Wenn das Kartenhaus in sich zusammenfällt
Es gibt hin und wieder Einsätze, die uns weniger auf medizinischer als auf emotionaler Ebene fordern. In solchen Fällen sind Empathie und zwischenmenschliches Fingerspitzengefühl unsere wichtigsten «Werkzeuge».
Von Toby Merkli
So war es auch an jenem Nachmittag, als wir mit dem Einsatzstichwort «Offensichtlich tote Person» in Richtung Zürich Nord aufbrachen. Am Zielort nahm uns auf der Strasse eine junge Frau in Empfang. Sie wirkte zwar sehr gefasst, schweifte bei ihren Erzählungen aber sehr weit aus. So berichtete sie von der siebenjährigen Beziehung mit ihrem Freund – inklusive vieler persönlicher Details. Glücklicherweise war unterdessen auch die Polizei vor Ort eingetroffen und so traten wir gemeinsam in die Wohnung. Der Anblick, der sich uns im Schlafzimmer des jungen Paares bot, war düster: Ein Mann mit Schussverletzung lag rechts vom Bett auf dem Boden, neben ihm ein Gewehr. Aufgrund bereits eingetretener Totenzeichen konnten wir leider nur noch den Tod des Mannes feststellen. Für die weiteren Abklärungen wurde das Institut für Rechtsmedizin beigezogen.
Während sich die Polizei umgehend an die Spurensicherung machte, kümmerten wir uns um die Freundin des Verstorbenen. Sie erzählte uns, wie sie an diesem Tag nach Hause gekommen war. In der Küche fand sie einen Brief von der Hausverwaltung. Völlig überrascht las sie von der sofortigen Wohnungskündigung. Grund: ein sechsmonatiger Mietzinsrückstand. Doch wie war das möglich? Sie hatte ihrem Freund ihren Anteil der Kosten monatlich überwiesen. Als sie daraufhin versuchte, diesen telefonisch bei der Arbeit zu kontaktieren, hiess es: «Bei uns arbeitet niemand, der so heisst.» Das konnte nicht sein, es war, als verliere sie den Boden unter den Füssen! Ihr Freund hatte stets von seinem Job erzählt und Geschichten aus seinem Arbeitsalltag preisgegeben. Sie setzte sich an den Küchentisch – und erst da offenbarte sich ihr das gesamte Ausmass der Tragödie. Der Schlüssel ihres Freundes steckte innen im Türschloss. Erstmals schaute sie sich in der Wohnung bewusst um und entdeckte auf dem Schlafzimmerboden ihren regungslosen Freund. Augenblicklich wählte sie die Sanitätsnotrufnummer 144.
Obwohl die junge Frau – auch beim Erzählen der Details – die Fassung bewahrte, war ich mir sicher, dass sie in diesem Moment einfach nur «funktionierte». Der grosse Zusammenbruch würde folgen, sobald die Eltern ihres Freundes eintreffen und der erste Schock sich gelegt hatte. Aus diesem Grund boten wir für sie vorsorglich den Notfallseelsorger auf, der sich in dieser schweren Zeit um die Trauernden kümmern konnte.
Auf dem Weg zurück zur Wache liess mich das Schicksal des jungen Paares nicht mehr los. Was war nur passiert, dass der junge Mann keinen Ausweg mehr sah? Wieso hatte er seine Situation seiner Liebsten verheimlicht und nicht um Hilfe gebeten? Als Rettungssanitäter und Rettungssanitäterinnen begleiten wir Menschen immer nur einen Teil ihres Weges. Wir helfen in einer akuten Notlage – was davor war und danach sein wird, wissen und erfahren wir in der Regel nicht. Manche Bilder wirken aber noch lange nach. Wie das der jungen Frau, deren Leben an diesem Tag wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen ist.