Alle sollen bleiben
22. April 2024 – Es ist ungewohnt ruhig geworden in den Quartieren Saatlen und Schwamendingen-Mitte. Über Jahre fuhren Tag für Tag 120'000 Autos und Lastwagen durch sie hindurch. Sie stanken, sie lärmten, sie verschmutzten die Luft. Nun aber liegt über der A1 ein grosser Deckel – ein Kilometer lang und dreissig Meter breit. Noch ist es weitgehend kahler Beton, aber bald wird der Deckel ergrünen und der grösste Hochpark der Schweiz sein.
Ganz ruhig ist es noch nicht in Schwamendingen. Ab und zu fahren Lastwagen zum Deckel, Fahrzeuge baggern an ihm. Längst haben aber Besitzer*innen von Immobilien im Einzugsgebiet abgeklärt, wie sie diese entwickeln können. Mittlerweile bestehen elf Entwicklungsvorhaben – neun davon stammen von gemeinnützigen Bauträgern, eines von der Stadt und eines – mit nur 15 Wohnungen – ist ein privates Projekt.
Niemand soll wegziehen müssen
Diese Entwicklung hat auch das Parlament im Auge – wenn ein Quartier repariert und dadurch attraktiver wird, steigen viele Mieten. Das Parlament will vermeiden, dass Ansässige wegen der Einhausung verdrängt werden und hat einen Sozialbericht bei der Stadtentwicklung Zürich in Auftrag gegeben. Diese kann mithilfe ihres Sozialraum-Monitorings unter anderem feststellen, aus welchen sozialen Schichten sich die Quartierbevölkerung zusammensetzt und Rückschlüsse ziehen, wie wahrscheinlich es ist, dass sie bleiben kann.
Auch an der Weststrasse wurde das Quartier schon repariert, indem die Strasse von einer Durchfahrtsachse zu einer Quartierstrasse abklassiert und 2010 umgebaut wurde. Zuvor hatten sich auch hier jeden Tag Tausende von Autos durch die Strasse gewälzt. Danach wurden etliche Häuser verkauft und renoviert. Bereits 2015 war ein Teil der Ansässigen ausgewechselt: Versteuerten im Jahr 2005 erst drei Prozent der Steuerpflichtigen ein Einkommen von über 100 000 Franken, waren es 2015 zwölf Prozent. Der Anteil jener mit einem tiefen oder sehr tiefen steuerbaren Einkommen hingegen war von 53 auf 42 Prozent gesunken.
Auch in Schwamendingen wohnen in den Häusern nahe der A1 überdurchschnittlich viele Personen mit tiefen und sehr tiefen Einkommen. Für sie, aber auch für ältere Bewohner*innen und für Familien ist es nicht einfach, auf dem freien Markt wieder eine geeignete Wohnung zu finden. Gerade Familien mit schulpflichtigen Kindern möchten möglichst im Quartier bleiben, damit sich ihre Kinder nicht von ihren Freund*innen verabschieden und in ein anderes Schulhaus gehen müssen.
Genossenschaften können ersatzneubauen
Dennoch sind die Voraussetzungen in Schwamendingen anders als an der Weststrasse, wie der Sozialbericht der Stadtentwicklung nun zeigt; in Schwamendingen gehören die meisten Siedlungen nahe am Deckel Genossenschaften. Viele haben andernorts schon Häuser abgebrochen und Ersatzneubauten erstellt. Dabei haben sie Vorgehen entwickelt, um dies sozialverträglich zu tun.
Genossenschaften planen langfristig, beziehen die Bewohner*innen ein, führen Mieter*innenbüros, bieten Ersatzwohnungen an. Wichtig ist auch, dass genügend subventionierte Wohnungen für Personen mit tiefen Einkommen zur Verfügung stehen. Bei Genossenschaften ziehen in der Regel deutlich weniger Bewohner*innen weg als bei privaten Eigentümern.
In Schwamendingen haben sich die Genossenschaften zudem in der «Vernetzungsgruppe Anrainer-Wohnbaugenossenschaften Ueberlandpark» zusammengeschlossen. Sie wollen einen besseren Austausch zu Entwicklungsprojekten ermöglichen und eine sozialverträgliche Umsiedlung in einem grösseren Rahmen angehen. Mit ihrer umfassenden Betrachtung und der gegenseitigen Zusicherung, dass keine Mieter*innen auf ihrem Gebiet verdrängt werden dürfen, nimmt die Vernetzungsgruppe im Raum Zürich eine Vorreiterrolle ein.
Viele Personen mit tiefem Einkommen finden innerhalb der Stadt wieder eine Wohnung.
In Schwamendingen werden schon seit einiger Zeit Häuser abgebrochen und neu gebaut; hier stehen viele Siedlungen, die zwischen 1940 und 1960 erbaut wurden und die heute positiv ausgedrückt über ein hohes Erneuerungspotenzial verfügen. Die Stadtentwicklung wollte deshalb wissen: Wo fanden jene Mieter*innen wieder eine Wohnung, die schon früher ausziehen mussten, weil ihr Haus abgebrochen wurde? Dafür analysierte sie die Daten für die Jahre 2017 bis 2021.
Im Kreis 12 mussten in dieser Zeit gut 800 Personen ihre Wohnung aufgeben. 72 Prozent von ihnen fanden wieder in der Stadt eine Wohnung, 22 Prozent sogar in der unmittelbaren Nachbarschaft. Dieser Wert ist höher als in der ganzen Stadt, wohl weil viele Projekte etappiert werden konnten.
Viele finden wieder in der Stadt eine Wohnung
Und wie präsentiert sich die Situation in der ganzen Stadt? Ein Drittel blieb nach dem Abbruch im Quartier, ein Drittel in der Stadt und ein Drittel zog aus der Stadt hinaus. Das zeigt: Mieter*innen, deren Haus einem Neubau weichen musste, sind nicht häufiger aus der Stadt gezogen als andere Zürcher*innen.
Die Stadtentwicklung wollte zusätzlich wissen, ob unter jenen Personen, die aus der Stadt gezogen sind, überdurchschnittlich viele Mieter*innen mit tiefen Einkommen waren. Dafür hat sie die Steuerdaten von 2011 bis 2015 ausgewertet. Es zeigte sich: Weder in der ganzen Stadt noch im Kreis 12 ziehen Personen mit tieferen Einkommen häufiger aus der Stadt als solche mit höheren. Hingegen sind mehr Personen mit tiefen Einkommen in ein anderes Quartier gezogen. Das heisst, diese finden nicht immer in der unmittelbaren Nachbarschaft eine andere Wohnung, aber in der Stadt. So findet keine Verdrängung aus der Stadt hinaus statt.
Sie freuen sich auf die Ruhe
Die Stadtentwicklung wertete für den Sozialbericht Ueberlandpark nicht nur statistische Daten aus, sondern befragte auch Personen mit einer Schlüsselfunktion im Quartier. Die Befragung zeigte, dass viele den Veränderungen positiv gegenüberstehen. Sie freuen sich vor allem auf die Ruhe. Sie hoffen aber auch, dass Schwamendingen aufgewertet wird und Personen mit höheren Einkommen und höherer Bildung zuziehen.
Eine Minderheit befürchtet, dass die Mieten steigen – auch wenn noch keine Entwicklungsprojekte im weiteren Umfeld des Ueberlandparks bekannt sind. In Einbezug aller Entwicklungen kommt der Sozialbericht aber wie bereits 2019 zum Schluss, dass die Voraussetzungen im engeren und weiteren Umfeld des Deckels grundsätzlich günstig sind.
Janine Hosp
So wird der grösste Hochpark der Schweiz aussehen
Zurzeit werden entlang der Einhausung Rampen, Treppen und Lifte erstellt. Auch der Park auf dem Deckel wird bereits möbliert – mit Bänken, Rutschbahnen, einem Pavillon oder mit einem grossen Brunnen. 2025 wird der Park eröffnet. Und dann geschieht, woran viele nicht mehr geglaubt hatten: Die beiden Quartiere Saatlen und Schwamendingen-Mitte, die während Jahrzehnten durch die Autobahnschneise getrennt waren, sind wieder miteinander verbunden. (jh)