Interview mit Anna Bernegg
Welche Formen von Partizipation gibt es in Gemeinden und Städten? Für Wohnsiedlungen und Unternehmen?
Es gibt die formale Partizipation, die gesetzlich auch vorgeschrieben ist. Wenn beispielsweise ein Bebauungsplan festgesetzt werden soll, dann wird dieser öffentlich aufgelegt und alle Leute, die dafür ein bestimmtes Interesse haben, können sich beim zuständigen Amt dazu äussern. Das ist allerdings eine Form der Beteiligung, die oftmals nicht umfassend genug ist, weil sie nur auf ein spezifisches Bauvorhaben fokussiert. Urban Catalyst ist vor allem in der informellen Beteiligung aktiv. Das sind Beteiligungsmöglichkeiten, die Städte und Gemeinden initiieren, weil so die Qualität von Prozessen und die Akzeptanz von Ergebnissen verbessert wird. Vor allem bei grundsätzlichen Fragen dazu, wie sich Städte, Quartiere oder Regionen künftig entwickeln sollen, geht man in integrierte Prozesse, die Beteiligungen beinhalten. In Deutschland gibt es das Instrument des integrierten Entwicklungskonzepts (INSEK), das als strategischer Kompass für 15-20 Jahre dient und in dem im Erarbeitungsprozess der Dialog und die Kommunikation mit vielfältigen AkteurInnen grosses Gewicht haben.
Ist das in Deutschland also bereits ein Standard?
Ja, das gehört heute zur Planungskultur, weil das von der Bevölkerung zunehmend eingefordert wird und auch im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung ist. Heranführen kann man hier die Neue Leipzig-Charta, die besagt, dass Stadtentwicklung aus dem Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Akteure entsteht. Beteiligung heisst also nicht immer, dass man die Öffentlichkeit miteinbezieht. Sondern, dass man überlegt, wer wichtige Partner im Stadtentwicklungsprozess sein können, z. B. Initiativen, Wohnbauunternehmen, Mobilitätsdienstleister, sodass sich diese über gemeinsame Entwicklungsziele verständigen.
Gibt es einen Unterschied zwischen der Partizipation der öffentlichen Hand und privaten Akteuren wie zum Beispiel Unternehmen (Mitarbeitenden) oder Wohnsiedlungen (Bewohnenden)?
Strategische Beteiligungsprozesse sind meist sehr komplex. Es gilt, viele Themen und Entwicklungsebenen miteinander zu verbinden. Bei Beteiligungsprozessen zum Beispiel in Wohnsiedlungen besteht eine ganz unmittelbare Betroffenheit der Anwohnenden und die Beteiligung erhält eine viel grössere Emotionalität. Darum ist es auch sehr wichtig, dass man den Spielraum, den die Beteiligung hat, frühzeitig klärt, gerade wenn schon vieles vordefiniert ist.
Wir werden auch von grossen Unternehmen, z. B. Immobilienentwicklern angefragt, die ihre Mitarbeitenden gezielt in diesem Thema weiterbilden möchten, weil Prozessdesign und Beteiligung in der Stadtentwicklung einfach dazugehören. Die öffentliche Hand ist verpflichtet, gemeinwohlorientierte Ziele zu verfolgen, während sich bei Privaten die Frage stellt, wie soziale und gemeinwohlorientierte Funktionen auch mit in Entwicklungen eingebettet werden können.
Wie können Kinder am besten in Planungsprozessen zum Thema Mobilität und Stadtraum mitwirken?
Die Digitalisierung bringt hier viele neue Möglichkeiten, zum Beispiel für eine spielerische Partizipation durch Apps, in denen Kinder Fotos hochladen und so ihre spezifische Sicht auf die Stadt teilen. Ein anderer wichtiger Aspekt ist, dass Kinder Dinge im Raum selber ausprobieren können und so Veränderungen spürbar gemacht werden. In einer Wohnsiedlung wollten Kinder zum Beispiel einen Fuss- und Basketballplatz. Das hat man provisorisch ausgesteckt. In der Evaluation konnten wir sehen, welche Nutzungen gut in den Raum passen. Wichtig ist auch, dass Kinder und Jugendliche selbst aktiv werden können. Jugendliche und junge Erwachsene haben einen starken Drang etwas selber zu gestalten und sich Räume anzueignen, ohne dass viel vorgegeben ist, Material und Raum genügen.
Es gilt ausserdem, Themen wie Nachhaltigkeit und Stadtentwicklung in Schulen stärker zu diskutieren, damit Kinder und Jugendliche frühzeitig für diese Themen sensibilisiert werden. Die Veränderung des Klimas oder die Notwendigkeit der Mobilitätswende sind oft sehr komplexe Aspekte, die für Kinder runtergebrochen und zugänglich gemacht werden sollten. Es muss gelingen, dass das Interesse der Kinder geweckt wird.
Wann ist der ideale Zeitpunkt für eine Partizipation im Verlauf eines Projekts?
Wir machen häufig die Erfahrung, dass die Mitwirkung zu spät und zeitlich zu knapp angesetzt wird. Die Partizipation sollte bereits bei der Definition und Ausrichtung von Projekten mitgedacht werden. Der Prozess sollte möglichst eine direkte Ansprache von Gruppen haben. Und diese Ansprache sollte kontinuierlich und immer wieder stattfinden.
Das setzt natürlich voraus, dass in der Stadt oder Gemeinde auch die Kapazitäten dafür vorhanden sind, einen Dialog zu führen, auszuwerten und die Resultate wiederum in die weiterführenden Planungen einfliessen zu können. Wenn man diese Kapazitäten nicht einplant, sollte man den ganzen Aufwand auch nicht machen.
Was ist der Nutzen eines Partizipationsprozesses in einem Infrastrukturprojekt oder bei der Erarbeitung einer Strategie wie zum Beispiel für Mobilität und Stadtraum? Was die Gefahren?
In langfristigen Entwicklungsstrategien geht es darum, dass man sich mit der Öffentlichkeit aber vor allem auch mit potenziellen Partnern einer Entwicklung darüber austauscht, wie eine Stadt oder ein Quartier in Zukunft aussehen sollen. Das kann niemand vorgeben, der Weg muss gemeinsam bestritten werden und es ist ganz wesentlich, dass die Strategie als Entwicklungsgrundlage das Ergebnis von Vielen ist. Solche Prozesse werden ja auch immer komplexer, die verschiedenen Fachstellen in den Verwaltungen müssen zusammenarbeiten und es gibt es sehr viele unterschiedliche Themen, Interessen und Rahmenbedingungen zu verhandeln. Wichtig ist auch zu klären, wer (neue) Partner in der Entwicklung sein können und dass man sich da gegenüber Vereinen oder Bürgerinitiativen sowie gegenüber privaten Personen öffnet, die häufig bereit sind, grosses Engagement für ihr Wohnumfeld oder für das Quartier zu leisten oder auch teilweise ein riesengrosses Wissen haben. In vielen Prozessen fordern wir Planende auf, ebenfalls eine Rolle im Partizipationsprozess zu spielen. Das war z. B. für Architekten zunächst neu, dass sie ihre Entwürfe und Pläne gegenüber der Öffentlichkeit präsentieren und erklären müssen. Das ist aber oft sehr gewinnbringend, weil die Alltagsperspektive neue Anforderungen und Fragen aufwirft. Planende müssen in kurzer Zeit, mit einfachen Mittel und in einfacher Sprache, den Kern ihrer Idee oder des Entwurfs vermitteln.
Was sind die Erfolgsfaktoren für einen guten Partizipationsprozess?
Man muss sich im Klaren darüber sein, wer die zentralen Akteure und Schlüsselpersonen sind, die es zu integrieren gilt, damit ein Projekt gelingt, respektive dass festgelegte Ziel erreicht werden kann. Und dann bringst du diese zusammen und einigst dich auf einen Prozess, auf Spielregeln und auf wichtige Meilensteine. Ich hatte ein Projekt einer Arealentwicklung in Berlin, bei der für das Gelingen des Entwicklungsprozesses eine Kooperationsvereinbarung mit sehr unterschiedlichen InteressensvertreterInnen erarbeitet werden musste. Die Vereinbarung war ein intensiver Arbeitsprozess und ein formaler Unterzeichnungsakt. Alle KooperationspartnerInnen haben sich verpflichtet den Prozess gemeinsam zu gehen, weil klar war, das das definierte Ziel anders nicht zu erreichen sein würde. Wir mussten während des Prozesses vermehrt an die Vereinbarung erinnern. Entscheidend war dabei, dass die involvierte Wohnungsbaugesellschaft bereit war, einen Richtungswechsel einzugehen und die Kontrolle an den Verein von BestandsnutzerInnen abzugeben. Dieser Verein entwickelte sich im Verlauf des Verfahrens in eine Genossenschaft weiter, die das Areal in einer genossenschaftlichen Selbstverwaltung betreiben wird. Die vorhandenen Nutzer wurden in diesem Prozess gestärkt und zu einem wichtigen Partner für die Wohnungsbaugesellschaft. Das sind kooperative Prozesse, die ohne den Dialog und den Rahmen der Beteiligung so nicht vollzogen werden könnten.
Ganz zentral finde ich auch, dass die öffentliche Hand und die Politik Haltung zeigen. Wenn ein Projekt politisch keinen Rückhalt hat, kann man einen noch so guten Beteiligungsprozess aufgleisen, man wird immer Schwierigkeiten haben, das Ziel in den entsprechenden Gremien zu vertreten. Und wenn sich die Gemeinde dazu bekennt, ist sehr viel möglich. Dann können auch Bebauungspläne oder bereits formulierte Ziele nochmals überprüft und geändert werden.
Ein weiterer wichtiger Erfolgsfaktor ist, dass Beteiligung Spass machen und ansprechend gestaltet sein sollte. Es darf nicht dieses langweilige Fragen-und-Formulare-ausfüllen sein. Kommunikation ist sehr wichtig, damit Partizipationsprozesse in der Öffentlichkeit wahrnehmbar werden. Es sollten vielfältige Dialogformate angewendet werden, die den Menschen Lust machen, über die aufgeworfenen Fragen und Themen zu sprechen. Das können digitale Umfragen, Gespräche, die direkt auf der Strasse geführt werden, oder grosse Veranstaltungen sein. Wichtig ist, dass nicht vorausgesetzt wird, dass alle Menschen Pläne lesen können. Das Ganze soll erlebbar und einfach verständlich gemacht werden, beispielsweise durch grosse begehbare Modelle. Wir sind zwar Fachleute für die Planung, aber die Bewohnenden und Nutzenden der Stadt sind Experten/innen in ihrem Lebens- und Arbeitsumfeld. Diese Alltagsexpertise ist sehr relevant für die Planung.
Oft ist auch die Einstiegsschwelle für Beteiligungsprozesse hoch. Zum Beispiel finden Veranstaltungen häufig am frühen Abend statt. Welche alleinerziehende Mutter hat dann Zeit an einem solchen Prozess teilzunehmen? Als logische Folgerung sollten «aufsuchende Formate» angeboten werden. Der Dialog sollte an den Orten stattfinden, über die wir reden. PolitikerInnen würden zum Beispiel in eine Wohnsiedlung vor Ort mit den Bewohnenden sprechen.
Wie geht ihr mit Sprachbarrieren um?
Wir setzen hier auf eine stark visuelle Kommunikation. Nicht nur wegen der Sprache, sondern auch, um das Ganze aus der Fachsprache rauszunehmen und auf das Wesentliche runter zu brechen. Das geht sehr gut über Bilder und Infografiken, häufig sammeln und übertragen wir Beteiligungsergebnisse in einem Wimmelbild. So übersetzten wir formulierte Ideen, Wünsche und Anforderungen aus der Beteiligung in ein Bild, mit dem Planende und ArchitektInnen gut weiterarbeiten können.
Wird sich die Partizipation in Zukunft ändern? Gibt es Trends, die beobachtbar sind? Hat die Pandemie die Partizipationsprozesse schon beeinflusst?
Natürlich hat sich Beteiligung in der Pandemie stark verändert. Wir haben vor einem Jahr, mit Beginn des ersten Lockdowns, sämtliche Partizipationskonzepte umgeschrieben und digitalisiert und haben auch viele neue Formate eingesetzt. Wir sind aber nach eineinhalb Jahren zu dem Schluss gekommen, dass der direkte Austausch mit Menschen und ihren Emotionen am Ende mehr Intensität hat, eine besser Qualität und ein besseres Ergebnis einbringt. Trotz alledem können digitale Beteiligungsmöglichkeiten andere Zielgruppen, wie zum Beispiel Jugendliche besser erreichen.
Eine weitere wichtige Entwicklung ist das direkte Erproben und temporäre (Um)gestalten, ein Experimentieren im Stadtraum im Sinne eines Reallabors, über dessen Ergebnisse öffentlich diskutiert wird. In Bern haben wir ein Handbuch für die Gestaltung und Nutzung des öffentlichen Raums erarbeitet. Da möchte die Stadt gerade bei grösseren und längeren Projekten auch schnelle, temporäre Massnahmen unterbringen. So kommt viel mehr Flexibilität und Agilität in einen Gestaltungsprozess. Das Geplante wird mit einfachen Mitteln erlebbar, dabei dürfen auch Fehler gemacht werden. Es entsteht ein lernender Planungsprozess, der Erkenntnisse in die Planung zurückspeist. Das verändert die Beteiligung wesentlich.