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In meiner Kindheit gelernt

Wir waren mit dem Tanklöschfahrzeug 2 auf der Rückfahrt von einem Einsatz, als wir die Meldung erhielten, dass ein kleines Mädchen im Treppengeländer eines Mehrfamilienhauses feststeckt. Da schlägt der Puls schon mal etwas höher.

Illustration: Daniel Müller

Text: Toby Merkli

Vor Ort zeigte sich die Lage glücklicherweise nicht ganz so dramatisch: Die Kleine hatte ihren Kopf durch die Gitterstäbe des Geländers gezwängt und brachte ihn nicht mehr raus. Ihre Lage war zwar unbequem, sie atmete jedoch regelmässig.

Ich war an diesem Tag als Fahrer eingeteilt und blieb deshalb erst mal beim Fahrzeug. Die Mannschaft oben suchte mittels verschiedener Varianten nach einer Lösung, um das Mädchen möglichst vorsichtig zu befreien, ohne allzu grossen Schaden an der Infrastruktur anzurichten: Eine Möglichkeit wäre gewesen, die Stäbe mit der Trennscheibe zu entfernen – was jedoch einige Risiken wie Funkenflug und die starke Erhitzung des Metalls geborgen und zu Lärmemissionen geführt hätte. Ein anderer Ansatz wäre die Nutzung der hydraulischen Geräte gewesen, um mehr Platz zu schaffen. Dies wäre aber nicht ungefährlich gewesen und hätte ebenfalls einen Schaden am Geländer verursacht.

Während ich unten wartete, erinnerte ich mich plötzlich an eine ähnliche Situation, die ich als Kind erlebt hatte: Ich hatte meinen Kopf durch das Terrassengeländer eines Bergrestaurants gesteckt. Glücklicherweise hat mir mein Vater oft genug erzählt, wie er mich damals aus dieser misslichen Lage befreite. Er wusste, dass der Kopf bei Kleinkindern der umfangreichste Körperteil und der Brustkasten noch sehr flexibel ist. Daraus zog er folgende Erkenntnis: Wenn der Kopf durchs Geländer passt, dann muss auch der restliche Körper durchpassen – er packte mich an den Schultern und zog meinen Körper durch das Terrassengeländer.

Mit diesem Wissen gelangte ich an den Einsatzleiter und bat ihn um einen Versuch. Das grobe Werkzeug hielten wir für den Notfall bereit. Ich ging zum Mädchen und erklärte ihr, was ich vorhatte. Danach zog ich sie vorsichtig am Kopf von den Stäben weg, während meine Arbeitskollegen den Körper stabilisierten. Der Brustkorb bot etwas Widerstand, und ich musste mich überwinden weiterzuziehen. Doch siehe da: Der Bauch, die Hüfte und die Beine rutschten wie geplant widerstandslos durch das Geländer − sie war frei! Wir hatten die Kleine schmerzfrei aus ihrer misslichen Lage befreit, ohne schweres Gerät einzusetzen und dabei Schaden zu verursachen. Das Mädchen war sehr tapfer gewesen, hatte gut mitgemacht und bis zu ihrer Befreiung nie geweint. Deshalb liess ich ihr einen Plüschlöwen von SRZ und ein paar lobende Zeilen zukommen.

Fast ein Jahr später erreichte mich ein Couvert meiner ehemaligen «Patientin»: Sie hatte mir einen rührenden Dankesbrief geschrieben und zwei herzige Kinderzeichnungen gemalt. Solche positiven Rückmeldungen sind die schöne Seite unseres Berufs.

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