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Lebenslange Suche nach Ursprünglichkeit

Helen Dahm erhielt 1954 als erste Frau den Kunstpreis der Stadt Zürich. Aus Dank schenkte die Künstlerin der Stadt 80 Bilder, die bis heute von der Kunstsammlung regelmässig für Ausstellungen ausgeliehen werden.

«Es ist für mich eine grosse Freude, dass der Stadtrat von Zürich auf den einmütigen Vorschlag der Kunstkommission Ihnen, verehrte Helen Dahm, den Kunstpreis der Stadt Zürich für das Jahr 1954 zugesprochen hat. (…) Dass der diesjährige Kunstpreis Ihnen zuerkannt wurde, hat weitherum eher Überraschung hervorgerufen, und zwar freudige Überraschung. Am meisten wurden wohl Sie selbst durch diese öffentliche Ehrung überrascht; (…)»

Robert Lejeune: Helen Dahm. Rede anlässlich der Übergabe des Kunstpreises der Stadt Zürich am 5. Dezember 1954.

Als im Jahr 1954 der damals bereits über 70-jährigen Künstlerin Helen Dahm der Kunstpreis der Stadt Zürich verliehen wurde, sorgte dies, wie Robert Lejeune in seiner Rede anlässlich der Feierlichkeiten betonte, «weitherum» und auch bei der Künstlerin selbst für grosse Überraschung. Sie wurde nicht nur als erste Frau mit dem Kunstpreis der Stadt Zürich ausgezeichnet, Helen Dahm hatte bislang auch ein eher abgeschiedenes Leben in einem kleinen Dorf im Zürcher Oberland geführt und wurde von der Öffentlichkeit nur vereinzelt wahrgenommen. Aus Dank und mit Freude schenkte sie der Stadt Zürich 80 Bilder, darunter viele Schlüsselwerke, die sich bis heute grosser Beliebtheit erfreuen und rege ausgeliehen werden; zuletzt für die umfangreiche Retrospektive «Helen Dahm. Ein Kuss der ganzen Welt» im Kunstmuseum Thurgau.

Das Leuchten des Gartens

«Malven und Gladiolen», undatiert, Öl auf Holz, 79 x 71 cm.
«Malven und Gladiolen», undatiert, Öl auf Holz, 79 x 71 cm.

Für das Ausstellungsplakat wählte das Kunstmuseum Thurgau ein Werk, das ebenfalls aus der Kunstsammlung der Stadt stammt: «Malven und Gladiolen». Es zeigt die üppige Blumenpracht im Garten der Künstlerin in Oetwil am See, den sie gerne und oft in ihren Bildern festhielt. Die grossen, skulpturalen Blüten recken sich bis zum oberen Bildrand und leuchten in sattem Orange, Weissgrün und tiefem Rot. Der dunkle Hintergrund aus schattigem Blattwerk setzt die prominenten Malven und Gladiolen in Szene und verleiht dem Bild eine erstaunliche Tiefe, gar etwas Geheimnisvolles. Das Gemälde «Das Haus der Malerin» erlaubt einen weiteren Blick auf ihr ländliches Heim. Das Bauernhaus wirkt gross und düster, zum Dach hin scheint es sich im Hintergrund zu verlieren. Einzig die hellen, modellierten Wände treten in der Bildmitte hervor. Eingerahmt von drei hochgewachsenen, blühenden Kerbel-Pflanzen entdecken wir in einem Fenster eine schemenhafte Figur, womöglich die Künstlerin selbst, die in ihren Garten blickt.

Verheissungen der Spiritualität

«Das Haus der Malerin», 1955, Öl auf Karton.
«Das Haus der Malerin», 1955, Öl auf Karton.

Als sich Helen Dahm 1919 mit ihrer damaligen Lebensgefährtin Else Strantz für den Umzug nach Oetwil am See entschied, bewogen sie dazu neben persönlichen und finanziellen – das Haus wurde ihr von unbekannter Seite geschenkt – möglicherweise auch ideelle Gründe.

Der Rückzug aufs Land zum einfachen, naturnahen Leben entsprach einem reformerischen Zeitgeist, der in ganz Europa zur Gründung von Künstlerkolonien führte und heute unter dem Begriff «Lebensreformbewegung» zusammengefasst wird. Helen Dahm zeigte sich neuen, auch spirituellen Einflüssen gegenüber offen. Ab Ende der 1920er-Jahre verkehrte sie regelmässig auf dem «Bünishof» in Feldmeilen, einem Treffpunkt für Künstler*innen und Intellektuelle. Dort traf sie den indischen Mystiker Shri Meher Baba, dessen Einladung nach Indien in seinen Frauen-Ashram sie 1938 folgte. Sie verschenkte ihren gesamten Besitz und begab sich als Sechzigjährige auf die vierwöchige Schiffsreise nach Bombay. Im Nachhinein sagte sie über ihr Abenteuer: «Dieses eine Jahr Indien ersetzte mir zwanzig in Oetwil» (Schedler, 1963, S. 11).

Weibliches religiöses Empfinden

«Maria mit Kerze», undatiert, Hinterglasmalerei, 74 x 62 cm.
«Maria mit Kerze», undatiert, Hinterglasmalerei, 74 x 62 cm.

Ihre intensive Auseinandersetzung mit Spiritualität spiegelt sich in den zahlreichen Darstellungen von biblischen Figuren wider. Insbesondere die Rolle der Frau im christlichen Kontext scheint Helen Dahm umgetrieben zu haben: Knapp die Hälfte der Bilder in der städtischen Kunstsammlung zeigen Maria – oft mit Kind –, Maria Magdalena, Eva im Paradies oder Engel und Nonnen. Inspiration dafür fand sie wohl bei mittelalterlichen Mystikerinnen, wie ihre ikonenhaften Heiligenbildnisse nahelegen, und weniger im katholischen Madonnen-Kult, wie gelegentlich vermutet wurde. Die europäischen Mystikerinnen formulierten im 12. Jahrhundert ein neues, dezidiert weibliches religiöses Empfinden, das in der «unio mystica», der mystischen Vermählung von Mensch mit Gott, kulminierte.

«Eva im Garten Eden», undatiert, Öl auf Leinwand auf Hartfaserplatte aufgezogen, 75 x 59 cm.
«Eva im Garten Eden», undatiert, Öl auf Leinwand auf Hartfaserplatte aufgezogen, 75 x 59 cm.

Mit ihrem elegischen, schemenhaften Gesicht und dem Nimbus-gekrönten Haupt erinnert die Hinterglasmalerei «Maria mit Kerze» gar an frühchristliche Kirchenfenster. Andächtig blickt die Gottesmutter auf die brennende Kerze in ihrer Hand und scheint ganz ins Flackern des Lichts versunken. Die schwarzen, dicken Umrisslinien trennen sie von der Aussenwelt, die im Hintergrund mit wilden Farbflecken wiedergegeben ist. Zu einer ähnlichen Bildfindung kam Helen Dahm in ihrem undatierten Werk «Eva im Garten». Als seltenes Nachtbildnis zeigt es eine unbekleidete, dunkel umrahmte Figur im Halbprofil mit linkerhand drei grossen Lilien, die hell erleuchtet den Blick auf sich ziehen. In der christlichen Bildtradition stehen Lilien für Reinheit und tauchen in Darstellungen der Verkündigung auf, bei der Maria von ihrer unbefleckten Empfängnis erfährt. Hier gesellen sich die Lilien zu Eva in den paradiesischen Garten und könnten den Beginn der Menschheitsgeschichte im biblischen Sinne symbolisieren.

Hin zur Ungegenständlichkeit

«Urbild I» 1958/59, Gips, Öl und Goldspray auf gelber Jute, 65.5 x 72.5 cm.
«Urbild I» 1958/59, Gips, Öl und Goldspray auf gelber Jute, 65.5 x 72.5 cm.

In hohem Alter wandte sich Helen Dahm vermehrt der ungegenständlichen Malerei zu. Sie experimentierte zeitlebens gerne mit alternativen Malgründen wie Pavatex, Cellophan oder Glas und erprobte unorthodoxe Methoden beim Farbauftrag. In «Urbild I» scheint sich das Material regelrecht zu verselbstständigen, das Gemisch aus Gips, Ölfarbe und Goldspray türmt sich ungehemmt auf der gelblichen Jute. Im vielsagenden Titel «Urbild» klingt ihre lebenslange Suche nach Ursprünglichkeit an, für die sie vielleicht in einer dunklen, ungegenständlichen Malerei eine adäquate Darstellung gefunden hat.

Text: Daniela Minneboo

Fotos: Stefan Rohner (4) und Martin Stollenwerk (1)

Helen Dahm Museum: www.helen-dahm.ch

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