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Kinofieber: 100 Jahre Zürcher Kinogeschichte

Das Kino Urban Ende der Dreissigerjahre.
Das Kino Urban Ende der Dreissigerjahre.

Die ersten Kinos in Zürich wurden 1907 eröffnet, darunter das Kino Radium an der Mühlegasse. Das neue Massenmedium Film entwickelte sich vor hundert Jahren so rasant wie heute das Web und die digitalen Bildmedien.

Filmprojektionen gab es in Zürich bereits seit 1896, als eines unter vielen Vergnügungen der festfreudigen Belle Epoque. Das Kino, so wie wir es kennen, entsteht zwischen 1905 und 1915. In dieser Zeit bildet sich Architektur, Programmstruktur und Gesetzgebung aus. Kindern wurde auf Druck von selbsternannten Kinderschützern (die zahlreiche Akten produzierten) erst allmählich der Kinobesuch verboten. Die Geschichte der Zürcher Kinotopographie im Laufe des Kinojahrhunderts wird zur fotografischen Architekturgeschichte. Und wer kennt schon die Filme, welche die Zürcherinnen und Zürcher vor hundert Jahren ins Kinofieber versetzten?

Kino und Film vor hundert Jahren

1907 ist kein grosses Jahr in der Weltgeschichte, jedoch entscheidend in der Geschichte der Kinematographie. Film wird 1907 zum Massenmedium, dank der französischen Produktionsfirma Pathé, welche die Filmherstellung systematisch industrialisierte und neben dem bisherigen Kopienverkauf den Kopienverleih installierte. Verleih und Produktionsvolumen der Pathé, welche den Weltmarkt zu etwa 75% beherrschte, boten erst die Basis für ständige Kinematographentheater mit wöchentlichen Programmwechseln.

Einige wenige Jahre lang ist Film ein echtes Massenmedium, zugänglich für alle Altersgruppen und Schichten. Und an dieses heterogene Publikum von Kindern, Frauen und Männern richteten sich die Kinoprogramme, abwechslungsreich zusammengestellt aus Kurzfilmen der verschiedensten Genres: Städtebilder und Aktualitäten, Tanzszenen und Bühnensketches, rasante oder groteske Komödien) und Dramen, historische und biblische Szenen, farbige Zaubermärchen und effektvolle Trickfilme, Aufnahmen aus dem Arbeitsleben und aus fernen Ländern. Die Kinos waren meist von nachmittags 14 Uhr bis 22 Uhr ununterbrochen in Betrieb, man konnte jederzeit eintreten oder weggehen. Viele Filme waren ein- oder mehrfarbig koloriert, und jegliche Kinovorstellung war von Musik begleitet, meist von Klavierspielerinnen. Das Niveau eines Kinos zeigte sich direkt an der Musikbegleitung; grosse Stummfilmpaläste der zwanziger Jahre hatten hauseigene Orchester.

Wer 1907 ins Kino ging, erwartete keine lange Geschichte, sondern Amüsement. Die komischen Szenen einer Ehe von 1905 („Drei Phasen des Mondes“) in Zeitraffer und Grossaufnahme oder das Schmugglerdrama mit seiner piktorialen Fotografie von Aussenräumen zeigt, wie gekonnt die Pathé-Produktion ihre Gestaltungsmittel einsetzte. Dass ein Kino, in welchem in grotesken Komödien dauernd die Polizei und häufig der Klerus lächerlich gemacht, klamaukig Gender-Bender betrieben und Ehebruch und Totschlag ohne Strafe vorgeführt wird, die Sittenwächter veranlasste, den Kindern diese Genüsse zu verbieten, erstaunt eigentlich nicht. Es ist das Kino, in dem Luis Bunuel und die Surrealisten ihre ersten, unauslöschlichen Filmerlebnisse hatten.

Was wir sehen, sind keine schwachen, unsicheren Anfänge. Es sind Produkte eines neuen Mediums, das in einem selbstbewussten Kontakt mit seinem Publikum steht: Was es bietet, wird gefallen. Noch heute können wir die Frische und das visuelle Flair der Filme verspüren – das lebhafte Mienenspiel der Schauspielerin in „Drei Phasen des Mondes“, die vom Meerwind bewegten Kostüme im Drama, das hinreissende Farbenlichtspiel des Serpentintanzes, die unverfrorenen Freude am Tabubruch mit dem Kuss der Schnauzbärte.

1907 existierten übrigens die Bezeichnungen „Kino“ und „Film“ im heutigen Sinn noch nicht. Benutzt wurden „Kinematograph(entheater)“ und „Bild“.

Der Kontext: Vergnügungskultur in Zürich um 1907

Zu den Höhepunkten des Zürcher Festkalenders gehörten die legendären Kostümfeste des Lesezirkels Hottingen. Im Bild die Einladung zur „Orientfahrt“ 1899 (Bild: Stadtarchiv Zürich)
Zu den Höhepunkten des Zürcher Festkalenders gehörten die legendären Kostümfeste des Lesezirkels Hottingen. Im Bild die Einladung zur „Orientfahrt“ 1899 (Bild: Stadtarchiv Zürich)

Gastwirtschaften, Zirkusse, Varietés

Wichtigste Träger der populären Unterhaltungskultur in der Belle Epoque waren die Gastwirtschaften der Stadt. Die unzähligen Lokale übernahmen vielfältige gesellschaftliche Funktionen. Die Wirtshäuser waren gewissermassen „Knotenpunkte des Lebens“. In ihnen wurde getrunken, gespielt und getanzt. Die Betreiber der Zürcher Gastwirtschaften boten aber auch andere Formen der Unterhaltung an. Die breite Palette von Vergnügen spiegelt sich im Polizeiprotokoll der Stadt Zürich in Einträgen zu den Stichworten „Freinachtbewilligungen“, „Kegelschieben“, „Lotterien“ oder „Tanzbewilligungen“. Die zahlreichen Patentbegehren zur Eröffnung neuer Lokale belegen, dass das Betreiben von Gastwirtschaften ein durchaus einträgliches Geschäft war. Dennoch überstieg das vielfältige Vergnügungsangebot zeitweilig die Nachfrage. Verschiedene Zürcher Gastwirte scheuten die Kosten jedenfalls nicht, Plakatträger anzustellen. Die „wandelnden Plakatsäulen“ zogen durch die Gassen und Strassen der Stadt, um für die jeweiligen Lokale zu werben.

Diese Praxis forderte den Unmut des Zürcher Polizeiamtes heraus. Um die Jahrhundertwende drohte die Polizeikommission den Gastwirten wiederholt mit Bussen, falls diese weiter mit ihren „Reklame-Bildern“ für ihre Lokale werben sollten. Zum breiten Unterhaltungsangebot um 1900 zählten auch Zirkusaufführungen. In Zürich gastierten regelmässig bekannte Unternehmen wie etwa der „Circus Max Schumann“, der „Königlich Rumänische Circus Cesar Sidoli” oder der „Grand Cirque National Suisse“. Anders als heute wurden die Programme rasch gewechselt, es handelte sich sozusagen um reisende Spezialitäten-Bühnen. Die klassischen Pferdenummern durften allerdings nicht fehlen und auch Raubtiere wurden gezeigt. Dem „Circus Schumann“ bescherten dessen Wildkatzen 1897 sogar etliche Probleme. Im Protokoll der Stadtpolizei wird dazu vermerkt, dass sich einige Nachbarn wegen dem „Gebrüll der Löwen“ belästigt fühlten. Die Polizeikommission fand die Klage begründet und befahl dem Zirkusdirektor ultimativ für die „ungesäumte Unterdrückung weiterer Belästigungen durch Löwengebrüll zu sorgen“. In Zürich gastierten nicht nur grosse Unternehmen. In den Protokollen der Stadtpolizei finden sich unter dem Stichwort „Schaustellungen“ auch viele Gesuche von unbekannten Unterhaltern. Die Angebote reichten von Schiessbuden, Berg- und Talbahnen, Karussells oder Kasperletheatern bis hin zur Vorführung von Phonographen oder „Lungenprüfern“.

Einen zunehmend wichtigen Stellenwert in der Zürcher Vergnügungskultur um 1900 gewannen die Varietee-Bühnen wie beispielsweise das „Corso“. Ähnlich wie die damaligen Zirkusse boten die Varietees – der Begriff „varieté“ bedeutet „Abwechslung“ resp. „bunte Vielfalt“ – wechselvolle, unterhaltende Programme. Akrobatik, Musik, Tanz, Wort und Magie wurden in loser Folge nach dem Nummernprinzip zu einem abendfüllenden Programm vereint, dessen Unterhaltungswert in der Vielfalt des Dargebotenen bestand. Die mosaikartigen Veranstaltungen waren auf leichte Unterhaltung und Geselligkeit ausgelegt. Im Gegensatz zum klassischen Pariser Varietee, einer Welt der kurzen Röcke und der langen Beine, finden sich in den Archivalien des Stadtarchivs um 1900 keine Hinweise auf „die Anfänge des professionellen Ausziehens“. Anstatt dessen wurden kunterbunte Kompositionen zum Besten gegeben. Als Beispiel mag ein Inserat des „Corsotheaters“ dienen. Die Betreiber dieser Bühne liessen am 23. Januar 1907 im Tagblatt der Stadt Zürich folgende Anzeige abdrucken: „Heute und täglich abends 8 Uhr: Sensationelle Varieté-Vorstellungen. The Madrigali, die vorzüglichsten Akrobaten. Narow, Broth., die besten kom. Radfahrer. The great Yamamotos, in ihren staunenerregend. Produktionen. Walther Bährmann, Humorist. Gisela Konradi, Tyrolienne und das übrige sensationelle Programm. Billetvorverkauf bis ½ 6 Uhr in den Zigarrenhandlungen Carl Jul. Schmidt, Paradeplatz, u. Rob. Weber, Hotel Bellevue. Kassaeröffnung 7 Uhr...“. Im Corso waren sogar Ringkämpfe zu sehen. Diese eher derbe Form der Varietee-Unterhaltung bescherte den Veranstaltern zwar regelmässig ein volles Haus, geriet aber auf Druck der Zürcher Turnvereine heftig unter Beschuss. 1908 verbot der Polizeivorstand sogar die Weiterführung der "bestialischen, ekelerregenden Vorstellungen". Die Auseinandersetzungen zwischen der Zürcher Stadtpolizei und dem Corsotheater zeigen allerdings auf, dass es für die Behörden zusehends schwierig wurde, im Unterhaltungsbereich Verbote durchzusetzen. Die Ringkämpfe konnten in der Folge wieder durchgeführt werden.

Feste und Feiern

Vor rund hundert Jahren wurden in Zürich zahlreiche Festveranstaltungen durchgeführt. Das Sechseläuten und das Knabenschiessen werden als speziell zürcherische Anlässe bekanntlich heute noch gefeiert. 1907 gab es eine „Seegfrörni“, die zu einem regelrechten Volksfest ausartete.

Besonders zu erwähnen sind die grossen nationalen Feste wie das Eidgenössische Turnfest von 1903, das Eidgenössische Sängerfest von 1905 und das Eidgenössische Schützenfest von 1907 auf dem Albisgütli. All diese Veranstaltungen waren zwar nationale Volksfeste, doch gab es dabei nicht nur patriotische Reden im geselligen Rahmen, sondern auch ein durchaus ansehnliches kulturelles Begleitprogramm. Anlässlich des Eidgenössischen Schützenfestes von 1907 wurden unter anderem Aufführungen und Konzerte in der Tonhalle veranstaltet. Der vom bekannten Schweizer Komponisten Othmar Schoeck (1886 – 1957) stammende „Konzert-Marsch“ ist sogar als Originalpartitur im Stadtarchiv Zürich vorhanden.

Ein besonderer Anlass war das 4. Gordon-Bennett-Wettfliegen vom 30. September bis 3. Oktober 1909. Der Amerikaner James Gordon Bennett jun. (1841 – 1918) war der Sohn des gleichnamigen Gründers und Herausgebers des „New York Herald“. Er stiftete mehrere Preise für periodisch durchgeführte Sportveranstaltungen, so 1906 einen Pokal für Ballonwettfahrten, den „Coupe Aéronautique Gordon Bennett“, einen Wettbewerb den es bis heute gibt. Gestartet wurde das 4. Gordon-Bennett-Wettfliegen in Schlieren, wo auch ein Festgelände eingerichtet wurde. Gewonnen wurde das Rennen von „America II“ mit Edgar W. Mix und André Roussel. Nach rund 35 Stunden landeten die beiden im polnischen Ostrolenka nordöstlich von Polen und legten dabei eine Strecke von 1121 km zurück. Zum Vergleich: Die Sieger des in Belgien ausgetragenen 50. Gordon-Bennett-Wettfliegens von 2006 kamen nach 67 Stunden mit 2449 km gut doppelt so weit.

Schliesslich ist auf den Lesezirkel Hottingen hinzuweisen. Er wurde 1882 von einem Dutzend junger Leute auf Initiative von Wilfried Treichler und Hans Bodmer im Wirtshaus zur Sonnegg an der Gemeindestrasse 51 in Hottingen gegründet. Der Lesezirkel existierte bis 1941. Ab 1886 veranstaltete er seine legendären Abende für Literatur und Kunst, an denen die bekanntesten Kunstschaffenden auftraten, wie beispielsweise die Schriftsteller Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse, Thomas Mann, Reiner Maria Rilke und Stefan Zweig.

Nicht minder bedeutend waren die vom Lesezirkel durchgeführten thematischen Kostümfeste und weiteren Veranstaltungen. Erwähnt seien abschliessend zu dieser Einleitung die Orientfahrt des Lesezirkels Hottingen 1899, die Maskenbälle 1903 und 1906, die Bauernkirchweih 1907, die allesamt in der Tonhalle stattfanden, und der „Hollywood – The Golden Mayfair Ball“ im Dolder 1929.

Musiktheater in Zürich um 1907

Die turbulente Geschichte des Theaters in Zürich ist die Geschichte einer schwierigen Liebe zwischen der Limmatstadt und der Bühnenkunst. Im Jahr 1907 scheint es jedoch, dass die Zeiten, als die Zürcher das Theater als „eine Erfindung des Teufels“ gesehen hatten, längst vorbei sind. Die Schauspieler betrachteten nun das Verlassen der Stadt Zürich nicht mehr als Befreiung „aus einer Zwangsjacke“, wie die Theaterdirektorin Charlotte Birch-Pfeiffer 1843 bei ihrem Rückkehr nach Berlin schrieb - im Gegenteil, sie kamen gerne nach Zürich! Und die Zürcherinnen und Zürcher? Sie lernten das Theater kritisch zu lieben – eine noch heute schwierige, aber fruchtbare Liebe.

Das Stadttheater (heutiges Opernhaus)
Die Theater AG wurde 1834 gegründet; die Eröffnung der ersten ständigen Zürcher Musik- und Sprechbühne im ehemaligen Barfüsserkloster fand am 10. November mit Mozarts „Zauberflöte“ statt. Trotz der grossen Freude der Kunstliebhaber konnte das Stadttheater keine rasche Anerkennung der Zürcher Bürger gewinnen. „Jede Neuerung wurde überstürzt, alle Einrichtungen überhastet und die Direktion in ihren künstlerischen Bestrebungen durch zopfige Vorurteile gehemmt. […] die ersten Jahre nach der Eröffnung brachten also Enttäuschungen und Bitternisse aller Art.“ Trotz städtischen Subventionen gerät das Stadttheater immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten und „leere Plätze und leere Kassen haben fast allen Leitern des Stadttheaters Sorgen bereitet.“ Erst nachdem das erste Stadttheater während der Neujahrsnacht 1890 durch Feuer zerstört wurde und das neue Theater, das heutige Opernhaus in Rekordzeit gebaut und am 1. Oktober 1891 eröffnet wurde, konnten die Opern in Zürich grössere Erfolge feiern. Insbesondere die Saison 1906/07 ging in die Zürcher Theatergeschichte ein mit grossen Erstaufführungen von Richard Strauss („Salome“) oder von Giacomo Puccinis „La Bohème“. Bald würde das Zürcher Stadttheater auch beachtliche internationale Resonanz finden: Im Jahr 1913 fand die erste „Parsifal“-Aufführung Wagners ausserhalb von Bayreuth statt. Die Anzahl der Gönner wuchs, die Besucherzahl dank billigen Vorstellungen – Dutzendbillette und Serienabonnemente – stieg langsam aber stetig. Nicht nur die Oper, sondern auch die Operette erlebte ihre Glanzzeit. So folgten der Erstaufführung von Franz Lehárs „Die lustige Witwe“, und die Werke von Leo Fall, Oscar Strauss und Oskar Nedbal amüsierten den Zürcher Bürger aufs Beste. Es schien, dass die Zürcher den Weg zum Theater gefunden hätten.

Theater am Pfauen (heutiges Schauspielhaus)
Nicht nur Musikliebhaber kamen in Zürich auf ihre Kosten. Es gab seit Jahrzehnten mehrere private Schauspielbühnen, und auch das Stadttheater führte solche. Leider wurden diese ziemlich vernachlässig, und die Direktoren machten oft die Schauspielaufführungen für alle Misserfolge des Stadttheaters verantwortlich. Die Situation änderte sich diametral, als der legendäre Alfred Reucker die Führung des Stadttheaters übernahm und die Sprechbühne 1901 ins gepachtete Volkstheater am Pfauen verlegt wurde. Das Haus am Pfauen, „sträflich heruntergekommen“, mit „primitiver Bühneneinrichtung“ und „abscheulichen Rauchdunst“ genoss kein besonders grosses Ansehen. Die Bühne bot ein Potpourri der Darbietungen von „Schlangen- und Schmetterlingstänzerinnen“, Fakiren, Bauchrednern und anderen „Variétéherrlichkeiten“. Der grossen Leidenschaft und unermüdlicher Energie von Alfred Reucker haben es die Zürcher zu verdanken, dass dieser Amüsierbetrieb am Pfauen im Jahr 1907 ein ernsthaften Theater geworden war. Man spielte Dramen von Ibsen, Schnitzler, Wedekind, Gogol, Shaw und von jungen Schweizer Autoren. Zu höchstem künstlerischen Erlebnis wurde die Aufführung „Gyges und sein Ring“ vom Friedrich Hebbel: „am Schluss sass alles regungslos, lange, lange – der Bann musste erst weichen. Und langsam erst entband sich der Beifall, der sich dann aber zu einer Intensität und Dauer steigerte, wie er in diesem Hause noch nie getönt hatte. Dr. Hans Trog, der gefürchtete Kritiker der „NZZ“, […] stand unter den Ergriffensten und ging unter den Letzten. […] Mit diesem Abend war die ernste, die grosse Kunst im Pfauentheater eingezogen“, schrieb Alfred Reucker über die Prämiere „Gyges und sein Ring“ 1907 in seinen „Erinnerungen an Zürich 1901 – 1921“.

Die Tonhalle Zürich
Die Tonhalle – das Herz des Zürcher Musiklebens“ – wurde 1868 im alten, umgebauten und um einen Gartenpavillon erweiterten Kornhaus am Sechseläutenplatz eingerichtet. Sehr rasch wurde die Tonhalle für Konzerte auf höchstem künstlerischem Niveau und für glänzende Musikfeste in der ganzen Schweiz bekannt. Bald musste man an den Bau eines grösseren und praktischeren Konzertsaals denken, und 1895 konnten die Zürcher die Eröffnung der Neuen Tonhalle feiern. Ein imposantes Gebäude mit einem dem Pariser Trocadero nachempfundenen Musikpavillon, wunderschön am Zürichsee gelegen, schmückte die Stadt und war Wahrzeichen der grossen Erfolge – obwohl zumeist von finanziellen Sorgen begleitet. Man spielte namhafte Komponisten wie Bach, Beethoven, Schumann oder Brahms nicht nur für die Zürcher Elite – 1907 fanden die ersten Volkskonzerte des Tonhalleorchesters statt, um „die Orchesterwerke der Grössten auch den weitesten Kreisen zugänglich zu machen“. Gleichermassen für das breite Publikum bestimmt waren die so genannten Unterhaltungskonzerte, in denen „ein anmutiger Wechsel von Tonstücken heiteren und ernsten Charakters, hoher und tiefer Tonlage, heller und dunkler Färbung`, herrschen sollte“.

Anfänge und Institutionalisierung des Kinos in Zürich

Polizeirapport zu einer Anzeige über den "Kinematographenbesuch durch schulpflichtige Kinder" vom 18. Januar 1912. (Bild: Stadtarchiv Zürich)
Polizeirapport zu einer Anzeige über den "Kinematographenbesuch durch schulpflichtige Kinder" vom 18. Januar 1912. (Bild: Stadtarchiv Zürich)

Zur Geschichte des bewegten Bildes und der Institutionalisierung des Kinos in Zürich haben die städtischen Polizeibehörden einen äusserst informativen Aktenbestand produziert, der Bewilligungsverfahren, feuerpolizeiliche Verordnungen, originale Kinoprogramm-Handzettel, Monatsrapporte der regelmässigen Kontrollbesuche in den Kinos oder interne Aufstellungen über Strom- und Gebühreneinahmen enthält. Eine zweite unentbehrliche Quelle sind Zeitungen wie das „Tagblatt“, die „Neue Zürcher Zeitung“ und das im Bestand Tonhalle erhaltene „Zürcher Theater- und Concert-Blatt“.

Das erste „ständige Kinematographen-Theater“ in Zürich nahm seinen Betrieb vor gut hundert Jahren, am 28. März 1907 an der Löwenstrasse 67 auf. Bewegte Bilder waren in Zürich jedoch schon früher zu sehen - in Direktprojektion (Camera Obscura an der Quaibrücke ab 1894), im Guckkasten (Kinetoskop im „Metropol ab 1895) und schliesslich ab Sommer 1896 als Filmvorführung in bestehenden Unterhaltungsorten (Tonhalle, Panoptikum, Wirtschaften u.ä.). Ab 1897 bereisten Schausteller, darunter der Zürcher Philipp Leilich, mit ihren Wanderkinematographen ganz Europa. In Zürich gastierten gelegentlich sie auf dem Rotwandareal und dem Albisgüetli; die Zürcher Polizei gab ihnen jedoch nur selten Spielbewilligungen und wies auch 1907 das Gesuch eines Wanderkinos mit 2000 Plätzen ab.
Den ersten festen Kinematographen-Theater wurden jedoch anfangs sozusagen postwendend die Bewilligung erteilt, wie die Aktendaten verraten, und so beginnt die Zürcher Kinogeschichte mit einem richtigen Boom. In den letzten Jahren haben wir mit dem Internet die rasante Ausbreitung eines neuen Mediums erlebt; die mit jener des Kinos um 1907-1914 vergleichbar ist. Eine Gesellschaft handelt im Umgang mit einem neuen Phänomen Freiheit und Grenzen aus: Ein Prozess, der viele Akten produzierte und damit erstklassiges historisches Quellenmaterial.
Die Stadtbehörden regelten in den ersten Jahren zahlreiche Probleme, die mit den neuen Betrieben entstanden waren, wie Feuersicherheit (ein Dauerthema im Zeitalter des hochbrennbaren Nitrocellulosefilms), Lärmschutz, Ruhetagseinhaltung und Eignungsprüfung für Kinoangestellte. Wir kennen Platzzahl (1107), monatlichen Besucherdurchschnitt (36'000) und Stromverbrauch der acht Kinos von Zürich im Februar 1910 nur deshalb, weil die Zürcher Polizei damals durchrechnete, ob sie von den Kinobetreibern höhere Taxen verlangen könnte. Zutrittsalter und Kinderschutz wurden ebenfalls intensiv be- und verhandelt. Kaum gab es Kinos, bekämpften Lehrer und Pfarrer mit Eingaben und in öffentlicher Debatte das verderbliche „Kinofieber“ der Schuljugend und erreichten, dass ab 1909 Kinder nur noch in Begleitung Erwachsener und ab 1912 überhaupt nicht mehr ins Kino durften, während Polizeimänner sorgfältige Rapporte über ihre Kinokontrollbesuche ausführen mussten. Forderungen nach einem totalen Kinoverbot oder einer Zensur nach deutschem Vorbild, traten die Zürcher Polizeibehörden entschieden entgegen, „aus Gründen, die mit der gesamten Auffassung vom Wesen eines freien Staates zusammenhängen“ (Polizeiprotokoll 22.12.1910, No. 1185). Als Schaustellergewerbe unterstand das Kino dem Markt- und Hausierergesetz; dieses wurde zwischen 1907 und 1916 durch eine Reihe von neuen kinospezifischen Verordnungen ergänzt.

Jean Speck, Kinopionier und Dandy: Eine Personenrecherche

Kinopionier Jean Speck (1860-1933)
Kinopionier Jean Speck (1860-1933)

Am 19. April 1907 war im Tagblatt der Stadt Zürich folgende Anzeige zu lesen:

„Neu eröffnet! Erstes und vornehmstes Kinematographen-Theater Jean Speck. Einziges Etablissement der Schweiz mit fortwährenden Tagesvorstellungen.“

Das neu eröffnete Kinematographen-Theater befand sich an der Waisenhausgasse13, dem damaligen Lagerhaus des Konsumvereins. In der ersten Anzeige lockte Jean Speck seine Kundschaft unter anderem mit folgenden Streifen in sein „Etablissement“: „Der Elefant als Turner, Der Traum des Fischers, Gefoppte Wirtin, Gretchens Liebesroman, Die Hunde als Schmuggler, Zwei Belauschte, Pariser Hindernisrennen etc. – Prachtvolle flimmerfreie lebende Bilder. Immer das Neueste.“

Doch wer war Jean Speck, der Initiator dieses Kinematographen-Theaters? Jean Speck wurde am 8. März 1860 in Hattingen, Deutschland, geboren. In den 1880er Jahren liess sich Speck als Schuhmacher in Zürich nieder, besass aber keine eigene Schusterei. Nach einigen Jahren im Schuhgeschäft war Speck als Wirt tätig, unter anderem im „Weissen Kreuz“ und im „Schwänli“. Jean Speck war ein sehr umtriebiger Geschäftsmann, denn bevor er das obige Kinematographen-Theater eröffnete, war er Direktor eines Zürcher Panoptikums – einem wahren Kuriositätenkabinett – wo Zwerge, Fakire und schwarze Tänzerinnen auftraten. Als er am 12. April 1907 das Kinematographen-Theater an der Waisenhausgasse eröffnete, war Specks „Expansionslust“ noch lange nicht gestillt. In den folgenden zwölf Jahren eröffnete Jean Speck eine ganze Reihe von Kinos, welche zum Teil heute noch existieren: das PALACE im Kaspar-Escher-Haus (1912 eröffnet), das ORIENT (1913, heute ABC), das WALCHE (1922) und das PICCADILLY (1929).

Obwohl im Stadtarchiv kein Nachlass von Jean Speck vorhanden ist, geben verschiedene personenbezogene Unterlagen – wie zum Beispiel Registerkarten der Einwohnerkontrolle, Einbürgerungsakten und Unterlagen des Wohlfahrtsamtes - nicht nur einen Einblick in seine geschäftlichen Aktivitäten, sondern auch in sein Privatleben: So erfährt man beispielsweise, dass Jean Speck ein Lebemann war: Er war dreimal verheiratet, wobei ihn von seiner dritten Ehefrau 40 Jahre Altersunterschied trennten. Zudem hatte er sein ganzes Vermögen verprasst, so dass er im Alter von über 70 Jahren beim Zürcher Fürsorgeamt vorstellig wurde, welches ihn als „gerissenen Fuchs“ bezeichnete und eine Unterstützung verweigerte.

Die Lebensgeschichte von Jean Speck eignet sich exemplarisch, um zu zeigen, welche Fülle an Informationen man aus den Archivbeständen ziehen kann, ohne dass ein eigentlicher Nachlas der betreffenden Person existiert.

Mode und Moderne: Die Kinos von Zürich 1907-2007

Das Kino Urban Ende der Dreissigerjahre. 1934 gebaut, war es neben dem Bellevue- und dem Corso-Theater schon der dritte Unterhaltungspalast ums Bellevue, in dem Kino-Vorführungen geboten wurden. Der Name des Kinos war allerdings keine Anspielung auf die moderne Stadtkultur: das Kino lag an der St. Urban-Gasse. (Bild: Baugeschichtliches Archiv Zürich)
Das Kino Urban Ende der Dreissigerjahre. 1934 gebaut, war es neben dem Bellevue- und dem Corso-Theater schon der dritte Unterhaltungspalast ums Bellevue, in dem Kino-Vorführungen geboten wurden. Der Name des Kinos war allerdings keine Anspielung auf die moderne Stadtkultur: das Kino lag an der St. Urban-Gasse. (Bild: Baugeschichtliches Archiv Zürich)

Ende des 19. Jahrhunderts wurden der Entwicklung der Stadt viele historisch interessante Bauwerke geopfert. Gleichzeitig erwachte das Bewusstsein um die Bedeutung solcher Denkmäler für die Identitätsfindung der sich rasch verändernden Gesellschaft. Der Stadtrat beschloss deshalb 1877, die baugeschichtliche Entwicklung der Stadt Zürich fotografisch dokumentieren zu lassen. Die so angelegte fotografische Sammlung bildet den Grundstock der Bestände des Baugeschichtlichen Archivs. Heute hat man im BAZ den Zugriff auf etwa 120'000 Fotografien, Tausende von Plänen, einige hundert Hausdokumentationen und eine umfangreiche Bibliothek zur Bau- und Stadtgeschichte und zur Architektur. Die Fotografien sind nach dem Quartier und Adresse eingeteilt. Sie stehen den Benützerinnen und Benützern kostenlos zur Ansicht zur Verfügung. Das Baugeschichtliche Archiv besitzt auch zahlreiche einzigartige Aufnahmen von Kinos. Viele dokumentieren, manchmal sehr detailliert, den nicht mehr existierenden ursprünglichen Zustand dieser Kinos oder zeigen mit Umbauten den wechselnden Zeitgeschmack. Andere entstanden eher zufällig bei der Aufnahme von Strassenzügen oder Plätzen.

In dieser Ausstellung zeigen wir eine Auswahl davon.

Neben den Fotografien wird die Kinotopografie Zürichs in elf Planübersichten des ganzen Stadtgebietes und der Innenstadt veranschaulicht. In Zehnjahresschritten wird dabei die Verbreitung der Kinos von 1907 bis 2007 dargestellt. Die Karten zeigen, dass die frühesten Kinos vor hundert Jahren zuerst in der Altstadt und Aussersihl eingerichtet wurden. Erste Quartierkinos entstanden in Oerlikon und im Seefeld. Die grösste Blüte hatte das Kino in den 1950er und 1960er Jahren. Von da an schwand einerseits die Anzahl der Kinos und anderseits wuchs die Anzahl der Säle in den Kinos; so besitzen heute die beiden Multiplexkinos Abaton und Arena, gleich viele Säle wie es 1910 überhaupt Kinos gab.

Die ersten Zürcher Kinos entstanden ab Frühjahr 1907. Sie wurde im Erdgeschoss bestehender Gebäude eingebaut – noch heute ein sehr häufiger Typ – und waren klein und bescheiden.
Freistehende Kinozweckbauten blieben in der Stadt relativ selten; bezeichnenderweise entstand der erste in der damals noch selbständigen Gemeinde Oerlikon, das COLOSSEUM (Eröffnung 6.1.1912). Noch heute existiert der denkmalgeschützte, freistehende Bau des 1922 eröffneten (und 1989 unter dem Namen RAZZIA geschlossenen) Kinos SEEFELD.
Jean Speck war der Bauherr der ersten Kinos in einem grossstädtischen Mehrzweckneubau, den PALAST-LICHTSPIELEN im Kaspar-Escher-Haus (Eröffnung 1.4.1912) und dem ORIENT im Haus Du Pont (Eröffnung 25.10.1913). Dies war der bestimmende Bautyp der grandiosen Lichtspielpaläste der zwanziger Jahre wie SCALA, APOLLO und FORUM.
Mit 1700 Plätzen war und blieb das APOLLO bis zu seinem Abbruch 1988 Zürichs grösster Kinosaal. Der Saal war mehr als doppelt so gross wie der Saal des Kinos CORSO 1 mit 750 Plätzen.
In den dreissiger Jahren wurden die Kinofassaden auch kleinerer Kinos mit überdimensionierten schicken Leuchtreklamen nachts zu urbanen Lichtspielen wie das URBAN (6.12.1934) und das CINEBREF (31.12.1937), ein Aktualitätenkino. Die Nachkriegszeit war das goldene Zeitalter des Kinos, mit rund 7 Millionen Kinoeintritten jährlich zwischen 1956 und 1963 und zahlreichen Quartierkinos. Von dann an machte sich der Einfluss des Fernsehens bemerkbar.
2005 zählte man gerade noch 2'276'465 zahlende Besucherinnen und Besucher in den Kinos der Stadt Zürich, also gut ein Drittel.

Interessant ist es auch, den Kino-Namen nachzugehen. Davon gibt es verschiedene Typen:
Geografische Namen:
Oft wurden Kino-Namen gewählt, die einen engen Zusammenhang mit dem Standort des Kinos zu tun hatten. Dies konnte aus Gründen der Auffindbarkeit des Kinos geschehen oder weil der Standort sehr prominent war – so das Albis am Albisriederplatz, und das Kino Bellevue am gleichnamigen Platz. Der Auffindbarkeit gedient haben dürften die Namen Stüssihof, Sternen Oerlikon oder Walche, aber auch Roland an der Ecke Langstrasse / Rolandstrasse oder Urban an der St. Urbangasse beim Bellevue. Noch deutlicher wird dies bei einigen Quartier-Kinos: Kino Morgental, Kino Seefeld oder später Kino 8, Kino Wiedikon (bei der Schmiede Wiedikon) und Kino Stauffacher.
Exotische Namen:
Das Kino versprach Blicke in andere, exotische Welten, weshalb auch Namen gewählt wurden mit Anspielungen auf fremde Kulturen oder Mythologien. Hier finden sich die Namen Apollo, Colosseum, Eden, Hollywood, Le Paris, Odeon, Olympia, Orient, Ritz oder Scala.
Technische Namen:
Da das Kino anfangs als technisches Wunderwerk angesehen wurde, ist dies natürlich für die Werbung ausgeschlachtet worden, wie beispielsweise die beiden Elektrischen Lichtbühnen, später nur noch Lichtbühnen oder das Radium.
Superlative:
Da der Ruf der Kinos besonders in den frühen Zeiten eher schlecht war, wählten die Kino-Besitzer oft Namen, die dem entgegenwirken sollten. Kino sollte mit etwas Exklusivem assoziiert werden. So kamen dann Namen zu Stande wie Elite, Excelsior, Etoile, Central, City, Kosmos, Maxim, Modern, Palace oder Royal.
Namen vorne im Alphabet:
Seit die Zeitungen angefangen haben, die Kinospiegel alphabetisch zu ordnen, drängelten sich immer mehr Kinonamen nach vorne im Alphabet. Hier sind die beiden neuen und grossen Multiplexkinos Abaton (früher Cinemax) und Arena zu finden, aber auch das Academy (früher Wellenberg) und die ganze Commercio-Kette mit ihren Arthouse-Kinos: Alba, Commercio, Movie, Nord-Süd und Piccadilly.

Texte: Mariann Sträuli, Karin Beck, Halina Pichit, Nicola Behrens, Christian Casanova, Max Schultheiss

Beitrag zum Schweizerischer Archivtag, Samstag, 17. November 2007: Das Stadtarchiv Zürich und das Baugeschichtliche Archiv Zürich zeigten in ihren Lesesälen mit drei Führungen Dokumente, Fotografien und Filme zur Geschichte der Kinos in Zürich, vom „Kinofieber" der ersten Jahre bis zur Gegenwart: so werden Behördenakten, Vereinsarchive und Polizeiprotokolle zur Kulturgeschichte.

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