Interview mit Katrin Gügler und Simone Rangosch
Katrin Gügler, dürfen wir in diesem Interview überhaupt von Verdichtung reden? Oder sprechen wir lieber von Innenentwicklung?
Beide Begriffe haben durchaus ihre Berechtigung. Innenentwicklung ist die Stossrichtung, welche wir in der Schweiz brauchen, um die Zersiedelung zu stoppen, so wie es das Volk 2013 mit der Zustimmung zum revidierten Raumplanungsgesetz gewünscht hat. Verdichtung ist der Weg zur Umsetzung, wenn wir in einer Stadt wie Zürich zusätzlich Raum für Wohnen und Arbeiten schaffen möchten. Man muss vor dem Begriff «Verdichtung» keine Angst haben, wenn auch Qualität mitgemeint ist. Eine dichte Stadt bedeutet zum Beispiel auch lebendige Quartiere und geht in Zürich immer auch mit der Schaffung neuer Freiräume einher.
Simone Rangosch, was heisst die Verdichtung in der Stadt Zürich für Siedlung und Verkehr?
Mehr Menschen mit vielfältigen Bedürfnissen leben und arbeiten in der Stadt. Wir streben eine Stadt der kurzen Wege an. Die bestehenden Quartierzentren werden gestärkt und teilweise neu entwickelt. Damit wird es für die Wohnbevölkerung attraktiver, sich vor Ort zu versorgen. Der Detailhandel eröffnet wiederum neue Läden im Quartier, da er auf mehr Kunden zählen kann. Zudem gewinnt der öffentliche Verkehr mehr Passagiere. Generell werden dank kürzerer Distanzen immer mehr Wege zu Fuss oder mit dem Velo zurückgelegt.
Gügler: Wir denken die Entwicklung von Siedlung und Verkehr immer zusammen und gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen. Mit übergeordnetem Blick auf die Gesamtstadt steuern wir die Schwerpunkte der Verdichtung an diejenigen Orte, die gut mit dem öffentlichen Verkehr erschlossen sind. Auf der konkreten Ebene der Quartiere oder sogar einzelner Gebäude geht es dann wiederum eher um die Konzentration der richtigen Nutzungen am richtigen Ort. Simone Rangosch hat ja die lebendigen Quartierzentren eben beschrieben. Ein weiteres Thema ist die Schnittstelle von privaten zu öffentlichen Flächen.
Wie müsste man einer Bewohnerin / einem Bewohner die Stadt Zürich im Jahre 2040 bezüglich Verkehr und Siedlung beschreiben?
Gügler: Die Stadt wird sich insgesamt urbaner, städtischer anfühlen. Dadurch, dass mehr Personen die Stadt und somit den öffentlichen Raum nutzen werden, wird sich auch die rasche Erreichbarkeit und das Angebot vom Detailhandel bis zur Kultur verändern und eben auch verdichten. Dabei wird die Stadt interessanterweise nicht nur dichter, sondern auch grüner sein. Denn die Möglichkeiten zur Hitzeminderung werden Schritt für Schritt, Projekt für Projekt genutzt. Ich stelle mir für die Zukunft noch viel mehr Strassenräume mit schattenspendenden Bäumen, Orte zum Verweilen und gute Verbindungen zu Grünräumen vor. Die Stadt Zürich von 2040 wird über eine Vielzahl von lebendigen lokalen Zentren, ein breitgefächertes Angebot von Grünräumen und genügend Flächen für Schul- und Sportanlagen sowie Werk- und Sicherheitsbauten verfügen. Wichtig ist, dass bei allen künftigen Entwicklungen die Themen Stadtnatur, umweltverträgliche Entwicklung - insbesondere Stadtklima sowie Lärm- und Klimaschutz - die Sozialverträglichkeit und preisgünstiger Wohnraum mitberücksichtigt werden.
Rangosch: Wie Katrin Gügler erwähnt, wird es im 2040 gute Verbindungen zu Grünräumen geben. Insbesondere rund um die Quartierzentren wird mehr Raum für den Fussverkehr zur Verfügung stehen und attraktiv gestaltete Erholungs- und Aufenthaltsorte für die BewohnerInnen. Der «klassische» öffentliche Verkehr ist nach wie vor das effizienteste Verkehrsmittel und wird in Quartieren nahe des Stadtrands durch innovative «Rufbusse» ergänzt (Beispiel Pikmi). Der Güterverkehr ist geprägt durch kleinere Sendungsgrössen und damit kleinere, innovative Fahrzeuge mit vorwiegend Elektro- und Wasserstoffantrieb. Der personenbezogene MIV ist absolut und anteilsmässig zurückgegangen. Der Veloverkehr hat nochmals zugenommen und leistet nebst dem Fussverkehr und dem öffentlichen Verkehr einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen städtischen Mobilität.
Simone Rangosch, wie wichtig ist der öffentliche Raum und welche Rolle übernimmt dieser in einer immer dichter werdenden Stadt?
Der öffentliche Raum ist sehr wichtig als Lebensraum mit hoher Qualität für Erholung, Aufenthalt, sozialen Austausch usw. Es braucht mehr Flächen für den Fussverkehr, insbesondere in den neuen Quartierzentren im Norden und Westen der Stadt. Aber auch viele kleine Flächen werden zur Freiraumversorgung das Siedlungsgebiet durchziehen.
Katrin Gügler, wie wichtig ist der private Raum und welche Rolle übernimmt dieser in einer immer dichter werdenden Stadt?
Gerade bei dichten Stadtstrukturen, etwa den Blockrandbebauungen in den Innenstadtquartieren, ist die Schnittstelle zwischen privatem und öffentlichem Raum wichtig. Wir nennen das «von Fassade zu Fassade planen». Da wirken wir auf eine gute, dem Stadtraum zugewandte Gestaltung der privaten Räume hin – in Kooperation mit den Grundeigentümerschaften. Besondere Beachtung schenken wir dieser Schnittstelle auch in Räumen, die für die Lesbarkeit der Stadt besonders entscheidend sind: den Stadtachsen, Plätzen und Zentren. Dafür gibt es bereits gute Beispiele: die Genossenschaft Kalkbreite an der Badenerstrasse mit publikumsorientierten Erdgeschoss-Nutzungen oder die begrünten Vorzonen als Filter zwischen öffentlich und privat bei der Siedlung Buchegg entlang der Hofwiesenstrasse.
Mehr Bevölkerung, mehr Verkehr, mehr Lärm, weniger Grünraum… Was beabsichtigt die Stadt gegen die negativen Effekte der Verdichtung zu unternehmen?
Rangosch: Die Bevölkerung in der Schweiz und in Zürich wird sowieso wachsen. Dieser Veränderungsprozess wird genutzt, um die Situation für alle zu verbessern: Keine Zersiedelung, Wachstum wird durch bereits urbane Gebiete aufgefangen, der Planungsprozess sorgt für eine Verbesserung der Lebensqualität. Das Wachstum der Bevölkerung führt dazu, dass sich der Modalsplit weg vom MIV hin zu Fussverkehr, öffentlicher Verkehr und Velo verschiebt. Vor allem für den Fussverkehr sind Wege mit hoher Aufenthaltsqualität, also beispielsweise mit schön gestalteten Grünräumen, wichtig. Weiter kann durch reduzierte Geschwindigkeiten, lärmarme Beläge sowie Elektromobilität auf Seiten Quelle sowie geschickte Bebauung und Anordnung der Nutzungen auf Seiten Empfänger die Bevölkerung vor übermässigen Lärm geschützt werden. Dies gelingt nur mit der Abstimmung von Siedlung und Verkehr auf allen Planungsstufen.
Gügler: Ich unterstütze natürlich die Aussagen von Simone Rangosch. Die Entwicklung der Stadt ist ein laufender Prozess. In den letzten Jahren haben wir Zeiten des Bevölkerungswachstums und -rückgangs erlebt. Seit den 2000er Jahren leben wir wiederum in einer Phase des Wachstums. Die Herausforderungen sind da, aber auch die Antworten von Städtebau, Freiraumentwicklung, Umgang mit öffentlichen Räumen, Architektur an lärmbelasteten Strassen usw. Und die Lösungen für diese unterschiedlichen Herausforderungen werden immer besser. Für mich kann ich sagen, dass mir das Zürich der 2020er Jahre besser gefällt als das der 1990er Jahre. Das stimmt mich zuversichtlich für die kommenden Dekaden.
Wo sehen Sie Chancen?
Gügler: Wachstum ist in erster Linie eine Chance. Die Stadt kann sich entwickeln, an vielen Orten auch verbessern. Das zeigt sich beispielhaft etwa am Bucheggplatz, wo die Siedlung Buchegg der Baugenossenschaft Waidberg anstatt der anonymen Zeilenhäuser mit Abstandsgrün neu drei Wohnneubauten mit unterschiedlichen Wohnungen und vielfältigen, vom Strassenlärm isolierten Aussenräumen bietet. Oder das Freilager, wo ein neues Quartier geschaffen wurde, das zwar dicht ist, gleichzeitig aber auch eine Auswahl an publikumsorientierten Nutzungen (z.B. Läden, Kaffee usw.) und viel Freiraum bietet. Für diese Qualitätssteigerung braucht es erstens eine langfristig ausgelegte, planerische Steuerung und zweitens eine enge Koordination mit den vielen Ansprüchen, die mit dem Wachstum verbunden sind. Beides leisten die kommunalen Richtpläne Siedlung, Landschaft, öffentliche Bauten und Anlagen sowie Verkehr.
Rangosch: Ich sehe es gleich wie Katrin Gügler. Wir wollen Strassenräume mit mehr Lebensqualität gestalten für die Zufriedenheit der StadtbewohnerInnen. Mit den beiden kommunalen Richtplänen haben wir das Werkzeug, um diese Entwicklung in die richtigen Bahnen zu lenken.
Simone Rangosch, wo haben in einer verdichteten Stadt überhaupt noch alle Parkplätze und Grünräume Platz, die bei Neubauten gefordert werden? Respektive wie ist es noch möglich alle Auflagen für einen Neubau in einer immer dichter werdenden Stadt zu erfüllen?
In einer sich baulich verdichtenden Stadt verliert das Auto an Bedeutung. Zudem setzen wir mit der Parkplatzverordnung die Vorgabe um, dass Parkplätze auf Privatgrund, also zum Beispiel in Tiefgaragen erstellt werden müssen. Dies ermöglicht uns, dass wir bei Ersatz- und Neubauten die Parkplätze in der Blauen Zone reduzieren und so mehr Flächen zugunsten von Velorouten, breiteren Trottoirs, Güterumschlagplätzen oder Bäumen freispielen können. Mit der Parkplatzverordnung 2015 wurde auch die Möglichkeit für autoarmes bzw. autofreies Wohnen geschaffen.
Katrin Gügler, in der Stadt Zürich wird der Wohnraum immer teurer, mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat eine tertiäre Ausbildung (die Tertiärstufe umfasst Ausbildungen im Bereich der höheren Berufsbildung, Fachhochschulen sowie Hochschulen, im Jahre 2000 war es noch etwas mehr als ein Viertel), gewisse Bevölkerungsschichten können sich das Wohnen in der Stadt Zürich nicht mehr leisten. Was macht die Stadt Zürich, damit ihre Bevölkerung eine gewisse Vielfalt behält. Was kann die Verdichtung dazu beitragen?
Die sozialverträgliche Entwicklung ist der Stadt ein sehr wichtiges Anliegen. Stadt bedeutet immer auch Wandel – den wir aber eng und gut begleiten müssen. Die Stadt setzt sich dabei im Rahmen ihrer Möglichkeiten dafür ein, dass es auch weiterhin Platz für alle Bevölkerungsschichten gibt.
In Zürich werden rund 26 % aller Wohnungen in günstiger Kostenmiete vermietet – das ist einzigartig in der Schweiz. Und in der Gemeindeordnung ist der klare Auftrag formuliert, diesen Anteil auf einen Drittel zu steigern. Kostenmiete bedeutet, dass keine Rendite erwirtschaftet wird und diese Wohnungen faktisch dem Markt entzogen sind. Angeboten werden diese Wohnungen in erster Linie von Baugenossenschaften auf eigenem Land oder Baurechtsland der Stadt Zürich, den städtischen Stiftungen und der Stadt Zürich selbst.
Zudem kann die Stadt von Bauherrschaften neu preisgünstigen Wohnraum (§49b PBG) einfordern, sofern ihnen eine erhöhte Ausnutzung gewährt wird. Von der zusätzlichen Ausnutzung kann maximal 50 % mit preisgünstigem Wohnraum belegt werden.
Bei den ca. 1,5 % der Wohnbauten die jährlich erneuert werden, ist aber auch wichtig, dass mit dem Mehr an Wohnungen gleichzeitig die Qualität für die Bewohnenden steigt – genau hier liegt unter anderem die Chance der Verdichtung. So müssen Arealüberbauungen das Kriterium «besonders gut» erfüllen. Wir können dafür eine hohe Grundriss- und Aussenraumqualität wie auch Begegnungsräume einfordern. Und als Beitrag zu einer sozialverträglichen Entwicklung Etappierungen diskutieren. Ganz generell beabsichtigen wir, noch stärker in den Dialog mit Bauwilligen zu treten, um sie für sozialräumliche Anliegen zu sensibilisieren.
Simone Rangosch, welchen Einfluss hat die Corona Pandemie auf die Entwicklung Siedlung und Verkehr?
Der öffentliche Raum hat während der Corona-Pandemie sicherlich an Bedeutung gewonnen. Teilweise war es der einzig mögliche Raum, um jemanden zu treffen. Gerade für Kinder und Jugendliche, die auf Freiräume im direkten Wohnumfeld angewiesen sind, ist das Bedürfnis, sich im Freien zu bewegen, sehr gross. Auch auf unsere Mobilität hat sich die Pandemie Einfluss ausgewirkt. Neben dem Velo-Boom zeigte sich 2020 beim öffentlichen Verkehr ein viel grösserer pandemiebedingter Einbruch als beim MIV. Insgesamt gesehen haben die Individualverkehrsmittel Fuss, Velo und Auto bei der Verkehrsmittelwahl mehr Gewicht erhalten, während der öffentliche Verkehr wegen der möglichen Ansteckungsgefahr gemieden wurde. Auch wurden pandemiebedingt vermutlich anstatt Reisen und grossen Ausflügen in der Freizeit mehr Ziele im näheren Umfeld angesteuert, zu deren Erreichung sich das Velo gut eignet. Ob und wie lange diese Veränderungen in der Verkehrsmittelwahl nachwirken, ist aktuell schwer abzuschätzen. Mit einer Normalisierung der Gesundheitslage kann eine weitgehende, an die Entwicklungen bis 2019 anknüpfende Normalisierung der Verkehrslage erwartet werden, gewisse «Nachwirkungen» könnten jedoch auch andauern. Es gilt, die positiven Effekte der Pandemie auf den Verkehr, nämlich die verstärkte Velonutzung und auch die Glättung der Verkehrsspitzen durch vermehrtes Homeoffice, so weit wie möglich in die Zukunft mitzunehmen und anderen, nicht wünschenswerten Effekten entgegenzutreten, insbesondere das Vertrauen der Bevölkerung in den öffentlichen Verkehr und dessen sichere Nutzung wiederherzustellen. Neue Daten weisen zudem darauf hin, dass, wer nur noch 1 - 2 Mal pro Woche ins Büro muss, eher bereit ist, lange Wege in Kauf zu nehmen. Damit könnte die Zersiedlung zunehmen und sich der Verkehr verschieben, aber insgesamt nicht abnehmen.
Gügler: Ich teile die Meinung von Simone Rangosch. Der öffentliche Raum wurde während der Pandemie sehr wichtig. An Bedeutung gewonnen haben in der Zeit von Homeoffice vor allem auch die Quartierzentren. Zentral war die schnelle Erreichbarkeit der städtischen Infrastruktur (beispielsweise Einkaufsmöglichkeiten, Gesundheitseinrichtungen, Sportzentren), die keinen öffentlichen Transport erforderte, sowie die Möglichkeit, in den Quartierzentren zu verweilen. Damit haben sich bei der Bevölkerung neue Gewohnheiten etabliert, die aufgrund des Fortbestehens von partiellem Homeoffice für viele auch weiterhin aktuell sein werden. Dem Bedürfnis nach lebenswerten Stadträumen muss deshalb zukünftig noch mehr Rechnung getragen werden: Die Quartiere brauchen hochwertige, vielfach nutzbare öffentliche Räume. Das gilt insbesondere für die bestehenden und zukünftigen Quartierzentren gemäss kommunalem Richtplan Siedlung, Landschaft, öffentliche Bauten und Anlagen.