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Vanessa Billy: Schritt für Schritt in den Himmel des Wissens

Die beiden markanten Schulhäuser zwischen Römerhofplatz und Kreuzkirche in Zürich-Hottingen sind 1877 (Ilgen A) und 1889 (Ilgen B) erstellt worden. Vor kurzem wurde eine umfassende Instandsetzung der Schulhäuser und der Turnhalle abgeschlossen, die die Gebäude auf Minergie-Standard bringen. Die Künstlerin Vanessa Billy hat für die in neuem Glanz erstrahlende und in der Tradition des ETH-Erbauers Gottfried Semper gestaltete Schulanlage gläserne Himmelsleitern geschaffen. Auf einnehmend-spielerische Weise nehmen sie Bezug auf die Architektur und die Symbolik des Ortes.

Vanessa Billy, Leiter, Leichter, Weiter (Foto: Martin Stollenwerk)

Das von einer Wettbewerbsjury zur Realisierung ausgewählte Kunst-und-Bau-Projekt von Vanessa Billy mit dem Titel «Leiter, Leichter, Weiter» besteht aus zwei 4 Meter langen Glasleitern, die an den vorderen Giebelwänden der beiden Schulhäuser angebracht sind. Als klassisches Thema für die historische Kunst am Bau waren die Giebelfelder früher oft aufwändig gestaltet. Heute sind sie wieder leer: Ein idealer Raum für eine spielerische Intervention.

Schulhaus Ilgen A mit Glasleiter am vorderen Giebel
Die gläserne Leiter am Giebel des Schulhauses A steht in Nachbarschaft des Zeitmessers

Die 61 Kilogramm schweren Leitern von Vanessa Billy sind an vier Stellen an der Giebelwand befestigt und erreichen mit ihrer Länge den höchsten Punkt des Giebels. Die künstlerische Intervention von Vanessa Billy wirkt sehr unaufdringlich, auf angenehm zurückhaltende Weise passt sich die simple Geste in die Umgebung ein. Auf den ersten Blick wirkt der Charakter der Leitern flüchtig: In ihrer Leichtigkeit und Transparenz scheinen sich die gläsernen Leitern in der lichten Umgebung des Himmels zu verlieren. Die Leitern sind aber sehr sorgfältig formal an die Architektur sowie inhaltlich an die Funktion des Schulhauses gebunden. Die Leitersprossen gleichen sich den Fensterunterteilungen mit ähnlichen Massen an und beziehen die Skulptur so in die Gesamtarchitektur des Schulhauses ein; auch wird die strenge Symmetrie des klassizistischen Gebäudes durch die regelmässige Form der Leitern akzentuiert. Gleichzeitig wird diese Ordnung wie auch der Wiederholungseffekt durch die radikale Platzierung der Leitern jeweils an der linken Giebelseite gebrochen. 

Schulhaus Ilgen A
Schulhaus Ilgen A

Der Himmel des Wissens

Diese subtile physische Versetzung der konventionellen Strenge, die ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Realität und Poesie erzeugt, prägt auch in symbolischer Weise den Eingriff von Vanessa Billy. Die Leiter ist eine Metapher, ein Bild fürs Lernen, fürs Erfahren von Wissen über unsere Welt, in die sich die Kinder in der Schule Schritt für Schritt stärker hineinfinden. Jedoch thematisiert die Leiter nicht nur das schrittweise Weiterkommen, sondern erinnert auch an traditionelle Kinderspiele und ruft literarische Assoziationen wach, beispielsweise an «Alice im Wunderland» oder «Der kleine Prinz». Als Allegorie, als anschauliche Darstellung des Strebens nach einer besseren Zukunft verbindet das Werk gleichzeitig Elemente des Didaktischen und der Fantasie. Das Ansteuern von höheren intellektuellen Zielen verbindet sich mit spielerischen Aspekten, das unmittelbar und rational Erkennbare mit dem Surrealen und Märchenhaften. Das Unten wird mit dem Oben, das Schulhaus mit dem Himmel verbunden. Das Bild der Leiter steht physisch wie symbolisch dafür, wie der Mensch grösser werden kann, um eine Übersicht zu gewinnen und Dinge zu erreichen, die ohne dieses Hilfsmittel nicht möglich wären. Das uralte, funktionale Objekt der Leiter hat Vanessa Billy mit einer höchst zeitgenössischen Technik verfertigt und vereint dadurch das Praktische und Banale mit dem Künstlichen und Experimentellen. 

Schulhaus Ilgen B
Schulhaus Ilgen B

Anregendes Zeichen im Augenwinkel

Mit dieser Arbeit hat die 1978 in Genf geborene und heute in Zürich und London arbeitende Vanessa Billy nicht nur den Baustil des Schulhauses, sondern auch die Lage des Gebäudes an der Seite des Hügels hoch oben beim Römerhof im Quartier Hottingen berücksichtigt. Der Hauptzugang, der von der Ilgenstrasse zum Schulhaus führt, wird durch die zwei Leitern betont, der Blick wird über den Zugang hinauf himmelwärts geführt. Von weither und lange bevor man das Schulhaus erreicht hat, sind die Leitern als geheimnisvolles Zeichen zu erblicken. Filigran, transparent und nicht greifbar bleiben sie durch die Reflektionen des sich verändernden Wetters im Glas ständig in Bewegung. Nur aus einem gewissen Abstand sichtbar, verlangen sie nicht Aufmerksamkeit, sondern werden mit leichter, nebensächlicher Geste im Augenwinkel erfasst. Mit der Zeit werden sie sich in die Wahrnehmung und Fantasie der Schülerinnen und Schüler, der Eltern und Lehrpersonen einschleichen und im Gedächtnis einnisten. Obwohl nicht wirklich fassbar, geht von diesem Kunstwerk eine poetische Kraft aus, die zum Geschichtenerzählen und Träumen anregen wird.

Felicity Lunn

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