Die Kinder erleichtern das Zusammenleben in der Schweiz

In ihrer Heimat bekämpfen sich ihre Staaten, in der Schweiz sitzen sie zusammen im Klassenzimmer. Das gehe, sagt Schulsozialarbeiter Agron Ibraj. Wenn die Eltern die Kinder nicht beeinflussten.

Weil Kinder aus zwei sich bekriegenden Staaten hier in der Schule aufeinandertrafen, sei es schon zu unschönen Situationen gekommen – weil die Eltern Einfluss genommen haben. Das sagte eine Schulleiterin an der Zürcher Migrationskonferenz. Beobachten Sie das auch?   

Es gibt Spannungen unter den Jugendlichen aus Kriegsgebieten, aber andere, als man erwartet. Ein Grund dafür ist, dass nicht alle Flüchtlinge dieselben Möglichkeiten haben. Die Ukrainer*innen zum Beispiel dürfen dank des Schutzstatus S arbeiten, die anderen nicht. Manche Ukrainer*innen sind auch finanziell gut gestellt. Sie fahren ihre Söhne und Töchter mit grossen Autos zum Jugendtreff und wenn sie dort eine Party organisieren, haben ihre Eltern schon für alles gesorgt. 

Und das sehen die anderen Flüchtlingskinder. 

Ja, gerade solche aus ärmeren Ländern wie Syrien, Afghanistan oder Pakistan strampeln mit dem Velo durch den Schnee. Manche von ihnen sind ohne Familie geflüchtet und leben allein in der Schweiz. Andere sind mit ihrer Familie gekommen und unterstützen mit ihrem wenigen Geld Verwandte im Heimatland. Manchmal habe ich tatsächlich auch den Eindruck, dass sich die Behörden mehr um ukrainische Kinder bemühen als um andere. Etwa wenn ich an den albanischen Jungen aus Italien denke, der sich mit der deutschen Sprache schwertut. Dann frage ich mich, ob er mit einer anderen Nationalität weniger unter Druck gesetzt würde.  

Oder mit einer anderen Religion? 

Die Religion spielt immer eine Rolle. 

Agron Ibraj

Agron Ibraj ist 1993 mit 23 Jahren aus dem Kosovo in die Schweiz geflüchtet. Er war Präsident des Jugendforums und hat sich politisch engagiert. So war er in den Fokus der serbischen Polizei geraten. Er war von 1993 bis Ende 2023 im Jugendbereich tätig. Von 2008 bis 2023 leitete er das Jugendzentrum der Offenen Jugendarbeit Zürich (OJA) für die Kreise 3 und 4 in Wiedikon. Heute ist er Schulsozialarbeiter in Pfäffikon/ZH. 

Und die Kriege im Nahen Osten? Führen sie zu Konflikten in der Schule? 

Zumindest bis heute merken wir nichts davon: Die Kinder jüdisch-orthodoxer Eltern besuchen jüdische Schulen, Palästinenser*innen können ihr Land gar nicht verlassen. Antisemitismus ist unter Jugendlichen aber schon länger ein Thema, nicht erst seit den Kriegen im Nahen Osten. Sie äussern sich gegen die Siedler*innen, machen antisemitische Sprüche, sprayen Hakenkreuze an die Wände. Das führte bei uns im Jugendtreff manchmal zu riesigen Diskussionen. Aber die erste Regel hiess: «Kein Rassismus!» Und das setzten wir kompromisslos durch, etwa mit einem Hausverbot. Es trifft Jugendliche hart, wenn sie sich nicht mehr mit ihren Freund*innen treffen können. 

Um auf die Aussage der Schulleiterin zurückzukommen: Würden die Jugendlichen ohne Einflussnahme der Eltern miteinander auskommen? 

Wenn Erwachsene so funktionieren würden wie ihre Kinder, gäbe es weniger Probleme – und das wäre die Rettung des Zusammenlebens in der Schweiz. Während des Kosovokriegs in den 1990-er Jahren zum Beispiel kamen viele Kinder und Jugendlichen vor ihren Eltern in die Schweiz und haben nicht so viel miterleben müssen wie diese; viele Eltern waren verfolgt worden, waren traumatisiert und in grosser Sorge um verschleppte Angehörige. 

Also machen die Eltern ihren Kindern in der Schweiz das Leben schwer. 

So kann man es sehen. Die Konflikte im Heimatland waren ein grosses Thema in den Familien, und viele Eltern wollten nicht, dass ihre Kinder mit Angehörigen einer Nation befreundet sind, die ihre Staatsbürger*innen tötete. Aber dadurch, dass die Jugendlichen weniger miterlebt hatten, spielte für sie die Nationalität eine untergeordnete Rolle. Wichtiger war für sie, ob jemand den FC Zürich oder die Grasshoppers unterstütze, ob er Hip Hopper oder Technofan war, ob er zu denen gehörte, die sich beim Bahnhof Wiedikon trafen oder am Bulllingerplatz. Es kam auch vor, dass sich eine Bosnierin und ein Serbe ineinander verliebten und ein Paar wurden. Das wäre bei den Erwachsenen nicht möglich gewesen.

Die Zürcher Migrationskonferenz

Die Zürcher Migrationskonferenz findet jedes Jahr im Herbst statt und wird von der Integrationsförderung der Stadtentwicklung Zürich organisiert. An der diesjährigen Konferenz diskutierten die Teilnehmer*innen darüber, welche Auswirkungen Konflikte und Kriege im Ausland auf das Zusammenleben der Migrant*innen aus den entsprechenden Ländern in der Schweiz haben. Dabei ging es – auch angesichts der Aktualität des Themas – um fachliche und nicht um politische Fragestellungen. Im Vordergrund standen Erfahrungen und Analysen zu früheren Konflikten. Wie haben sie sich auf die Diaspora in der Schweiz ausgewirkt und wie auf die ganze Gesellschaft? Was war hilfreich für das Zusammenleben? Die Migrationskonferenz fand am 12. September im Kunsthaus statt.  

Auch Sie sind in den 1990-er Jahren in die Schweiz geflüchtet. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit? 

Ich hatte im Jugendtreff oft mit geflüchteten Jugendlichen zu tun. Mit Jugendlichen, die keine Vorstellung davon hatten, wie ihre Zukunft aussehen könnte und die möglichst schnell zu Geld kommen wollten. Ich sagte ihnen jeweils: Ich war einmal in derselben Situation wie Du. Ich habe eine Ausbildung gemacht und kann heute für mich und für meine Familie sorgen. Es lohnt sich nicht, kriminell zu werden, es bringt Dich nicht weiter. Mein Beispiel zeigte ihnen, dass es möglich ist, hier in der Schweiz etwas aus sich zu machen und das gab ihnen Mut. 

An der Migrationskonferenz betonten Redner*innen, wie wichtig es ist, dass Lehrer*innen oder Sozialarbeiter*innen neutral sind. Sie gehören selbst einer betroffenen Nation an. Können Sie neutral sein? 

Die kosovarischen Jugendlichen sagten mir manchmal, ich sei strenger mit ihnen als mit den anderen. Offenbar habe ich sie nicht bevorteilt. Für eine Gruppe setzte ich mich aber ein: für die Mädchen. Wir hatten im Jugendtreff stets ein Auge darauf, dass sie nicht zurückgedrängt wurden. Ich habe auch immer wieder das Gespräch mit Vätern gesucht, damit die Mädchen dieselben Chancen bekamen wie ihre Brüder. 

Heute können sich Jugendliche über die sozialen Medien einfacher informieren, was in ihrer Heimat geschieht. Und nicht immer stimmt es, was sie dort lesen. Welchen Einfluss haben die sozialen Medien? 

Ich denke, dort verlaufen die Grenzen weniger zwischen den Nationalitäten als vielmehr zwischen den Anhänger*innen verschiedener Gruppierungen wie etwa Fussballclubs. Aber ich schaue dort nicht allzu oft hinein. 

An der Migrationskonferenz sagte der frühere Gewerkschaftspräsident Vasco Pedrina, dass er sich auf das Einigende statt auf das Spaltende konzentrierte. Auf die Arbeitsbedingungen. Was einigt die Jugendlichen? 

Der erste Schritt ist, sich gegenseitig zu respektieren. Nur so können Jugendliche friedlich nebeneinander ihre Freizeit verbringen und auch einmal zusammen etwas unternehmen. Wir hatten einige Regeln in unserem Treff, die wir konsequent durchsetzten: Alle sind willkommen, gleichgültig, woher jemand kommt und wie er oder sie sich sexuell orientiert. Wir gehen fair und respektvoll miteinander um und wir tolerieren keine Gewalt. Die Jugendlichen wussten: Hier kann ihnen nichts passieren, hier sind sie sicher. So konnten wir ein Wir-Gefühl schaffen, ein Gefühl, dass wir eine Familie sind. 

Das Interview führte Janine Hosp