Kunst-Newsletter: Blumenfenster
«Maskenball der Biodiversität»: Neues Werk von Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger im umgebauten Kongresshaus Zürich
Es war eher ungewöhnlich, dass Architekten damals für ein öffentliches Gebäude wie das Kongresshaus in Zürich ein Blumenfenster vorsahen. Und es braucht einen genaueren Blick und ein vertieftes Verständnis, um zu erkennen, dass sich der florale Dekor ebenso subtil wie selbstverständlich in die gar nicht so schmucklose Moderne der Architektur von Max Haefeli, Werner Moser und Rudolf Steiger einfügt. Das hat in der Folge die kritischen Geister bewegt und die Architekturdebatte belebt. Mag sein, dass das Blumenfenster in der Idee der 1930er-Jahre den Lauf der Zeit und der Moden nicht unbeschadet überstand und womöglich auch wegen zu hohem Unterhalt wegrationalisiert wurde. Es ist aber ein kongenialer Schachzug des mit der Renovation betrauten Architekturteams der Arbeitsgemeinschaft Boesch Diener, diese Idee neu zu beleben und der Bauherrschaft das Künstlerpaar Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger für eine Neuinterpretation vorzuschlagen. Die beiden haben mit einem hängenden Garten in der Kirche San Staë in Venedig grosse Aufmerksamkeit gefunden; sie haben die Stiftsbibliothek St. Gallen mit 1001 Versatzstücken in eine Wunderkammer verwandelt und sie haben das ehemalige Nationalparkmuseum in Chur «renaturiert» und dabei zu verstehen gegeben, wie allumfassend ihr Verständnis von Kunst und Natur ist und wie wenig sie von Kategorien und Grenzen halten.
Raster gliedert den Blick
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger sollten also das Blumenfenster neu erfinden, das sich über die ganze Breite des Gartensaals im Erdgeschoss des Kongresshauses zieht und den östlichen Abschluss zur Strasse hin bildet. Dass dies kein Ort für eine solitäre künstlerische Intervention sein kann, sondern dass sich ihre Arbeit räumlich und konzeptuell in die Architektur einfügen muss, war Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger von Anfang an bewusst. Die ornamentalen Muster an den Wänden und auf dem Boden, die sich um Säulen rankenden Beleuchtungskörper oder die verschiedenen grünen Oasen im räumlichen Gefüge dieses besonderen Bauwerkes dürften zu ihrem zeitgemässen In- und Miteinander von Kunst und Architektur geführt haben. Zuerst stand offenbar die geometrische Struktur zur Diskussion, die als dekorativer Sichtschutz noch aus der Bauzeit dem grossen Fenster vorgeblendet ist. Heute sind alle glücklich damit, da diese verhindert, dass Gerda Steiners & Jörg Lenzlingers «Maskenball der Biodiversität» in einem Aquarium versinkt. Stattdessen gibt der Raster der unüberblickbaren Fülle vielfältig verschlungener Kreationen kompositorischen Halt. Von innen wirkt er wie eine Folie im Hintergrund, von aussen lenkt er den Blick vom Ganzen aufs Detail. So machen sich die Künstler auf ihre Art zunutze, was die Architekten der 1930er-Jahre bereits vorgesehen hatten und was man als integralen Teil des Gebäudes über die Zeit gerettet hat.
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger nehmen im Titel ihrer Installation Bezug auf den alljährlichen Künstlermaskenball, der im 1937 bis 1939 erbauten Kongresshaus unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Tradition des legendären Kunsthausmaskenballs der Goldenen Zwanzigerjahre wiederaufnahm. Der Maskenball war bis in die 1980er-Jahre in Zürich das grosse Fest der Kunst, in dem sich Bohème und Prominenz tummelte und den anarchischen Geist von Dada wiederaufleben liess. In Zürichs Kulturleben war er eine Institution und eine Feier der Kreativität, die sich hier frei und ungebunden zeigen konnte. Dieses bunte Treiben, das alle Normen der Zwingli-Stadt sprengte, ist ganz im Sinn von Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger und animiert sie, im scheinbar spiessigen Blumenfenster statt wohldosierter Natur mit konfektioniertem Bestand eine Biodiversität zu inszenieren, die alle Bestrebungen des Artenschutzes übertrifft.
Feier der Vielfalt
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger feiern die Vielfalt: Sie sammeln, was die Vegetation hergibt, und bedienen sich zugleich im Warenlager der Konsumwelt; sie tragen Erinnerungsstücke zusammen und stellen frei assoziierend Objekte her, die jedes Naturalienkabinett bereichern würden. Jedes Ding ist eine Erfindung, genährt aus dem Erfahrungsschatz des Lebens und angetrieben von einem Blick auf die Welt, der nichts missachtet und alles beseelt. Die «Teilnehmer» ihrer Parade führen Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger in einem Inventar auf, das ihre Installation begleitet. Sie nennen Utensilien, beschreiben Kombinationen, erfinden Bilder und Begriffe und schaffen so ein Universum, das Gattungen hinter sich lässt und alles verbindet: Dazu gehören «Eine Muschel, die vorgibt, eine Rose zu sein», «Ohrenputzerstäbchen, als Pilze inszeniert», das «Bodenheizungsrohr, weiss behaart», die «Irokesenperücke auf Hasenohrkaktus» oder die «Grünteepinselblume aus Bambus und Nylonblütenblättern». Es gibt hier kein Entweder-oder, sondern nur das Zusammenspiel von Kunst und Natur, von Echt und Falsch, von Schein und Sein. Die Akribie der Wissenschaft geht über in einen Garten der Lüste, der enzyklopädisch vor uns ausgebreitet ist und sich zugleich jeder Ordnung entzieht. Alles hat seinen Platz und seine Geschichte und fügt sich zugleich ein in einen grossen Reigen. Für Unterhaltung ist gesorgt: Wer sich aufmacht auf den Spaziergang entlang dieser barocken Enfilade, wird sich aus dem Labyrinth nicht mehr so schnell lösen können. So werden wir letztlich alle in Sinn und Geist erfasst von einer Welt, die sich permanent neu erfindet und die vor unseren Augen weiterwuchert, wenn das «Pinke Kunstdüngergewächs» entsprechende Nahrung erhält. Das Blumenfenster wird damit zu einer Bühne für ein Spektakel, das schon im Foyer jeden Kongress und jedes Schauspiel vorwegnimmt und uns vor Augen führt, wo die Musik des Lebens spielt.
Text: Stephan Kunz
Foto: Georg Aerni
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger
«Maskenball der Biodiversität», 2021
Eine Installation im Kongresshaus Zürich
Claridenstrasse 1, 8002 Zürich
Im Auftrag der Kongresshaus-Stiftung Zürich