Kunst-Newsletter: Tastende Lichter
«Science-Fiction-Maibaum»: Die Licht- und Videoinstallation «Tastende Lichter» von Pipilotti Rist auf dem Heimplatz
Pink leuchtet auf den Rillen der Fassade des Chipperfield-Baus, Blau und Grün auf den Kunsthausbauten der gegenüberliegenden Seite des Heimplatzes, zudem umschmeicheln Videosequenzen die Relieffiguren von Paul Osswald auf dem Moser-Bau. Die Installation «Tastende Lichter» (2015–2020) von Pipilotti Rist ist vor allem ein Schauspiel in der Dunkelheit, im Winterhalbjahr.
Wer dann den Heimplatz besucht, erlebt ein ruhiges, langsames Gleiten von farbigem Licht rund um den Platz. Die Beleuchtung des Schauspielhaus-Eingangs, die Schriftzüge von SPAR und dem Restaurant Santa Lucia, aber auch das Licht von Strassenlaternen, Kiosk und Telefonkabine ergänzen diesen Lichterreigen, der in Abstimmung mit der Fassadenbeleuchtung des «Plan Lumière» für den Heimplatz entstanden ist.[1]
Pipilotti Rists Skulptur «Tastende Lichter» ergänzt die Umgestaltung des Heimplatzes im Zuge des neu errichteten Erweiterungsbaus für das Kunsthaus Zürich von David Chipperfield Architects. Die ganzjährig sichtbare und zentrale Skulptur ist eine riesige Säule, die sich mit leichter Krümmung neben dem Taxistand und der Büste von Ignaz Heim in leuchtenden Magenta- und Gelbtönen 15 Meter in die Höhe schwingt. Im trichterförmigen Abschluss befinden sich fünf Moving Lights in bunten Farben. Zudem sind 16 Lichtquellen entlang der neuen Vertikalen angebracht und 16 weitere auf den umliegenden Gebäuden montiert worden. Alle zusammen beleuchten in der Nacht den öffentlichen Raum und die Fassaden am Heimplatz. Vom schlanken Mast aus, den Pipilotti Rist liebevoll «Science-Fiction-Maibaum»[2] nennt, wandern die farbigen Lichtpunkte sanft über das geschichtsträchtige Schauspielhaus, die Kunsthausbauten von Karl Moser und den Gebrüdern Pfister und den Erweiterungsbau, der im Oktober 2021 eröffnet wurde.[3]
Der hochaufragende Stamm wurde auch schon als «5G-Fernimpfsäule» bezeichnet. Es zeigt sich an solchen Kommentaren, dass Pipilotti Rists Umgang mit dem öffentlichen Raum auch fantasievolle Aussagen beim Publikum provoziert.
Im öffentlichen Raum zuvor Furore gemacht hat die Künstlerin mit dem Platz aus rotem Teppich um das Raiffeisen-Bankgebäude in St. Gallen (2005, mit Carlos Martinez). In der Stadt Genf fährt seit 2016 Pipilotti Rists pinkrosa Tram «Monochrome Rose» auf der Linie 14. Und ich erinnere mich immer wieder gerne an ihre Aktion im Zürcher Tram Nr. 8 im Jahr 1998, als die Künstlerin die Tram-Fenster mit Sprüchen wie «Wirf die Juwelen aus dem Fenster» oder «Lassen Sie Winnetou neben sich reiten» bespielte und so eigene Fantasien bei den Tramgästen hervorrief. Aber auch mit provokativen Arbeiten zu Blut, Menstruation oder den weiblichen Geschlechtsorganen hat die Künstlerin immer wieder die Öffentlichkeit gesucht und die Diskussion tabuisierter Themen angestossen.
Mit «Tastende Lichter» will Pipilotti Rist den Heimplatz weicher machen. Sollen die Blicke, die dem farbigen Mast entlang gegen den Himmel gleiten, vergessen machen, dass das enorme Verkehrsaufkommen den Platz schon stark strapaziert und er überdies mit urbaner Infrastruktur verstellt ist? In seiner Asymmetrie erscheint der Mast in der Tat als ein Element, das den Platz im Organischen erdet und beruhigt. Die von ihm ausgesandten Lichtpunkte wandern still über die Fassaden der Gebäude und entspannen das hektische städtische Treiben, indem sie ihm ganz unaufgeregt entgegenwirken.
Text: Sibylle Omlin
Foto: Juliet Haller
[1] Wenn die künstlerischen Lichtinstallationen von Oktober bis Mai bei Dämmerung bis Mitternacht eingeschaltet sind, nimmt sich die öffentliche Beleuchtung zurück.
[2] Pipilotti Rist im Video-Beitrag
[3] Eine erste Etappe der Arbeit wurde 2016 anlässlich Pipilotti Rists Einzelausstellung im Kunsthaus realisiert und nun ins Werk integriert: fünf Moving Lights im Oberlicht des Moserbaus und eine Videoprojektion auf das Relief «Amazonenkampf» von Carl Burckhardt.