«Palliative Care als Haltung heisst, eine Möglichkeit zu geben, über die Endlichkeit zu sprechen und die Angst vor dem Ende zu mindern.»
Dr. med. Roland Kunz, Facharzt für Geriatrie und Facharzt für Palliativmedizin im Gesundheitszentrum Mattenhof
Dr. Roland Kunz, Facharzt für Geriatrie und Facharzt für Palliativmedizin, war Chefarzt im Palliativzentrum im Stadtspital Waid. Seit drei Jahren ist er im Gesundheitszentrum für das Alter Mattenhof mit einem geringen Pensum angestellt. Einmal im Monat unterstützt er den Arztdienst, die Pflege und weitere Disziplinen auf der Palliativ-Abteilung im Rahmen von Visiten und Fallbesprechungen. Mit seinem umfassenden Wissen und seiner langjährigen Erfahrung bringt er die Kultur in diesem komplexen Bereich voran – zum Nutzen von Mitarbeitenden und Bewohnenden.
Herr Dr. Kunz, beginnen wir mit einer Begriffsklärung. Wie unterscheiden sich Palliative Care und Palliative Geriatrie?
Palliative Care ist ein interprofessioneller Ansatz, der primär im onkologischen Kontext Anwendung findet. D. h. der Ansatz kommt bei Menschen mit Krebserkrankungen zum Tragen, die die Grenzen der Heilbarkeit überschritten haben. Ab diesem Zeitpunkt wird nicht mehr kurativ und rehabilitativ gearbeitet, sondern palliativ. Dabei geht es darum, Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu erhalten.
Was ist in der Palliativen Geriatrie anders?
Dreiviertel der Menschen sterben im Alter über 80 Jahren. Meinen Kolleg*innen und mir wurde bewusst, dass sich der etablierte Ansatz der Palliative Care für sie nicht eignet. Im Gegensatz zu Menschen mit Krebserkrankungen steht bei ihnen nämlich nicht eine Diagnose im Vordergrund, basierend auf der eine Prognose gemacht werden kann. Bei älteren Menschen mit verschiedenen Diagnosen gibt es nicht den einen Punkt, ab dem nur noch palliative Massnahmen wichtig sind. Die eine Krankheit wird weiter kurativ behandelt, während für eine andere die Symptomlinderung im Vordergrund steht. Die Palliative Geriatrie ist darum ein Ansatz der geriatrischen Versorgung, der das palliative Konzept mitdenkt, bei dem aber auch die anderen beiden Anteile Platz haben. In den letzten zehn Jahren hat sich der Begriff immer mehr etabliert. In der Palliativen Geriatrie braucht es keine Superspezialist*innen der Palliative Care, sondern Fachleute, die auch von Themen wie Demenzbetreuung oder Rehabilitation eine Ahnung haben. Das ist eine neue Facette – auch für das Pflegepersonal.
Wie wird entschieden, welche Beschwerden oder Gebrechen kurativ, rehabilitativ oder palliativ behandelt werden?
Dabei richten wir uns nach dem Menschen und seinen Werten. Es geht bei der Behandlung also primär um persönliche Haltungen und individuelle Ziele. Was sind die Lebensziele eines Menschen, was bedeutet für ihn Lebensqualität? Daraus leiten wir dann die Behandlungsziele ab. Das heisst, zwei praktisch identische Bewohnende können ganz unterschiedlich behandelt werden, abhängig von ihrer persönlichen Definition von Lebensqualität. Während es für den einen am wichtigsten sein kann, selbstständig und sicher zu gehen, steht beim anderen zum Beispiel im Zentrum, möglichst gut zu sehen, um weiterhin Zeitung lesen zu können. Bei alten, multimorbiden Menschen braucht es den Mut, individuelle Medizin zu machen.
Wie werden diese persönlichen Werte und Ziele in Erfahrung gebracht?
Dafür ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Menschen nötig. Es reicht nicht, einfach kurz eine Patientenverfügung auszufüllen. Bei den Gesundheitszentren für das Alter ist diese Abklärung überdurchschnittlich gut entwickelt. Das Wissen der Mitarbeitenden, die eine spezifische Ausbildung auf diesem Gebiet haben, kommt auch anderen Abteilungen zugute, und es gibt regelmässig Weiterbildungsveranstaltungen, die allen Mitarbeitenden offenstehen.
Was steht bei der monatlichen Visite im Zentrum und wie wird sie durchgeführt?
Die Visite führe ich gemeinsam mit einem Arzt oder einer Ärztin aus der Abteilung und einer leitenden Pflegefachperson durch. Die Themen sind relativ breit. Wir schauen zum Beispiel, wie wir Bewohnende mit schwierigen Symptomen noch besser behandeln können. Dabei prüfen wir, was schon gemacht wurde und was wir allenfalls verbessern könnten. Aber auch soziale Spannungen sind ein Thema. Wenn zum Beispiel die Angehörigen andere Erwartungen haben als der Bewohner selbst. Ängste sind ein weiterer Bereich, mit dem wir uns auseinandersetzen.
Wie sieht die anschliessende Fallbesprechung aus?
Bei der Fallbesprechung sind alle Mitarbeitenden aus der Pflege anwesend, die an dem Tag arbeiten, aber auch andere Bereiche wie Seelsorge, Hotellerie und Sozialarbeit, da sie ebenfalls wichtige Ressourcen sind. Wir thematisieren im interprofessionellen Austausch schwierige Situationen, bei denen ich mit meiner Erfahrung unterstützen kann. Dabei geht es nicht ausschliesslich um die Bewohnenden, sondern auch um die Mitarbeitenden. Belastende Situationen mit den Bewohnenden können uns an unsere Grenzen bringen und uns hilflos zurücklassen. Die Fallbesprechung bietet einen Raum, in dem wir uns als Team dazu austauschen können, wie es uns geht. Dadurch können wir uns besser auf die Bewohnenden einlassen.
Was sind aktuelle Entwicklungen in der Palliative Care?
Das Verständnis von Palliative Care in der Gesellschaft hat sich verändert. Wenn man im Spital jemandem eine Verlegung auf die Palliative-Abteilung vorschlägt, stösst man nicht mehr primär auf Ablehnung. Die Leute wissen heute besser, dass es in der Palliative Care um Lebensqualität trotz Krankheit geht. Es ist nicht eine Fokussierung auf die Sterbebegleitung. Durch dieses veränderte Bewusstsein profitieren heute mehr Leute von Palliative Care. Das führt wiederum dazu, dass das Kompetenzniveau im Bereich der Palliative Care steigt.
Wie wird entschieden, wer auf der Palliative-Abteilung am besten aufgehoben ist?
Die Palliative-Abteilung ist für Menschen mit sehr komplexen Symptomen gedacht. Die Weichen werden häufig im Spital gestellt. Wenn jemand relativ stabil ist, wird bei der Verlegung darauf geachtet, dass er möglichst nah am früheren Wohnort bleiben kann. Bei sehr komplexen Fällen wie zum Beispiel bei Atemnotsituationen werden die Palliativ-Abteilung oder z.B. das Lighthouse in Betracht gezogen.
Die Palliative Care ist ein besonderes Gebiet, das zusätzliche Anforderungen an Expert*innen aus allen Professionen stellt. Was hat sie dazu bewogen, sich in diesem Bereich zu spezialisieren?
Ich wollte ursprünglich Hausarzt werden und hatte bereits eine Hausarztpraxis in Planung. Als Assistenzarzt war ich für drei Monate in einem Pflegeheim tätig. Denn ich dachte mir, was ich hier lerne, ist interessant und nützlich für einen Hausarzt. Während dieser Zeit hatte ich ein Aha-Erlebnis. Mir wurde bewusst, wie wichtig die individuelle Lebensgeschichte und die aktuelle soziale Situation eines Menschen sind, wenn es darum geht, die für ihn richtige Entscheidung zu treffen. Im Pflegeheim wird das so gemacht. Im Akutspital gibt es für jedes Organ einen Spezialisten. Aber es gibt kaum jemanden, der den Menschen als Ganzes betrachtet. Das Interesse am Menschen hat mich zur Weiterbildung in Geriatrie geführt.
Sie gehören zu den ersten Expert*innen für Palliative Care. Wie haben Sie diese Anfänge erlebt?
Im Studium und in der Weiterbildung war Palliative Care zu meiner Zeit noch kein Thema. Es ging ausschliesslich darum, Krankheiten zu bekämpfen. Aber was, wenn man sein ganzes Pulver verschossen hat? Schulden wir Ärzt*innen den Menschen dann nicht auch noch etwas? Schon zu Beginn meiner Tätigkeit als Arzt war das Pflegeheim der Hauptsterbeort der Menschen in der Schweiz. Das heisst, dort fand die Auseinandersetzung mit diesem Thema statt. Anfang der 90er-Jahre suchte ich nach Know-how dazu. Meine Kolleg*innen konnte ich damals an einer Hand abzählen. Wir haben uns in der Zeit vernetzt und gegenseitig weitergebildet. 1988 wurde die europäische Fachgesellschaft für Palliative Care (EAPC) gegründet, kurz darauf die Schweizerische Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und Begleitung (palliative.ch) und 2015 die Fachgesellschaft Palliative Geriatrie (FGPG). Ich war dort lange Jahre engagiert und habe Ärzt*innen sowie andere Berufsgruppen ausgebildet.
Wie bereitet man jemanden auf die Arbeit in der Palliative Care vor?
Bei uns im Mattenhof beginnt das schon mit der Wahl der Mitarbeitenden, die auf der Palliativ-Abteilung arbeiten. Sie müssen sich bewusst sein, dass sie auf dieser Abteilung häufiger als anderswo Abschied nehmen und sich laufend auf neue Situationen einlassen müssen. Das muss man wissen und sogar suchen. Darum würden wir auch nicht einfach Mitarbeitende auf die Abteilung versetzen. Hat sich jemand für diese Arbeit entschieden, wird er oder sie von der Abteilungsleitung begleitet und individuell unterstützt.
Wie erleben Sie die Arbeit in der Palliativen Geriatrie?
Die Zeit, in der die Bewohnenden bei uns auf der Abteilung sind, ist sehr intensiv und bringt vieles aus ihrem Leben wieder hoch. Die Bewohnenden setzen sich mit sich selbst auseinander, reflektieren ihr Leben und ziehen eine Lebensbilanz. Sie in dieser Zeit zu begleiten, ist einerseits sehr anspruchsvoll, andererseits aber auch ungemein bereichernd. Was mir immer wieder grossen Eindruck macht, ist, dass äussere Attribute nicht mehr zählen. Es ist nicht mehr wichtig, ob einer Professor oder Direktor war. Es geht nur noch um das Wesentliche, um den nackten Menschen. Das ist die intensivste Art von Medizin und Pflege. Man kommt dem Wesen des Menschen am nächsten, das empfinde ich als ein riesiges Geschenk.
Sie sprechen oft mit Bewohnenden über den Tod. Was ist Ihre Erfahrung?
Ich empfehle, mit Betroffenen frühzeitig über ihre letzte Phase zu sprechen und nicht bis zuletzt auf die Bekämpfung der Krankheiten zu fokussieren. Sonst wird man von der letzten Phase überrascht und weiss gar nicht, was der Mensch überhaupt will. Meine Erfahrung diesbezüglich ist sehr ermutigend. Ich hatte noch nie negative Reaktionen, wenn ich Bewohnende gefragt habe, ob sie sich manchmal Gedanken zum Sterben machen oder ob sie Angst haben vor dem, was noch kommen könnte. Im Gegenteil: Ich stosse auf sehr viel Offenheit. Palliative Care als Haltung heisst, eine Möglichkeit zu geben, über die Endlichkeit zu sprechen und die Angst vor dem Ende zu mindern.
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