World Delirium Awareness Day 2021
Nicht nur für Senioren ist der Aufenthalt im Spital eine grosse Umstellung, auch für junge Patienten. Ging dann bei der notfallmässigen Einlieferung auch noch vergessen, Brille und Hörgeräte einzupacken, können alle diese Stressoren das Hirn überlasten und zu einem Delirium führen. Die Früherkennung ist schwierig, Aufklärung tut Not.
Martina Thoma
Pflegeexpertin APN
Universitäre Klinik für Akutgeriatrie
Stadtspital Zürich
Tatjana Meyer-Heim
Oberärztin meV, Memory Clinic
Fachärztin Innere Medizin FMH,
Schwerpunkt Geriatrie
Stadtspital Zürich
«Delir-Informationen sind wichtig»
Warum ist das Krankheitsbild Delir im gesamten Spital so gefährlich und nicht nur auf der IPS oder der Geriatrie?
Tatjana Meyer-Heim: Ein Delirium ist ein medizinischer Notfall. Patientinnen und Patienten, die ein Delirium entwickeln, fühlen sich durch die Symptome bedroht, die sie nicht einordnen können. Zudem haben sie ein höheres Risiko, zu stürzen oder andere Komplikationen zu erleiden. Die Dauer einer Hospitalisation steigt durch ein Delir deutlich an, ebenso die Mortalität. Es ist auch bekannt, dass sich ein Delir mittel- und langfristig negativ auf die Kognition auswirkt, also das Demenzrisiko erhöht.
Martina Thoma: Deshalb ist eine frühe Erfassung von Risikofaktoren sowie die Einleitung präventiver Massnahmen unabdingbar!
Welche Faktoren können zu einem Delir führen?
Thoma: Ab 65 Jahren hat ein Delir meist eine multifaktorielle Genese und ist ein Zusammenspiel prädisponierender Faktoren wie z.B. Depression, Polymedikation, Schlafentzug etc. Eine wichtige Rolle spielen auch akut oder subakut beeinflussende Noxen, beispielsweise akute Erkrankung, Schmerzen, Medikamente und andere Parameter. Grundsätzlich kann ein Delir in jedem Alter auftreten. Die Inzidenz nimmt aber nach dem 60. Lebensjahr zu. Massgebliche Risikofaktoren sind die Patientengruppe, das Behandlungssetting und eine vorhandene Demenz. Die höchsten Inzidenzraten werden weltweit im Akutbereich auf Intensivstationen mit 19-82%, im postoperativen Bereich mit 11-51% und im palliativen/onkologischen Bereich mit 47% verzeichnet. In der Inneren Medizin und Geriatrie liegen die Zahlen bei 29-64%.
Meyer-Heim: Ebenso Delir-begünstigend sind Immobilisation, Einbussen des Seh- und Hörvermögens, Verstopfung oder Harnretention und viele anderen Ursachen. Auch ein Entzug von Medikamenten oder von anderen Substanzen kann zu einem Delir führen. Bereits bei Eintritt auf der Notfallstation leiden ca. 20% der Patienten an einem Delirium. Je nach Altersgruppe, Eingriffen und Erkrankungen kann die Inzidenz deutlich ansteigen. Tatsächlich werden Delirien häufig nicht erkannt. Es gibt keinen Bluttest und keine Bildgebung, die dabei helfen, ein Delir zu diagnostizieren. Vielmehr stellt die Beobachtung des veränderten Verhaltens die Grundlage der Diagnose dar. Es ist wesentlich, die Angaben der Angehörigen bezüglich des Verhaltens in Erfahrung zu bringen.
Welche Delir-Typen gibt es?
Thoma: Beim Delirium wird zwischen drei Subtypen unterschieden: Die hyperaktive Form zeigt sich in psychomotorischer Unruhe mit starkem Bewegungsdrang sowie durch leichte Reizbarkeit und Erregungszustände. Die hypoaktive Form äussert sich durch eine reduzierte Motorik und ein apathisches Verhalten. Sie bleibt deshalb häufig unerkannt. Bei der Mischform wechseln sich die Symptome ab. Typischerweise tritt das Delirium innerhalb weniger Stunden oder Tage auf.
Meyer-Heim: Die Verwirrung zeigt sich darin, dass Patientinnen und Patienten zeitlich und örtlich nicht orientiert sind. Ihr Kurzzeitgedächtnis und die Aufmerksamkeit sind deutlich eingeschränkt. Die Betroffenen können zum Beispiel einem Gespräch nicht folgen. Mögliche Sinnestäuschungen können sowohl für die Betroffenen, als auch für die Angehörigen sehr traumatisierend wirken. Die Symptomatik kann zudem fluktuieren.
Thoma: Das Fehlen von Delir-Daten zu Inzidenz und Prävalenz mag damit zusammenhängen, dass ein Delir in vielen Institutionen nicht systematisch erfasst und gescreent wird. Zudem werden die Symptome oftmals als Depression oder Demenz interpretiert.
Wie ist ein Delirium behandelbar?
Meyer-Heim: Wie oft in der Medizin gilt auch hier, dass die Prävention zielführender ist als die Therapie. Bei der Behandlung des Delirs liegt der Fokus darauf, die auslösenden Faktoren zu identifizieren und zu behandeln. Neben der ursächlichen Behandlung haben vor allem nicht-medikamentöse Ansätze einen hohen Stellenwert. Die Therapie mit Neuroleptika ist begrenzt wirksam. Es ist wichtig, eine für den Patienten vertraute Umgebung zu schaffen. Hier spielen die Angehörigen eine zentrale Rolle.
Thoma: Die Delir-Symptome gehen zurück, sobald die Ursache behandelt ist. In schweren Fällen können die Symptome sechs bis zwölf Monate andauern. Die Deckung lebensnotwendiger Bedürfnisse ist die wirkungsvollste Behandlung. Nicht-medikamentöse Massnahmen wie zum Beispiel eine angepasste Tagesstruktur, die Vermeidung invasiver Untersuchungen und Eingriffe sowie ein personenzentrierter Ansatz bilden die Basis. Bei letzterem erhält der betroffene Mensch Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung. Das ist sehr wichtig.
Was können die Angehörigen dazu beitragen, dass kein Delir entsteht?
Thoma: Angehörige brauchen Informationen über das Delir, denn sie können den Therapieverlauf und die Beziehungsgestaltung positiv unterstützen. Zudem sind ihre Beobachtungen für die Ursachensuche des Delirs essenziell. Angehörige können bei ihren Besuchen im Spital, aber auch zu Hause, darauf achten, dass die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme ausreichend ist. Ihre Anwesenheit vermittelt Sicherheit – auch über Nacht oder bei Untersuchungen. Sie können unterstützen, so dass die Medikamente eingenommen werden und indem sie persönliche Gegenstände wie Familienfotos, Brille oder Hörgeräte mitbringen. Das verbessert die Orientierung. Verändertes oder schwankendes Verhalten ist in jedem Fall umgehend mit dem medizinischen Personal im Spital oder mit der Hausärztin oder dem Hausarzt zu besprechen.
Meyer-Heim: Liegt ein Delir vor, können die Angehörigen der betroffenen Person helfen, indem sie die Kommunikation vereinfachen, ruhig und langsam sprechen und nicht argumentieren. Gemeinsame Spaziergänge, Musikhören, aber auch die Präsenz der vertrauten Person an sich kann sich beruhigend auswirken.
Thoma: Insbesondere in der Corona-Zeit sind wir mit den Masken vor den Gesichtern alle stark gefordert. Ein Lächeln lässt sich ja nur noch von den Augen ablesen. Und Lippenlesen geht sowieso nicht.
Was können Sie uns über Ihre Arbeitsgruppe berichten, die standortübergreifende Massnahmen gegen das Delir trifft?
Meyer-Heim: Der interprofessionellen und interdisziplinären Arbeitsgruppe ist es ein grosses Anliegen, mit geeigneten Screening-Instrumenten delirante Zustandsbilder optimal erfassen zu können. Daneben werden die Patientenpfade innerhalb des Spitals nochmals genau durchleuchtet, um potenziell delirogene Faktoren nach Möglichkeit zu eliminieren.
Thoma: In unserer Arbeitsgruppe versuchen wir, bestehende Versorgungslücken im Stadtspital Zürich zu schliessen und eine Delir-sensible Kultur zu fördern. Wir sind ein Senioren-freundliches Spital!