Jung und ohne Stimme
22. April 2024 – In den vergangenen Jahren hat sich das Gesicht der Stadt Zürich grundlegend gewandelt; es wird immer jünger und immer internationaler. Der Altersmedian lag Ende 2023 bei 37,7 Jahren; das heisst, die eine Hälfte der Bevölkerung war älter, die andere jünger. Dazu trug vor allem eine Altersgruppe bei: die der 30- bis 39-Jährigen. Sie sind heute mit über 93’000 Personen die grösste Altersgruppe in Zürich; jede*r fünfte Zürcher*in gehört ihr an.
Die Verjüngung der Bevölkerung hat bereits 1993 eingesetzt: Seither hat sich der Anteil der 30- bis 39-Jährigen verdoppelt. Die Altersgruppe wächst primär durch Migrant*innen. Städte und ihre Einzugsgebiete wirken als Magnete für Zuwander*innen. Zürich ist eine «Arrival City» – sie zieht dank ihrer Wirtschaftsstärke jeden Zehnten an, der in die Schweiz kommt.
Weil aber der Wohnraum in der Stadt Zürich knapp ist, lassen sich zahlreiche Zuwanderer*innen im Umland nieder. So ist der Ausländeranteil in den Gemeinden am linken und rechten Zürichseeufer deutlich gestiegen. Das Kraftzentrum Zürich strahlt auch ins Zürcher Unterland sowie ins Limmattal und weiter in den Kanton Aargau aus.
So lebten Ende Februar 2024 in der Stadt Zürich 447 625 Menschen, davon 150 879 ohne Schweizer Pass, was 33,7 Prozent der Bevölkerung entspricht. 2023 wurden rund 42‘000 Zuzüge in die Stadt gezählt, davon rund ein Drittel Schweizer*innen und zwei Drittel aus dem Ausland. Die Hälfte davon kam aus dem EU/Efta-Raum – aus Deutschland, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich –, die andere Hälfte aus Drittstaaten oder als Geflüchtete aus Krisenregionen.
Vielfältig wie die Bevölkerung New Yorks
Lediglich 5,5 Prozent der 30- bis 39-Jährigen lebt seit der Geburt in Zürich, knapp 37 Prozent sind direkt aus dem Ausland hergezogen, knapp 58 Prozent aus der Schweiz. Entsprechend vielfältig ist diese Altersgruppe: Sie steht stellvertretend für eine Stadt, die sich mehrheitlich aus Minderheiten zusammensetzt – und erinnert damit an den Melting Pot New York (43,1 Prozent Weisse, 24,4 Prozent Afroamerikaner und Schwarze, 29 Prozent Hispanos oder Latinos, 13,7 Prozent Asiaten).
Was zieht die 30- bis 39-Jährigen nach Zürich? Es ist die Arbeit. In neun von zehn Fällen sind sie erwerbstätig und dies mehrheitlich Vollzeit und in akademischen Berufen. Sieben von zehn haben einen Tertiärabschluss, 30 Prozent verdienen in den oberen und obersten Lohnklassen. Das heisst, 50 Franken und mehr pro Arbeitsstunde.
Das gesellschaftliches Profil der 30- bis 39-Jährigen unterscheidet sich von jenem der anderen Altersgruppen: Sie sind in hohem Masse in den Arbeitsmarkt integriert, jedoch weitgehend von der demokratischen Mitsprache ausgeschlossen.
Die 30- bis 39-Jährigen bilden das wirtschaftliche und auch gesellschaftliche Fundament der Stadt. Sie sind in einem Alter, in dem man eine Familie gründet und sich niederlässt. Und dies trotz der hohen Mobilität.
Das gesellschaftliches Profil der 30- bis 39-Jährigen unterscheidet sich von jenem der anderen Altersgruppen. Sie sind in hohem Masse in den Arbeitsmarkt integriert, jedoch weitgehend von der demokratischen Mitsprache ausgeschlossen.
So stellen sie die städtische Gesellschaft vor eine grosse Herausforderung: Sie fühlen sich öfter als andere Altersgruppen «überhaupt nicht gut» durch Stadt- und Gemeinderat vertreten. Fehlende politische Rechte als Ausländer*innen führen sie vor allem an.
Auch auf dem Wohnungsmarkt kämpfen sie mit Hindernissen: In der Bevölkerungsbefragung der Stadtentwicklung, die seit 1998 regelmässig durchgeführt wird, zeigt die Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen die tiefste Zufriedenheit mit der aktuellen Wohnung. Die Mehrheit wünscht sich, dass in der wachsenden Stadt Zürich mehr Wohnraum geschaffen werde. Rund 40 Prozent nennen in der Bevölkerungsbefragung das Wohnungsproblem als eines der drei grössten Probleme in der Stadt.
All diese Faktoren zeichnen ein Bild, das die Stadt Zürich aufhorchen lassen muss. Was kann sie tun, damit sich die Angehörigen dieser wichtigen Altersgruppe hier zu Hause fühlen und Zürich zu ihrer (Wahl)Heimat machen? Was wünschen sich die mobilen, kosmopoliten Gutverdiener*innen von Zürich? Es stellt sich aber auch die Frage: Was kann die Stadt von ihnen einfordern? Was können sie Zürich zurückgeben, das die Stadt weiterbringt, die ein so virulentes Interesse an ihrer Integration hat?
So erleben 30- bis 39-Jährige die Stadt Zürich
Eine Stadt, die sich entwickeln will, muss Wege finden, die ein positives Engagement zwischen den Neuzugezogenen und den Ansässigen fördern und Konflikte abschwächen. Sie muss für Zugezogene Bedingungen schaffen, die ihnen den Einstieg ermöglichen, soziale Netzwerke stärken, für Gleichberechtigung sorgen und Fremdsprachigen das Erlernen der Sprache vereinfachen. Das alleinige Vermitteln von Wissen oder Regeln des Zusammenlebens genügt nicht. Eine Stadt braucht Teilhabe.
«Jede Stadtregierung wünscht sich, in ihrer Amtszeit einen lebendigen Mix von Dichte und Vielfalt schaffen zu können», sagt der kanadische Autor Doug Saunders, der sich in seinen Büchern den sozialen Veränderungen in den Städten durch die Migration widmet; Integration wird durch ein gemeinsames Engagement erreicht.
«Jede Stadtregierung wünscht sich, in ihrer Amtszeit einen lebendigen Mix von Dichte und Vielfalt schaffen zu können.» Doug Saunders, Autor
Auf städtischer Ebene gibt es neben den klassischen politischen Beteiligungsmöglichkeiten weitere Instrumente. Dazu zählen Elternbeiräte in den Schulen oder eine Beteiligung in Planungsverfahren über öffentliche Partizipationsverfahren. Diese gilt es im Sinn einer breiten Repräsentanz besser zu nutzen. Dafür müssen verschiedene Zugänge ermöglicht und bestehende Hürden abgebaut werden. Digitale Technologien können diese Prozesse sinnvoll erweitern.
Denjenigen eine Stimme zu geben, die im existierenden politischen System keine haben, ist eine grosse Aufgabe. Die Stadtentwicklung Zürich hat sich dieser bereits 2018 mit dem Projekt «ZRH 3039» angenähert und zu verstehen versucht, wie die grösste und diverseste Altersgruppe der Stadt lebt, denkt und sich ausdrückt. Die Erkenntnisse sind aktueller denn je.
Anna Schindler