Interview mit Dr. med. Jörg Wydler, Leiter ERAS-Team Triemli
Seit November 2016 wendet die Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefässchirurgie am Stadtspital Triemli das Behandlungskonzept ERAS bei geplanten Dickdarm-Operationen an. Dabei sorgen alle Beteiligten in engster Zusammenarbeit und mit allen Mitteln dafür, dass sich Patientinnen und Patienten besser erholen. Für die erfolgreiche Implementierung wurde das Triemli vor Kurzem von der ERAS® Society zertifiziert. – Im Gespräch mit Dr. med. Jörg Wydler, Leiter des ERAS-Teams Triemli.
Wie geschieht dies konkret?
«Eine chirurgische Behandlung lässt sich grob in drei Phasen unterteilen: Vor, während und nach der Operation. Die erste Phase dient der Abklärung und Aufklärung: Hier trifft der Patient auf den Arzt, auf Fachkräfte aus der Physiotherapie, auf die Anästhesie und falls nötig auf die Ernährungsberatung. Und zum ersten Mal kommt die ERAS-Nurse ins Spiel. Sie begleitet den Patienten oder die Patientin durch alle drei Phasen. Die zweite Phase ist die Operation. Auch diese unterliegt Neuerungen zugunsten der Patienten. In der dritten Phase geht es um die postoperative Betreuung.»
Welche Rolle spielt die Nachbetreuung bei ERAS?
«Ein wichtiges Behandlungselement ist, dass die Patientin auch nach dem Spitalaustritt weiterhin durch die ERAS-Nurse betreut wird. Nach rund einer Woche ruft sie die Patientin erstmals an und befragt sie gezielt nach Symptomen, die auf Komplikationen hinweisen könnten. – Als zentrale Ansprechpartnerin ist die ERAS-Nurse eine ganz wichtige Fachperson in diesem Behandlungskonzept. Zu ihr entwickeln die Patienten eine enge Verbindung, wodurch sie sich besonders gut aufgehoben fühlen.»
In der ersten, der präoperativen Phase, geben Sie Ihren Patientinnen und Patienten eine Broschüre ab, die zugleich als Patienten-Tagebuch dient. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
«Die Patientinnen und Patienten verstehen, dass eine Befolgung der Anweisungen für sie eine Erleichterung nach sich zieht. Sie sind bestrebt, die Weisungen vollständig und richtig zu befolgen. Bei der herkömmlichen Behandlungsart waren Patienten zum Teil verunsichert. Es war etwa unklar, ob sie direkt nach dem chirurgischen Eingriff aufstehen sollen; auch war der Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme nicht abschliessend geklärt. – Mit ERAS jedoch wird die ganze Bandbreite vom Stuhlgang über die Ernährung, bis hin zur Mobilität erfragt. Das macht die ERAS-Broschüre (PDF) zum verbindlichen Instrument.»
Ist ERAS für bestimmte Patientengruppen ungeeignet?
«Ganz klar nein. Alle unsere Patienten, denen eine Dickdarm-Operation bevorsteht, operieren und behandeln wir heute nach ERAS. Weniger Komplikationen, ein kürzerer Spitalaufenthalt, weniger Schmerzen und ein allgemein höheres Wohlbefinden direkt nach der Operation sind Gründe, die dafür sprechen, dass sich ERAS auch bei anderen Eingriffen durchsetzen wird.»
Gibt es Patienten, die mit ERAS besser zurechtkommen als andere?
«Alter ist kein Indiz dafür, dass ERAS eine ungünstige Behandlungsart sein könnte. Unser erster Patient war zur Zeit seiner Behandlung 79 Jahre alt – und wir haben auch mit über achtzigjährigen Patientinnen und Patienten bereits mehrfach sehr gute Erfahrungen gemacht.»
«Mit ERAS sind Patienten nach 24 Stunden wieder mobil. Diesen Fortschritt miterleben zu dürfen, freut mich als Arzt ganz besonders.»
Bestehen bei der Umsetzung von ERAS Unterschiede bezüglich der Versicherungsart?
«Nein – da gibt es keine Unterschiede. Sowohl allgemein- wie zusatzversicherte Patientinnen und Patienten profitieren im Triemli von diesem multidisziplinären Behandlungskonzept.»
Nach welchen Kriterien wurde die Zertifizierung ausgestellt?
«Zu jedem behandelten Patienten führen wir ein Patientendokument. Damit werden die rund 150 zu berücksichtigenden ERAS-Empfehlungen auf ihre Erfüllung hin geprüft. Aus den erhobenen Daten erstellen wir aber auch Statistiken zu unserer eigenen Kontrolle. Es ist uns wichtig, ERAS nicht nur aus einer subjektiv positiven Wahrnehmung heraus zu loben, sondern, uns bei der Erfolgskontrolle auf Fakten zu beziehen. – Und bisher sind wir mit der Entwicklung sehr zufrieden.»
Gibt es ein Erlebnis, das für Sie die Wirksamkeit von ERAS besonders gut illustriert?
«Ich erinnere mich an eine meiner ersten ERAS-Patientinnen, die ich 16 Stunden nach dem chirurgischen Eingriff auf ihrem Zimmer besuchte. Ich konnte meinen Augen kaum trauen: Sie sass bequem in ihrem Patientenzimmer in einem Sessel, ihre Füsse leger auf dem Tischchen platziert. – Als sie mich kommen sah, stand sie blitzartig auf, kam mir entgegen und begrüsste mich mit offenen Armen. – Dieser Moment war für mich fast schon unwirklich: Ich erinnere mich an Zeiten, in denen Patientinnen und Patienten nach einem vergleichbaren Eingriff bis zu vier Wochen das Spital nicht verlassen konnten. Diesen Fortschritt miterleben zu dürfen, freut mich als Arzt ganz besonders.»
ERAS erfährt in medizinischen Fachkreisen eine hohe Aufmerksamkeit. Im Rahmen des international angelegten ERAS-Programms vergleicht das Triemli Daten und Erfahrungen mit anderen Kliniken auf der ganzen Welt. Weitere Informationen zu ERAS am Triemli finden Sie unter www.triemli.ch/eras.
- Lesen Sie in der «Thurgauer Zeitung» auch den Beitrag zu Dr. Wydlers Engagement in Entwicklungsländern: «Mit dem Skalpell in den Busch»