Freier durch Zürich rollen

Menschen, die im Rollstuhl oder mit Kinderwagen unterwegs sind, werden von Navigations-Apps oft zu unüberwindbaren Hindernissen geführt. Die Stadt und die Universität Zürich wollen die Stadt besser passierbar machen.

28. August 2024 – Ilse Singer* hat ihr Leben lang Kinderwagen und Rollstühle geschoben. Erst fuhr sie ihre Tochter und ihren Sohn im Kinderwagen herum, dann ihre Mutter im Rollstuhl. Später waren es ihre Enkel, die im Kinderwagen sassen und ihr Schwager, der im Rollstuhl war. Sie, die 74-Jährige, weiss aus Erfahrung, welche Hindernisse sich in den Weg stellen können, wenn jemand auf Rädern unterwegs ist. 

Diese Erfahrung haben Ilse Singer und weitere 24 Freiwillige im Projekt «ZüriACT: Zurich Accessible City» eingebracht. Dessen Ziel: Dass Personen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, besser durch die Stadt kommen. Dies ist heute trotz Routingdiensten wie Google Maps oder digitalen Karten nicht einfacher geworden – im Gegenteil: Die meisten dieser Dienste ignorieren Hindernisse und schlagen den Nutzer*innen unter Umständen Strecken vor, auf denen sie nicht ans Ziel kommen. 

Um diesen Missstand zu korrigieren, arbeiten die Stadt Zürich und die Universität Zürich zusammen. Zwischen Frühling 2023 und 2024 haben die Freiwilligen allein im Kreis 1 einerseits 9136 Hindernisse, gleichzeitig aber auch Vereinfachungen wie ein breites Trottoir erfasst. Mithilfe dieser Daten sollen Routingdienste Hindernisse bei der Streckenführung berücksichtigen können. Und mit den Erkenntnissen aus dem Projekt soll es für die Stadt einfacher werden, barrierefrei zu planen und zu bauen.  

«Die Pilotstudie sehen wir als wichtigen Grundstein, damit in Zukunft praktische Lösungen für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen entwickelt werden können.» Philipp Siegenthaler, Stadtentwicklung Zürich

Ermöglicht wird diese Zusammenarbeit durch den Innovationskredit, den Smart City von der Stadtentwicklung Zürich zukunftsweisenden Projekten vergibt. «ZüriACT zeigt eindrücklich, wie Betroffene aktiv in den Innovationsprozess einbezogen werden können», sagt Philipp Siegenthaler von Smart City der Stadtentwicklung Zürich. Er ist Projektleiter des Innovationskredits. Die Stadt erachte die Pilotstudie als wichtigen Grundstein dafür, dass in Zukunft praktische Lösungen für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen entwickeln werden können.

Mit grossem Umweg zum Ziel

Auch Ilse Singer ist schon angestanden, als sie sich von einem Routingdienst leiten liess. Sie schob eine Freundin im Rollstuhl den Limmatquai entlang zum Rathaus. Kurz davor führte die vorgeschlagene Strecke über die Strasse. Nur: Der Randstein war hier nicht abgeschrägt, sie kamen nicht weiter. Sie mussten zu einem Fussgängerstreifen zurückgehen, dort die Strasse überqueren und alles wieder zurücklaufen. 

Zwei ältere Frauen sitzen am Computer. Eine jüngere Frau unterstützt sie.
Projektleiterin Hoda Allahbakhshi (rechts) zeigt zwei Seniorinnen, wie sie virtuell Hindernisse aufspüren können.

Während solche Hindernisse für Menschen im Rollstuhl unüberwindbar sind, erkennen sie andere gar nicht als solche und gehen ungehindert weiter. Deshalb arbeitete Projektleiterin Hoda Allahbakhshi von der Digital Society Initiative und des geografischen Instituts der Universität Zürich mit Betroffenen zusammen. Es waren Personen darunter, die auf einen Rollstuhl oder einen Rollator angewiesen sind, blinde und gehörlose Personen, Eltern von kognitiv eingeschränkten Kindern oder von kleinen Kindern. So wurde ZüriACT zu einem sogenannten Citizen Science-Projekt, in dem Wissenschafter*innen mit Personen aus der Bevölkerung zusammenarbeiten. 

Das wird einen weiteren Vorteil mit sich bringen: Selbst, wenn einmal alle Hindernisse erhoben sein würden, würde die Liste nur von kurzer Dauer aktuell sein – bald wird wieder eine neue Baustelle eröffnet oder ein Trottoir aufgrund von Baumwurzeln aufplatzen. Der Datensatz muss also laufend aktualisiert werden; dabei können Freiwillige aus der Bevölkerung helfen. 

Eine Treppe ist unüberwindbar

Beim Projekt ZüriACT sind die Teilnehmer*innen nicht alle Wege selbst abgelaufen, sondern taten dies virtuell über die Plattform Sidewalk, ein Projekt der «University of Washington» bei Seattle; an diesem beteiligt sich Zürich als einzige Schweizer Stadt.  

Die Teilnehmer*innen sassen vor dem Computer, «gingen» ähnlich wie bei Google Street View durch die Strassen und suchten sie nach Hindernissen ab. Gleichzeitig gaben sie an, wie stark diese Hindernisse sie in der Realität eingeschränkt hätte. Wäre es noch passierbar gewesen oder hätten sie umkehren müssen?  

Eine karte von der Zürcher Innenstadt mit vielen verschiedenfarbigen Punkten. Jeder Punkt steht für ein Hindernis, jede Farbe für eine Kategorie.
Diese Hindernisse haben die Teilnehmer*innen in der Zürcher Innenstadt aufgespürt: Mangelhafte Fussgängerstreifen (gelb), Trottoirabsenkung (grün), fehlende Trottoirabsenkung (pink), kein Trottoir (lila), Hindernis im Weg (blau), schwer passierbare Oberfläche (orange), mangelhafte Ampel (grün), Absperrung (grau) oder andere (rot).

Bei einem Austausch unter den Teilnehmer*innen wurde auch offensichtlich: Was für die einen hilfreich war, war unter Umständen ein Nachteil für andere. Für blinde Personen etwa ist es am besten, wenn der Randstein zur Strasse hin so abgeschrägt ist, dass eine kleine Rille bleibt. Das erleichtert es ihnen, mit dem Stock den Übergang aufzuspüren. Für Personen hingegen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, ist es einfacher, wenn das Trottoir ohne Rille in die Strasse übergeht. So können sie am besten hinauffahren. Dieses Beispiel zeige, so sagt Hoda Allahbakhshi, wie divers schon diese Gruppe war und wie unterschiedlich die jeweiligen Bedürfnisse seien.  

Was sind die häufigsten Hindernisse im Kreis 1? Wie eine Online-Umfrage unter den Teilnehmer*innen ergab, sind es Treppen und alles, was sich auf einem Trottoir in den Weg stellt. Als grösste Hilfe empfanden die Proband*innen breite und gut unterhaltene Trottoirs und gute Strassenübergänge. Das zeigt die folgende Grafik:

Ilse Singer brauchte für diese Aufgabe nicht viel Vorstellungsvermögen – sie kannte alle Hindernisse aus Erfahrung: Baustellen, Stufen, Container, Zeitungsbündel. Knöpfe an Ampeln, die vom Rollstuhl aus unerreichbar sind; Trottoirs, die aufgrund von Baumwurzeln aufgeplatzt sind; Lieferwagen, die mitten auf dem Trottoir abgestellt wurden; Kopfsteinpflaster, insbesondere das alte Kopfsteinpflaster, das ihr so gefällt: «Da ist man schwer am Arbeiten, wenn man einen Rollstuhl schiebt», sagt sie, die noch voller Energie ist und gerade vom Golfen nach Hause gekommen ist. 

Die Stadt will noch inklusiver bauen

Wie geht es nun weiter? Nun, da die Daten im Rahmen des Projekts ZüriACT gesammelt sind, werden sie verifiziert. Danach dienen sie als Basis für weitere Forschungsprojekte, unter anderem für das Nachfolgeprojekt ZuReach und für die Forschung zur KI-gestützten Bilderkennung. Die Verantwortlichen prüfen zudem, wie diese Daten für Personen mit eingeschränkter Mobilität einfach nutzbar gemacht werden können. Zum Beispiel, indem sie in der App eines Routinganbieters künftig nicht mehr nur eingeben können, ob sie zu Fuss, mit dem Velo oder Auto unterwegs sind, sondern auch, ob mit Rollstuhl oder Kinderwagen. 

«Diese Daten werden uns helfen, die Stadt Zürich noch inklusiver zu gestalten», sagt François Rüttimann von Geomatik + Vermessung, der vonseiten der Stadt für das Projekt verantwortlich ist. Dabei wird den Planer*innen insbesondere die Einschätzung der Freiwilligen helfen, welche Hindernisse sie am stärksten einschränken. 

Und was nimmt Ilse Singer* aus dem Projekt mit? Ihr war schon zuvor bewusst, dass es für Menschen mit Einschränkungen schwierig ist, sich in der Stadt zu bewegen. Wie schwierig, wurde ihr erst im Laufe des Projekts bewusst: «Man beginnt, sich auf ganz andere Dinge zu achten», sagt sie. Sie wünscht sich, dass dies auch alle Planer*innen tun, damit sich Personen mit Einschränkungen künftig freier bewegen können.  

*Name geändert 

Janine Hosp

Aktuelles zum Projekt ZuReach erfahren Sie auf der Website der Universität Zürich. Personen, die an einer Teilnahme interessiert sind, können sich direkt bei Projektleiterin Hoda Allahbakhshi melden: zureach_info@dsi.uzh.ch.