitales Bildarchiv ergeben. Dieses dient als Grundlage für Installationen, die diese Bilddokumentation des Alltags im Raum erfahrbar machen. U5 hat anhand dieser künstlerischen Auseinandersetzung mit der digitalen Bilderflut wichtige Fragen unserer Gesellschaft, die sich im Zusammenhang mit der Digitalisierung stellen, aufgegriffen und in San Francisco in Workshops mit Experten aus Industrie und Kunst thematisiert.
Stand am Anfang noch das Experiment zur Dokumentation des Alltags im Vordergrund, reichen die Fragestellungen heutzutage weit darüber hinaus: Wo beginnt die Privatsphäre, wenn alles ständig digital dokumentiert wird, und wo endet die Öffentlichkeit? Wer besitzt welche Rechte am Bild und wie können solch grosse Datenmassen mithilfe von Anwendungen der künstlichen Intelligenz interpretiert und geordnet werden? Das berührt viele Fragen rund um die Verwendung von Big Data. Aber auch Fragen zur Autorschaft stellen sich: Wer ist bei automatisch entstandenen Schnappschüssen eigentlich der Autor oder die Urheberin? Die Bilddatensammelmaschine von U5 hat sich zu einem Überwachungssystem entwickelt, wie es heute auch von Staaten und Privaten zunehmend verwendet wird – aber auch zu einem anthropologischen Werkzeug, mit dem man den Alltag, der während nunmehr 13 Jahren durch maschinelle Augen dokumentiert wird, zurückverfolgen kann. Es entstand also ein Überwachungssystem nicht nur des öffentlichen und privaten Umraums, sondern auch der Bewegungen der Fotografierenden selbst.
Andere Archive
Im Verlaufe ihres Aufenthalts haben sich für U5 Diskurse mit kalifornischen Akteuren aus Wissenschaft, Kultur und Technologie ergeben, die mit ähnlichen Fragestellungen konfrontiert sind. So hat sich das «Internet Archive» in Richmond zum Ziel gesetzt, in regelmässigen Abständen das Internet zu archivieren und kostenlos den Internetnutzern zur Verfügung zu stellen. Als Hauptquartier dient eine opulente Kirche, die nun Dutzenden blinkenden Servertürmen eine Heimat bietet. Mit ihrer WayBack-Machine lassen sich Layouts von längst vergangenen Websites wieder hervorholen. Ein weiteres Bildarchiv, mit dem sich die Künstlergruppe U5 intensiv beschäftigt hat, ist «Other Cinema». Das analoge Filmarchiv liegt 15 Gehminuten von der «Laundry» entfernt, im Herzen des Mission Districts. Neben den anarchischen Ordnungskriterien des Gründers Craig Baldwin interessierten U5 auch dessen finanziellen Strategien, die diesen Ort seit nunmehr 30 Jahren zu ermöglichen – dem Tech-Boom und den dadurch horrenden Mietpreisen in San Francisco zum Trotz.
Virtuelle Realität: Körper und Geist als Imagination
Technologische Entwicklungen haben weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen. Gerade deshalb liefern sie auch Material für neue künstlerische Ausdrucksformen. Das kann man am Werk der in Zürich lebenden Künstlerin Mélodie Mousset sehen. Mousset arbeitet seit 2017 mit «Extended Reality» als Medium für ihre immersiven Welten. Während ihrer Ausstellung «Sound and Vision» hat sie bereits zwei Werke in der Galerie von swissnex San Francisco präsentiert. Diese wird sie im Rahmen der Digital Arts Residency der Stadt Zürich 2020 in Zusammenarbeit mit technologischen Experten in der Bay Area weiterentwickeln. Für die künstlerische Arbeit im digitalen Raum sind solche Kollaborationen enorm wichtig. Denn sowohl das technische Wissen wie auch das Kreieren einzigartiger, erfahrbarer Inhalte sind für die Weiterentwicklung solcher Medien eine Voraussetzung.
Wo auch immer die technologische Reise hingeht, Künstlerinnen und Künstler können eine wichtige Rolle dabei spielen, die digitalen Chancen und Herausforderungen für jedermann greif- und verstehbar zu machen. Die Stadt Zürich will hierzu mit der Digital Arts Residency im Zentrum der digitalen Welt einen Beitrag leisten.
Text: Nicola Ruffo. Der Autor arbeitet als Head of Public Programs bei swissnex San Francisco.
Künstlergruppe U5
Die Mitglieder von U5 lernen sich während des Studiums an der Zürcher Hochschule der Künste kennen und gründen 2007 das Künstlerkollektiv U5. Ihre künstlerische Praxis entspricht nicht dem traditionellen Prinzip der Autorschaft, stattdessen liegen ihr folgende Prämissen zugrunde: Alle Mitglieder haben dieselben Rechte, für Entscheidungen braucht es keinen Konsens, alle Arbeiten entstehen in Kooperation, und Präsenz wie Absenz eines Mitglieds beeinflusst die künstlerische Arbeit gleichermassen. Ausgangspunkt von U5 ist die Faszination für Alltagsgegenstände und die daraus resultierende analoge und digitale Objektsammlung. Das Künstlerkollektiv U5 hat an zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland teilgenommen. Seine Arbeiten wurden mehrfach prämiert. 2018 erhielt U5 von Stadt Zürich Kultur das erstmals vergebene Digital Arts Stipendium San Francisco.
Künstlerin Mélodie Mousset
Die Künstlerin Mélodie Mousset lebt und arbeitet in Zürich. Im Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit steht die Untersuchung des Körpers und dessen biologische, kulturelle, kollektive und individuelle Konzepte. Ihre Bildsprache bewegt sich zwischen der virtuellen und der physischen Welt. Mousset verbindet in ihrer Arbeitspraxis Technologie und Kunst. Sie arbeitet einerseits mit interaktiven Medien wie Virtual Reality, andererseits mit Performance, Video, Fotografie, Installation und Skulptur. Sie hat an zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland teilgenommen, ihre Arbeiten wurden mehrfach prämiert. 2015 erhielt sie einen Swiss Art Award. Stadt Zürich Kultur hat ihr 2019 das Digital Arts Stipendium San Francisco zugesprochen.
Text: Vanessa Gendre
Digital Arts Stipendium San Francisco: Nächste Ausschreibung im November 2020. Informationen