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Sexuelle Entwicklung und Erziehung im Kitaalltag: Interview mit einer Leiterin

Pascale Kurz arbeitet als Krippenleiterin in der Kinderkrippe Windrädli in Zürich-Oerlikon. Begonnen hat sie im Windrädli als Gruppenleiterin im Jahr 2002. Später hat sie sich in der Säuglingsarbeit weitergebildet.

Pascale Kurz, Leiterin der Kinderkrippe Windrädli
Pascale Kurz, Leiterin der Kinderkrippe Windrädli
Mein Name ist Pascale Kurz, ich arbeite als Krippenleiterin in der Kinderkrippe Windrädli in Zürich-Oerlikon. Begonnen habe ich im Windrädli als Gruppenleiterin im Jahr 2002. Später habe ich mich in der Säuglingsarbeit weitergebildet. Wir haben drei Gruppen, eine davon ist eine Säuglingsgruppe. Seit 2014 habe ich die Leitung der Krippe übernommen. Inzwischen sind wir in der Co.-Leitung. Ich bin hauptsächlich für die pädagogische Arbeit und die Ausbildung der Lernenden zuständig. Ich arbeite regelmässig auch auf der Kindergruppe, was mich sehr erfüllt.

Frau Kurz, es ist bekannt, dass mindestens jedes 7. Kind in der Schweiz sexualisierte Gewalt erlebt, weil es nicht aufgeklärt ist und gelernt hat, seine eigenen Grenzen einzufordern. Welchen präventiven Nutzen hat Sexualerziehung im Kleinkindalter Ihrer Meinung nach?

Ich denke, dass es im Allgemeinen äusserst wichtig ist, die Kinder auf die eigenen Grenzen aufmerksam zu machen. Dies kann bedeuten, dass es von unserer Seite her angesprochen, besprochen oder auch geklärt wird. Situationen, die unangenehm oder verunsichern, müssen sofort geklärt werden. Ich denke dabei an alltägliche Situationen. Ich glaube, wenn ein Kleinkind die Erfahrung macht, dass es gehört und bemerkt wird, wird es gestärkt und hoffentlich ermutigt für sich einzustehen. Die Sexualerziehung fliesst so auf eine natürliche Art und Weise mit ein. Wir benennen die Geschlechtsteile mit dem korrekten Namen. Ich weiss, auch da gibt es Unterschiede. Ich habe noch nie verstanden, weshalb die Nase «Nase» genannt wird, aber bei Geschlechtsteilen irgendein Übername verwendet wird. Da beginnt doch schon der natürliche Umgang mit dem Körper.

Gibt es ein Sexualpädagogisches Konzept in Ihrer Kita und können Sie uns einen kurzen Einblick geben, was dieses beinhaltet in Bezug auf Inhalt und pädagogische Haltung?

Wir haben unser Präventionskonzept in unterschiedliche Teile aufgegliedert. Darin kommen die Definition sexueller Ausbeutung, Formen von sexuellen Übergriffen, angenehme und unangenehme Berührungen, das Recht auf ein NEIN, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt etc. vor. Ebenso werden Verhaltensregeln klar definiert. Zum Beispiel, wie wir uns bei Nähe und Distanz verhalten – die Verantwortung zwischen Nähe und Distanz liegt immer bei den Mitarbeitenden. Neben diesem Grundsatz gelten die nachfolgenden Regeln für alle Mitarbeitenden:

  • Berührung: Die Kindertagesstätte legt grossen Wert auf einen natürlichen und herzlichen Umgang mit den Kindern. Das Berühren und Trösten von Kindern ist selbstverständlich. Alle Handlungen mit sexuellem Charakter (Berühren von Brust und Genitalien von Kindern und Jugendlichen, etc.) ebenso wie sexualisierte Sprache sind verboten.
  • Wickeln: Wenn gewickelt wird, wird ein*e Mitarbeiter*in informiert. Die Kinder werden nur von einer Bezugsperson gewickelt (kein Schnupperpersonal). Die Türe zum Wickelraum bleibt offen. Das Eincremen im Intimbereich gehört zum Wickeln.

Dies sind einige Beispiele für die Regeln unserer Mitarbeitenden.

Wie setzen Sie dieses Konzept in der Praxis um?

Wenn wir die Kinder wickeln, verbalisieren wir jede Handlung. Das Kind ist während des Wickelns zwar getrennt von den anderen Kindern, aber wir haben im Badezimmer keine Türen. Wir «schliessen» teils einen «Faden-Vorhang», dieser ist aber nicht zu 100% sichtgeschützt. Während des Wickelns dürfen nicht alle den Raum betreten (zum Beispiel Küchen- und Reinigungspersonal). An einigen Türen haben wir Sichtfenster einbauen lassen. Alle anderen Türen dürfen nicht komplett geschlossen werden.

Berührungen und naher Körperkontakt sind ein wichtiges Bedürfnis der Kinder im Kitaalter, das Vertrautheit, Trost und Geborgenheit schenkt, für die Entwicklung wichtig ist und die Kinder natürlich und spontan einfordern. Wie gestaltet sich nun das Thema Körperkontakt zwischen den Fachpersonen und den Kindern im Alltag mit den Regeln des Konzepts?

Vor einiger Zeit wurde empfohlen, möglichst wenig oder gar keinen Körperkontakt zu den Kindern zu haben. Mir ist klar, dass dies die Konsequenz der Übergriffe in Kitas waren. Das ist ein heikles und schwieriges Thema. Kleinkinder brauchen Nähe und Körperkontakt. Sie suchen dies auch, es gibt ihnen Sicherheit und Geborgenheit. Kinder sind teils 10 Stunden am Tag und mehrmals in der Woche bei uns in der Kita, da entstehen Beziehungen und dies beinhaltet auch Nähe. Wir versuchen, dies natürlich zu gestalten. Das heisst, das Kind steht im Zentrum: Was das Kind braucht oder eben nicht fände ich als Erzieher*in schön. Wenn das Kind etwas einfordert, versuchen wir für das Kind da zu sein. Es gibt immer wieder Kleinkinder, die mehr den Kontakt zu uns suchen als zu anderen Kindern. Da wir in Verbindung mit dem Kind sind, schaffen wir Möglichkeiten, damit das Kind mehr Interesse am «Gspähnli» entwickelt. Das kann heissen, dass die Aktivitäten angepasst werden und wir zu «Brückenbauern» werden. Bei den ganz Kleinen handhaben wir es so, dass wir nach einer gewissen Zeit, nachdem das Kind bei uns sitzend auf den Armen war, das Kind zwischen unsere Beine setzen. So hat es die Möglichkeit, sich an ein Spielzeug zu wenden und/oder gar sich dem Geschehnis der Gruppe anzuschliessen.

Wie gewinnen Sie das Vertrauen der Eltern in Bezug auf Intimität, Körperkontakt, Wickeln, Körperpflege, Trost zwischen den Fachpersonen und den Kindern?

Ich glaube durch Ehrlichkeit und Transparenz. In den Gesprächen mit interessierten Eltern sprechen wir bewusst dieses Thema an. Uns ist es enorm wichtig, dass die Eltern hören und hoffentlich glauben, dass es uns sehr bewusst ist, dass sie ihr Wichtigstes und Wertvollstes in unsere Obhut geben. Wir sind immer offen für Fragen, respektieren auch die Kultur der Eltern, zum Beispiel, wenn Männer nicht ihre Kinder wickeln sollen. Das Einzige, was Eltern haben, ist unser Wort! Das muss uns Allen bewusst sein. Mit unserem Team, gerade auch mit den Lernenden, wird das genauso wie das Machtgefälle von Kind zum Erwachsenen immer wieder thematisiert.

Ist die genderneutrale Erziehung ein Thema im Alltag der betreuenden Fachpersonen? Und wie wird diese im Kitaalltag begleitet?

Die Frage, ob wir genderneutral arbeiten, kam vor Kurzem von krippeninteressierten Eltern. Diese Frage hat mich ehrlich gesagt etwas überrascht, da dies in unserer täglichen Arbeit nicht diskutiert, sondern selbstverständlich ist. Jedes Kind soll und kann spielen, wie es ihm Freude bereitet, egal welches Geschlecht, Herkunft etc. das Kind hat. Manchmal sagt ein Kind «ich möchte lieber ein Mädchen sein» oder «ich wäre lieber ein Baby…». Meine Aufgabe ist es dann, aktiv zuzuhören, nicht zu korrigieren oder zu steuern. Und dies auf allen Ebenen. Von diesen Eltern haben wir dann erfahren, dass es in einer Krippe ein Wochenprojekt gab. Alle Mädchen haben Friseurinnen gespielt und die Jungs waren Piraten. Das finde ich erschreckend und sehr befremdlich!

Ist das Bewusstsein von Sexualerziehung eher ein passiv gelebter Teil der Elternarbeit oder werden die Eltern aktiv darauf sensibilisiert, wie wichtig dieses Thema für die Entwicklung als auch für den Schutz der Kinder ist?

Es wird eher passiv ausgelebt, ausser Eltern haben Fragen dazu oder es erscheint uns wichtig, das Thema anzusprechen. In der allgemeinen Elternarbeit ist es uns wichtig, dass die Eltern spüren, dass wir ihre Kinder stärken, und zwar zu jedem Thema.

Können Sie den kindlichen Drang den eigenen Körper und die lustvollen Gefühle kennenzulernen in den Kitalltag integrieren?

Da steht bei mir immer die Frage, wie weit. Das spielerische Entdecken des eigenen Körpers ist wichtig und natürlich. Wann und in welcher Form dies ausgelebt wird, ist stark altersabhängig. Ich bin der Meinung, dass je nach Situation, die Krippe nicht immer nur der geeignete Ort dazu ist. Gerade das «Dökterle» kann sehr viel mit sich ziehen. Da müssen schon klare Abmachungen getroffen werden: Was ist erlaubt, ist es noch «spielerisch» oder nimmt es eine Dynamik an, die auch gestoppt werden muss? Einfach auch als Schutz. Bei uns kommen so viele unterschiedliche Kulturen, Familien, Einstellungen usw. zusammen, da sollte man schon sehr achtsam mit dem Thema umgehen, damit sich alle dabei wohl fühlen. Ich (das Kind) bin nicht allein und manchmal müssen auch diese Bedürfnisse zurückgestellt werden im Kitaalltag. Gerade auch mit der Thematik Selbstbefriedigung muss sehr sorgfältig umgegangen werden. Es ist für viele Erwachsene, vor allem für Eltern, sehr befremdlich, dass sich ihr Kind befriedigt. Was ich auch sehr gut nachvollziehen kann. Ich bin der Meinung, es gibt einfach Thematiken, die zu Hause eher ausgelebt werden sollten, in einer geschützten Umgebung. Auch da geht es um Respekt und Anerkennung dem Kind gegenüber. Dies hat nichts mit Verklemmtheit oder Verbot zu tun.

Welches Wissen und welche Fähigkeiten braucht es bei den Fachpersonen, um die Kinder im Kitalltag in ihrer sexuellen Entwicklung kindgerecht zu begleiten? Ist dies in der Ausbildung ein Thema oder von Kita zu Kita individuell?

Ich denke, dass das jede Kita wohl anders macht. Ich versuche, das Thema immer bei den Angestellten anzusprechen, vor allem wenn es zunehmend aktuell wird. Wir pflegen einen offenen Austausch unter den Erzieher*innen und mir als Kitaleiterin. Ich glaube es ist in erster Linie wichtig zu wissen, dass die sexuelle Entwicklung des Kindes «normal» ist.

Welchen positiven Einfluss hat das Bewusstsein zum einen bei den Fachleuten, dass Sexualerziehung nicht erst in der Pubertät beginnt, und zum anderen auf die Kinder und deren Selbstwirksamkeit in der Entwicklung?

Das ist schwierig zu sagen. Ich staune immer wieder, wie oft wir, die Gesellschaft, über Sexualität sprechen, aber beim Einzelnen wird es schwierig. Am Ende schwingt immer unsere eigene Haltung, unsere moralischen Vorstellungen mit. Ich glaube, auch dies ist wichtig zu akzeptieren. Ich komme halt immer wieder darauf zurück, wenn wir die Kinder sehen, sie begleiten, abkömmlich und ansprechbar sind, sie stärken und ihnen auch etwas zutrauen. Wenn wir sie motivieren, ihnen Grenzen und Möglichkeiten aufzeigen und sie zur Selbstwirksamkeit erziehen, haben wir schon viel geschafft. Dass sie ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und im besten Fall benennen können, hilft doch!

Herzlichen Dank für das Gespräch und Ihre Offenheit zu diesem wichtigen und sensitiven Thema im Kitaalltag. 

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