20'000 Jahre Stadtgeschichte unter dem Kunsthaus Zürich
Die wissenschaftliche Auswertung der archäologischen Ausgrabung im Rahmen der Kunsthauserweiterung brachte überraschende Erkenntnisse und führte zu neuen Bildern der Vergangenheit Zürichs.
2015/2016 unternahm die Stadtarchäologie Zürich in der Baugrube für den Erweiterungsbau des Kunsthauses umfangreiche Ausgrabungen. Entdeckt wurden Befunde zum Ende der Eiszeit auf Stadtgebiet, zur prähistorischen Landwirtschaft, zur Nutzung des Stadtbanns in der frühen Neuzeit, zur barocken Befestigung des 17. Jahrhunderts und zur Belegung des Areals durch die Kantonsschule in frühindustrieller Zeit. Die Auswertungsergebnisse sind als Band 2 der Reihe «Archäologie Stadt Zürich» veröffentlicht. Sie bildeten die Grundlage für fünf Lebensbilder. Diese bieten eine neue Sicht auf den Siedlungsraum Zürich und seine Entwicklung im Lauf der Jahrtausende.
Im Rahmen einer Ausstellung im Haus zum Rech erschien im Oktober 2021 eine reichbebilderte Schrift als Begleitpublikation.
Aktuell: Inschriftentafeln Turnhalle Heimplatz
Vier Tonnen Stein als Denkmal: Die Inschriftentafeln der abgebrochenen Turnhalle am Heimplatz haben zwischen Kunsthaus und Alter Kantonsschule Zürich ein neues Zuhause gefunden. Viele Zürcher*innen dürften die Tafeln noch bekannt sein – über 110 Jahre prägten zwei Turnhallen den Heimplatz, bis sie 2015 der Kunsthauserweiterung weichen mussten.
Dank enger Zusammenarbeit von städtischer und kantonaler Denkmalpflege konnten die Tafeln mit ihren goldigen Inschriften damals gerettet und nun neu platziert werden.
Begleitet wird die Neuplatzierung der Inschriftentafeln bis September durch eine Mini-Ausstellung vor Ort: Sie zeigt die Ergebnisse der archäologischen Ausgrabungen (2015/16) im Rahmen des Erweiterungsbaus des Kunsthauses.
17 m tief in die Vergangenheit
Nach dem «Ja» der Stadtzürcher Stimmbevölkerung zur Kunsthaus-Erweiterung (2012) begannen im November 2015 die Bauarbeiten und mit ihnen die archäologische Untersuchung. Die bis zu 23-köpfige Equipe der Stadtarchäologie war für fast ein Jahr vor Ort. Ausgrabung und Baubetrieb mussten eng abgestimmt werden. In der nahezu 70 auf 70 Meter messenden Baugrube zeigte sich, dass das Gelände einerseits durch neuzeitliche Aufschüttungen und andererseits durch die Aktivitäten des Wolfbachs stark geprägt worden war. Dadurch reichte die Untersuchung in eine Tiefe von bis zu 17 Metern und zeitlich vom 19. Jahrhundert bis in die Eiszeit.
Der Linthgletscher und der Wolfbach
Während der letzten Eiszeit war das heutige Stadtgebiet vom Linthgletscher bedeckt. Auf ihrem Rückzug, vor 19'000 Jahren, formten die Eismassen durch Vor- und Rückzugsstadien die Landschaft im Limmattal massgeblich. Der Moränenwall des letzten Stadiums «Z4» erstreckte sich entlang des künftigen Seebeckens von Küsnacht bis Kilchberg. Überreste auf Stadtgebiet sind der Alte Botanische Garten, der Lindenhofhügel und die vom Central bis zur Hohen Promenade ziehende Seitenmoräne.
In der Grabungsfläche hatte sich das Bett des «Ur-Wolfbachs» erhalten. Der spätere Stadtbach vereinte die Bachläufe des Adlisbergs und des Pfannenstiels. Beim heutigen Central floss er über eine Schotterebene und mündete in das Schmelzwasser des Gletschers. Zusammen mit der ebenfalls wasserreichen Sihl bildete sich ein See, der bis nach Schlieren reichte, der «Schlierensee». Mit dem Rückzug des Gletschers fanden immer mehr Bäche den direkten Weg in den Zürichsee, so dass der Wolfbach weniger Wasser führte.
Ackerflächen aus drei Epochen
Drei prähistorische Ackerböden ergänzen unser Bild der frühen Kulturlandschaften am Zürichsee. Der unterste und älteste dieser Ackerböden stammt aus dem 29.–25. Jahrhundert v.Chr. (Schnurkeramische Kultur). Darüber erhielten sich Ackerböden der Mittel- bis früheren Spätbronzezeit (14.–11. Jahrhundert v.Chr.) und der Eisenzeit (8.–2. Jahrhundert v.Chr.).
Nachweise prähistorischer Ackerflächen sind selten und meist nur über mikromorphologische Analysen möglich. Am Kunsthaus zeigte sich die landwirtschaftliche Nutzung durch mikroskopische Spuren intensiver Bodenbearbeitung und wiederholter Feuereinwirkung (Hitzespuren und Holzkohle) sowie durch verkohlte Getreidekörner und hohe Anteile an Getreidepollen. Das zyklische Überbrennen der Anbauflächen diente wahrscheinlich dazu, die Bodenfruchtbarkeit zu steigern und den Bewuchs nach einer Brache zu unterdrücken.
Die nächsten bekannten Siedlungen der Stein- und Bronzezeit, am Seeufer im Bereich des heutigen Opernhauses, liegen knapp 800 Meter oder 10 Gehminuten entfernt. Die räumliche und die zeitliche Nähe machen wahrscheinlich, dass die Anbauflächen beim Kunsthaus zum Wirtschaftsareal der Siedlungsgemeinschaften am unteren Seebecken gehörten.
Vor den Toren der Stadt
Für das 14. bis 17. Jahrhundert lässt sich im Vorgelände der ummauerten Stadt ein Areal mit landwirtschaftlicher und gewerblicher Nutzung fassen. Aussergewöhnlich ist ein zusammenhängendes System von dicht aneinandergereihten Gruben, die mit Kies verfüllt waren. Sie lagen am Wolfbachufer und datieren in das 14./15. Jahrhundert. Ihre Funktion ist ungewiss. Die Nähe zum Bach spricht dafür, dass fliessendes Wasser bei der Nutzung eine Rolle spielte. Dasselbe ist für einen in den Boden eingetieften Pfostenbau mit Steinauskleidung anzunehmen, der im 16. Jahrhundert im gleichen Werkareal am Bach stand.
Archäologisch fassen liess sich das «Judengässli». Der parallel zum Wolfbach angelegte Feldweg ist auf Plan- und Bilddokumenten überliefert. Sein Name könnte darauf zurückgehen, dass er im Mittelalter zum jüdischen Friedhof führte. 1642 wurde das Judengässli beim Schanzenbau rasch zugedeckt und blieb dadurch aussergewöhnlich gut erhalten. Der Weg war rund einen Meter breit, bestand aus einer mehrfach erneuerten Kofferung und wurde seitlich von Entwässerungsgräben mit Staketenzäunen begrenzt. Dendrochronologisch datierte Hölzer weisen in die Zeit um 1600. Im Bereich des Judengässli kamen auffallend viele Buntmetallfunde zum Vorschein, die vom Schanzenwall überdeckt waren. Waren sie zusammen in einem Depot der Erde anvertraut und später umgelagert worden oder handelt es sich um Verlustobjekte?
Die Rämi-St. Anna-Kurtine und das Hottingerpörtli
1642 begann der Bau der neuen Stadtbefestigung im zeitgemässen Bastionärsystem: Prägende Elemente waren die fünfeckig angelegten Bastionen, die die Stadt in einem weiten Schanzenring umschlossen. Die Ausgrabung Erweiterung Kunsthaus betraf den Bereich zwischen der Rämi-Bastion (unter der Kantonsschule) und der St. Anna-Bastion (unter dem Heimplatz). Sie erfasste das Verbindungswerk (Kurtine) dieser Anlagen samt Mauer und vorgelagertem Graben. Die Grabenböschungsmauer (Eskarpe) war sechs Meter hoch erhalten, ursprünglich mass sie neun Meter. An der Stelle stand das Hottingerpörtli, ein abgetragenes Stadttor. Es wurde über einen Fussgängersteg erreicht, der mit einem Holzkanal für den Wolfbach den Graben querte. Der weitere Weg in die Stadt führte unter zwei Erdwällen hindurch und war von Wachhäuschen flankiert. Die Eskarpe stand auf einem Fundationsrost aus Eichen- und Tannenbalken. Die dendrochronologische Untersuchung der Bauhölzer ergab Fälldaten im Herbst 1642. Damit ist dieser Abschnitt einer der am frühesten erbauten der Zürcher Schanzenanlage. 1833 begann der Abbruch mit der Schleifung des Hottingerpörtli.
Das Wolfbachbassin: Hochwasserschutz im 19. Jh.
Nach der Schleifung der Schanzenanlage baute die Stadt im ehemaligen Graben ein ovales, rund 40 Meter langes Bassin für den Wolfbach. In seiner Anfangszeit diente es als Staubecken und Löschwasserreservoir, bevor der Bach unterirdisch Richtung Limmat geleitet wurde. In den 1860er Jahren änderte die Funktionsweise. Der Bach wurde in einem unterirdischen Kanal eingefasst, so dass das Bassin bei Normalpegel trocken lag. Erst bei Hochwasser ergoss sich der Wolfbach ins Becken und lagerte das mitgeführte Geschiebe auf eigens dafür gepflästerten Bereichen ab. Neben dem Wolfbachbassin lag der Turnplatz der Kantonsschule, über dem Ausfluss erhob sich der hölzerne Turnschopf. Erweitert zur Turnhalle I prägte er zusammen mit der 1902 erbauten Turnhalle II das Areal bis zum Beginn der Arbeiten für die Kunsthauserweiterung im Jahr 2015.
Publikationen
- Wissenschaftliche Publikation in der Reihe «Archäologie Stadt Zürich» 20'000 Jahre Stadtgeschichte – Ausgrabung «Erweiterung Kunsthaus Zürich» 2015/2016
- Schrift zur Ausstellung im Haus zum Rech 2021/2022 Ausgrabung offen – 20'000 Jahre Stadtgeschichte unter dem Kunsthaus Zürich
- Einblick in die Ausgrabung 2015/2016 Erweiterung Kunsthaus Zürich 2015/2016