Zürich meets Berlin

Im Rahmen des Integrierten Standort- und Destinationsmarketings besuchte eine Delegation von Stadt, Zürich Tourismus und den Zürcher Hochschulen Berlin.

25. November 2024 – Die Stadt feiert 35 Jahre Mauerfall und ist doch gespalten wie je zuvor. Auch über dreissig Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es in der Berliner Verwaltung noch Ost- und West-Tarife. Dauert es im Schnitt zehn Jahre, bis ein Baugesuch bewilligt ist – ausser es handelt sich um Wohnraum für Geflüchtete. Und fehlt es allenthalben an finanziellen Mitteln für eine Haushaltführung, die den Bedürfnissen der Berliner*innen entsprechen würde – stattdessen muss die deutsche Hauptstadt bis 2026 ein Haushaltsdefizit von fünf Milliarden Euro ausgleichen. 

Sparen ist angesagt. Derjenige, der das durchpauken muss, ist der 45-jährige CDU-Politiker Stefan Evers, seit April 2023 Vize-Bürgermeister und Senator für Finanzen des Landes Berlin im Senat von Kai Wegner. Er hält dabei im Gespräch mit der Zürcher Stadtpräsidentin und ihrer Kollegin und ihrem Kollegen nicht zurück mit seinen Sorgen – der Austausch ist ehrlich, offen, dynamisch. Und durchaus auch mal selbstironisch.  

Die Zürcher Delegation und der Berliner Bürgermeister stehen auf einer Treppe in einem pompösen Gebäude.
Der Empfang der Zürcher Delegation: Stadträtin Simone Brander, Stadtrat Andreas Hauri, Stadtpräsidentin Corine Mauch, der Berliner Bürgermeister Stefan Evers, die Schweizer Botschafterin in Berlin Livia Leu und Anna Schindler, Direktorin der Stadtentwicklung Zürich (von links).

Er findet statt im Rahmen des Delegationsbesuchs der Offiziellen aus Zürich anlässlich von «Zürich meets Berlin 2024». Die jährliche Veranstaltung im Rahmen des integrierten Standort- und Destinationsmarketings (ISDM) hat die Vertreterinnen von Stadt und Kanton Zürich, von  Zürich Tourismus und den Zürcher Hochschulen Anfang November 2024 zum zweiten Mal nach Berlin zur Science Week geführt. 

Der Besuch bei Bürgermeister Evers ist dabei genauso wie das Gala Dinner in der Schweizer Botschaft und verschiedene Auftritte an Veranstaltungen der Science Week Teil des Programms, das die offizielle Delegation aus Zürich in Berlin erwartet. Sie nahm unter anderem an einem Podium zu «Megatrends in Real Estate» der ZHAW teil oder an einem «Deep Dive Forum» zur Bedeutung von KI für die Demokratie und das Wahlsystem. Letzteres bestritt das NGO AlgorithmWatch, das in Zürich und Berlin beheimatet ist.  

 

Ein Berliner Wohnquartier, vorne im Bild ein veloweg und daneben ein Schild: Höchstgeschwindigkeit zehn Stundenkilometer.
Der verkehrsberuhigte Kiezblock in Berlin-Kreuzberg. Hier gilt die Höchstgeschwindigkeit 10 Stundenkilometer.

Dazu kommen Austauschgefässe auf politischer Ebene, Kulturveranstaltungen – ein Konzertabend von Schweizer Bands mit Verbindungen nach Berlin im Aeden Club auf der Lohmühleninsel an der Spree und eine Lesung des Punk-Poeten Rocco Schamoni im Holzmarkt –, eine Fahrradfahrt durch Kreuzberg zum Erleben der autofreien, verkehrsberuhigten «Kiezblocks» und fachliche Diskussionen und Treffen zu einer Reihe von Themen, die Zürich genauso beschäftigen wie Berlin: Wohnen, Mobilität, Digitalisierung, Stadtentwicklung oder Drogenpolitik. 

Spree-Park, Flussbad-Campus, Dark Matter – eine Flussreise durch die alternativen Kulturorte Berlins 

Am nachhaltigsten geschieht das Verstehen einer anderen Stadt in Bewegung. Deshalb findet der grösste Teil des Delegationsprogramms vor Ort an allen Ecken von Berlin statt. Am Samstag früh geht es in den künftigen Spree-Park weit in den Osten. Ein ehemaliger Vergnügungs- und Freizeitpark mit bewegter Geschichte – bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschreibt Theodor Fontane den «Plänterwald» als geliebtes Ausflugsziel der Berliner*innen –, der einzige seiner Art in der ganzen DDR, wurde 2001 stillgelegt. 

Nur noch ein Gerüst eines Pavillons steht im verwilderten Park noch.
Der ehemalige Vergnügungs- und Freizeitpark verwildert und vermost. Bald entsteht hier ein neuer Park.

Er verwilderte; Karussell, Riesenrad, nachgebaute Dinosaurier und die Wasserrutschanlage vermoosten und verrosteten und wurden zur idealen Filmkulisse eines Urwalds mitten in der Stadt. 2016 dann beschloss die Stadt, den Park als Ort von «Kultur und Kunst in einzigartiger Stadtnatur» wieder aufleben zu lassen, 2023 wurde als erster Schritt der Biergarten am Eierhäuschen eröffnet. 

Neu gestaltet von Grün Berlin und dem Team der Uniola Landschaftsarchitektur aus Zürich und Berlin soll der Park 2026 seine Tore öffnen. Dann wird aus der eindrücklichen Baustelle, die noch den magischen Geist des verwilderten Parks und der Künstler*innen atmet, die ihn immer wieder in Besitz genommen und ihre Spuren hinterlassen haben, ein neues Erlebnis für Berliner*innen und Tourist*innen die Berliner Bevölkerung genauso wie für ihre Tourismusgäste. «Visitor Economy», wie sie Zürich Tourismus prägen will, «at its best». 

Ein tradtionelles deutsches Schilfdachhaus mitten in Berlin gerät zur Hommage an antike Maya-Tempel. 

Weiter Richtung Innenstadt liegt der «Flussbad-Campus» an der Spree. Auch dies ein besonderer Ort, der erst seit 2023 existiert. Gegründet und lanciert von Claus Sendlinger, der Anfang der 1990er Jahre die Dachmarke Design Hotels gegründet hatte und seither als Vordenker einer Branche gilt, die zunehmend unter Druck gerät. 

Sendlinger ist der Begründer von «Slowness», einer Bewegung, die auf der Förderung eines nachhaltigen Lebensstils und von Longevity (dem langen, gesunden Leben) aufbaut: «Wir bauen lokal verwurzelte Orte, die eine bewusstere Form der Gastfreundschaft bieten. Unsere Orte bieten keinen «Boxenstopp» abseits der Hektik des Alltags, sondern sollen Teil einer kontinuierlichen Reise sein, auf der wir lernen, in Harmonie mit der Natur, unserer Gemeinschaft und uns selbst zu leben.» 

Was reichlich spirituell klingt, wird im ersten Bauwerk der neu entstehenden Anlage auf dem Gelände des ehemaligen Städtischen Flussbads in Berlin-Lichtenberg spürbar: Das von der österreichischen Architektin Monika Gogl als Hommage an antike Maya-Tempel entworfene «Reethaus» wurde vom Time-Magazin zu einem der hundert schönsten Orte der Welt gekürt. 

Ein einstöckiger Betonbau wie aus den 70-er Jahren trägt ein grosses Strohdach.
«Einer der schönsten Orte der Welt»: Das Reethaus im Städtischen Flussbad in Berlin.

Das Dach aus getrockneten Schilfrohren wurde von Berlins letztem traditionellen Reetdachdecker von Hand gedeckt. Darunter befindet sich ein Retentionsdach aus Lavagestein, das den Regen auffängt und speichert. Das eingeschossige Gebäude ist so tief in die Erde gelegt, dass man sich fast auf Augenhöhe mit dem Wasser befindet.  

Entstanden ist ein wunderschön gearbeiteter Bau aus sinnlichen, starken Materialien – Holz, Schilf, Stein –, der eine fast sakrale Anmutung ausstrahlt. Diese kommt allen zugute: der Bevölkerung, die an Open House-Formaten die Klanginstallationen im Reethaus besucht, genauso wie den geladenen Gästen von Veranstaltungen im intimen Rahmen mit Weltkünstler*innen wie Nan Goldin, John Hopkins oder Jim Jarmusch.

Sendlinger will auf seinem Spree-Campus einen Ort für den internationalen Gast schaffen genauso wie für den Berliner, der einen gewissen Stil und Komfort sucht. Dies ist Gastfreundschaft, wie sie auch Zürich anstrebt.

Eine Grenze aus Lampions

Vom Flussbad ein paar Schritte quer über die Köpenicker Strasse liegt neben dem berühmten Berliner Club «Sysiphos», aus dem bereits am Samstagmittag unablässig Technobeats hämmern, die Kunstinstallation «Dark Matter». Die begehbaren raumfüllenden Lichtinstallationen des ursprünglich vom Bodensee stammenden Musikers und Künstlers Christopher Bauder (Whitevoid) schaffen Räume, in denen Realität und digitale Welt verschwimmen.  Zum Jubiläum der Mauer 2014 zog Bauder eine «Lichtgrenze» aus Lampions durch Berlin, nun bespielt er sein eigenes Museum. Auskommen muss er ohne Subventionen der öffentlichen Hand – zum Geheimtipp für die Sinne ist seine Anlage aber bereits weit über die Stadt hinaus geworden. 

An einem Fluss stehen auf der linken Seite Hochhäuser und Kräne, auf der rechten kleine, bunte Hütten und Sonnendächer.
Auf dem Holzmarkt in Berlin Friederichshain.

Wie Bauder ist auch Juval Dieziger Schweizer – aus Huttwil im Emmental. Und was heute in Fachkreisen als «nutzergetragene Stadtentwicklung» beschrieben wird, ist das, was der ehemalige Theaterschauspieler in langjährigem, kreativem Kampf mit und gegen Behörden, Planungsgesetze und Immobilieninvestoren auf dem 8100 Quadratmeter grossen Areal in Berlin-Friederichshain hat entstehen und wachsen lassen.  

Den Beginn machten der im Nu stadtweit bekannte Bar-Club «Bar 25» und sein Nachfolger «Kater Holzig» (heute «Kater Blau»). Die Idee für das Holzmarkt-Viertel entstand 2014, als die Berliner Stadtreinigungsbetriebe, denen das Grundstück gehörte, die Brache an der Spree zum Höchstpreis verkaufen wollte. Eine Gruppe um die Betreiber der «Bar 25» gründete eine Genossenschaft, um der Stadt ein alternatives Konzept für die Entwicklung Grundstücks vorzuschlagen. 

Berlin ist verloren zwischen Vergangenheit und Gegenwart, arm und wild, aber von einer fatalistischen Gelassenheit. Nichts funktioniert so richtig – und doch alles irgendwie. 

Statt dem grossangelegten Investorenprojekt einer Medienmeile am Fluss, «Mediaspree», wollten sie zusammen mit der Stiftung Abendrot aus Basel ein Kulturquartier bauen, das Ufer mit Schilf begrünen und zugänglich machen. Es begann mit Zelten, Techno und Luftballons – heute gibt es auf dem Gelände ein Theater, Restaurants und Bars, einen Klub und eine Kindertagesstätte, Kleingewerbe, Läden und Gemeinschaftsräume. Der Holzmarkt ist zu einem neuen Kulturort und Treffpunkt in Berlin geworden. 

Von den Holzbaracken zur Europa-City, von den Kiezblocks zum ehemaligen Flughafen Tempelhof, dessen Rollfeld seit 2010 von den Berliner*innen als grösster Park der Stadt in Beschlag genommen worden ist und dessen Flughafengebäude in seiner faschistischen Monumentalarchitektur niemanden unbeeindruckt lässt – Berlin ist verloren zwischen Vergangenheit und Gegenwart, arm und wild, aber von einer fatalistischen Gelassenheit. Nichts funktioniert so richtig – und doch alles irgendwie. Auch das ist ein Stück Geist, das sich nach Hause mitnehmen lässt. 

Anna Schindler