Das Zürcher Adventswunder
20. November 2024 – Finster, matschig, unwirtlich und meist menschenleer. So trostlos präsentierte sich Zürich noch in den 1990er Jahren jeweils im Dezember. Wer konnte, flüchtete in die Berge oder verzog sich in die geheizten Einkaufszentren. Wintertourismus war praktisch inexistent.
Heute, drei Jahrzehnte später, wähnt man sich in einer anderen Stadt. Dank einer Vielzahl von Weihnachtsmärkten lebt die Innenstadt auch in der Adventszeit. Der englische «Guardian» nennt Zürich in einem Atemzug mit Christkindlmarkt-Hochburgen wie Nürnberg, Strassburg oder Wien. Und das US-Magazin «Forbes» kürte Zürich kürzlich sogar zu den «Seven Magical December Travel Destinations» auf der Welt.
Was ist da passiert? Die Geschichte des Zürcher Adventswunders wurde ermöglicht durch viel Herzblut und Privatinitiative, aber auch durch zentrale politische Entscheidungen.
Die Pionier*innen vom Niederdorf
Begonnen hat alles ganz klein und dort, wo Zürich am ältesten ist. Ende der 1970er Jahre entstand im Niederdorf der erste kommerzielle Weihnachtsmarkt. Es war ein reiner Warenmarkt mit drei Dutzend Ständen, die sich um den Hirschenplatz verteilten. Ganz dem Zeitgeist entsprechend, gab es neben Glühwein und Raclette auch ungarische Langos, Duftkerzen oder Lederwaren. Mit den Jahren breitete sich der «Dörfli» -Weihnachtsmarkt bis zum Grossmünster aus und heute besteht er aus 200 individuellen Lädeli und einem vielfältigen Rahmenprogramm.
Bis zur zweiten Gründung sollten dann fast zwei Jahrzehnte vergehen. 1994 begründeten private Betreiber den «Christkindlimarkt» im Zürcher Hauptbahnhof. In den ersten Jahren bestand er gerade einmal aus rund einem Dutzend Ständen. Inzwischen hat er sich zu einem der grössten Indoor-Weihnachtsmärkte Europas mit 120 Ständen entwickelt. Sein Markenzeichen ist der zehn Meter hohe und reich geschmückte Tannenbaum.
Vier Jahre später feierte dann der Singing Christmas Tree seine Premiere. Erstmals sangen Kinder auf einem hölzernen Christbaum auf der Pestalozziwiese vor dem Globus. Aufgrund des grossen Publikumsandrangs findet der Adventsklassiker seit 2006 auf dem grösseren Werdmühleplatz statt.
Endgültig aus dem Adventsschlaf geküsst wurde Zürich aber erst durch die Umnutzung von zwei grossen Plätzen an bester Lage: dem Sechseläutenplatz und dem Münsterhof. Voraussetzung dafür war der berühmte «historische Parkplatzkompromiss» für die Zürcher City von 1996. Damals beschloss der Gemeinderat das Parkhaus Opéra zu bauen, die beiden Plätze neu zu gestalten und sie zu autofreien Flanier- und Begegnungsorten für die Öffentlichkeit zu machen. 2014 entwickelte die Stadt ein Nutzungskonzept, und dabei fiel der strategische Entscheid, die beiden Plätze auch für Weihnachtsmärkte zu nutzen.
Eine unabhängige Untersuchung war zum Schluss gekommen, dass das Potenzial für Weihnachtsmärkte in Zürich noch entwicklungs- und ausbaufähig sei. Klar war aber auch, dass die neuen Märkte das bestehende Angebot ergänzen und dass sie sich von klassischen Christkindlmärkten unterscheiden sollten. «Zürich sollte kein zweites Nürnberg oder Strassburg werden, sondern etwas Eigenständiges und Urbanes entwickeln», sagt Daniela Wendland, Projektleiterin bei der Stadtentwicklung Zürich. «Die neuen Märkte sollten qualitativ hochstehend sein, einen klaren Bezug zu Zürich haben und zur touristischen und kulturellen Bereicherung beitragen.»
«Unser Vorteil war es, dass wir den Sechseläutenplatz ganz neu und nach unseren Ideen bespielen konnten.» Katja Weber, Co-Initiantin des Wienachtsdorfes
Den Zuschlag für das «Wienachtsdorf» auf dem Sechseläutenplatz erhielt ein Konsortium um Frau Gerolds Garten. «Die Vorzüge ihres Konzepts bestehen in der von keinem anderen Gesuch erreichten zeitgemässen ‹Zurichness› und der Kombination von weihnachtlicher Stimmung mit urbanem Flair», begründete die Stadt ihre Wahl. Die logistische Erfahrung hatte sich das Team um die Co-Initiantin Katja Weber bei Designmärkten, kleineren Weihnachtsmärkten und Food-Festivals geholt.
«Unser Vorteil war es, dass wir den Platz ganz neu und nach unseren Ideen bespielen konnten», erinnert sich Katja Weber. «Gleichzeitig standen wir vor der Herausforderung, auf diesem riesigen Platz eine weihnachtliche Atmosphäre zu schaffen». Entstanden ist das «Wienachtsdorf», das seither jedes Jahr bis zu einer halben Millionen Menschen anzieht. In 120 Markthütten bieten über 200 lokale Kleinstunternehmen ihre Waren feil. Dazu kommt ein abwechslungsreiches Kultur-Programm und das Elfendörfli für die Kinder. «Dass dabei auch Anrainer wie das Opernhaus oder Mascotte involviert sind, freut mich ganz besonders», sagt Katja Weber.
2019 startete schliesslich der Weihnachtmarkt «Von Zürich für Zürich» auf dem Münsterhof, den die Vereinigung Zürcher Spezialgeschäfte organisiert. «Wir wollten nicht die Berge in die Stadt bringen, sondern haben uns von Beginn weg urban positioniert», sagt Andreas Zimmerli, OK-Mitglied und Geschäftsleiter der familieneigenen Traditionspapeterie Landolt-Arbenz. Der Fokus des modern-eleganten Markts liegt auf lokalen Anbietern und dem Kulturzelt mit stimmungsvollen Konzerten und Workshops.
Wer geglaubt hatte, der Zürcher Weihnachtsmarkt sei damit gesättigt, sah sich getäuscht. In einer dritten Gründungswelle entstanden in den vergangenen Jahren sehr unterschiedliche Events. Beim Landesmuseums erleuchtete das Lichterfestival Illuminarium dessen Innenhof, in einigen Aussenquartieren etablierten sich lokale Wochenendmärkte, die Europaallee verwandelt sich in der Adventszeit in die «Zürcher Weihnachtsallee». Und oben auf dem Uetliberg bietet der Weihnachtsmarkt «Winterzauber» Street Food, Kerzenziehen und Eisstockschiessen.
Neue touristische Attraktion
Zehn Jahre nach dem wegweisenden städtischen Entscheid sind die Weihnachtsmärkte nicht mehr aus Zürich wegzudenken. «Die Innenstadt ist heute in der Adventszeit viel belebter», sagt Andreas Zimmerli, «und für die Anrainergeschäfte sind regelmässige, mehrwöchige Märkte viel attraktiver als einmalige Events wie das Jodlerfest oder die Rad-WM». Katja Weber betont: «Das Üppige zu zelebrieren, ist ja nicht typisch zwinglianisch, deshalb tun diese festlich geschmückten Märkte dem Image der Stadt gut». Und André Kofmehl, Gründer des «Singing Christmas Tree» und Präsident des «Verein Weihnachten in Zürich» stellt fest: «Die Weihnachtsmärkte sind zum Selbstläufer geworden, allein unseren Markt am Werdmühleplatz frequentieren jährlich bis zu 250'000 Besucher*innen».
Von dieser Ausstrahlungskraft weit über die Stadtgrenze hinaus profitiert nicht zuletzt der Tourismus: «Bis 2015 war Zürich nicht als Adventsdestination bekannt», sagt Michael Müller, Sprecher von Zürich Tourismus, «aber heute ist der Dezember in Sachen Übernachtungen ein überdurchschnittlich guter Monat.»
Die Weihnachtsmärkte sollen nicht zu Streetfood-Festivals mutieren. Sie sollen aber vermehrt Kriterien der nachhaltigen Ernährung berücksichtigen.
Zufrieden mit dieser Entwicklung ist man auch bei der Stadt Zürich. Das Ziel, die beiden Weihnachtsmärkte als wichtige Ergänzung des bestehenden Detailhandels- und Unterhaltungsangebots zu positionieren, wurde erreicht. Deren Weiterführung war daher auch politisch unbestritten, als 2023 die entsprechenden Richtlinien überprüft wurden.
Zwei wesentliche Anpassungen wurden aber vorgenommen: Zum einen wurde die 30 Prozent-Beschränkung des gastronomischen Angebots aufgrund der grossen Nachfrage aufgehoben. Die Weihnachtsmärkte sollen jedoch «nicht zu Streetfood-Festivals mutieren», wie es in den neuen Richtlinien heisst, stattdessen sollen «vermehrt Kriterien der nachhaltigen Ernährung berücksichtigt werden».
Zum anderen nutzt die Stadt die beiden Weihnachtsmärkte für ein Pilotprojekt zur Umsetzung von Mehrweg-Konzepten im öffentlichen Raum und bei Grossveranstaltungen. Vor dem Hintergrund des Netto-Null-Ziels bis 2040 hat sie neue Anforderungen zur Food-Waste-Bekämpfung und die Umstellung auf Mehrweg-Geschirr eingeführt.
Seither müssen sämtliche Pappbecher den Tassen weichen, die Einwegteller werden durch Mehrwegteller und -besteck ersetzt. Für die Betreiber*innen bedeutet das einen beträchtlichen Zusatzaufwand. Aber nicht nur die Umwelt, sondern auch ihre Gäste dürften es ihnen danken – denn aus der Tasse schmeckt der Glühwein noch besser als aus dem Pappbecher.
Michael Krobath