«Es geht um die Seele unserer Stadt»

Markus Freitag und Johnny Eisenhut, Gründer der «Made in Zürich Initiative», über das Revival der urbanen Produktion.

14. Juni 2024 – Ein Industrieunternehmen nach dem anderen hat die Stadt in den letzten Jahrzehnten verlassen und nun erlebt die urbane Produktion in Zürich ein Revival. Wie ist das möglich? 

Eisenhut: Drei Entwicklungen sind dafür entscheidend: Erstens ermöglichen die Automatisierung und die Digitalisierung neue Fertigungsmethoden, die weniger Platz brauchen und weniger Lärm machen. Zweitens steigt in den grösseren Städten die Nachfrage nach hochwertigen und nachhaltigen Produkten. Und drittens können hier auch kleinere Firmen dank den spezialisierten Arbeitskräften die Entwicklung, Verarbeitung und Vermarktung ihrer Güter bewerkstelligen. Hinzu kommt, dass die Stadt im Umbruch ist: Ladenflächen verschwinden, Büros stehen leer. Kurz: Es macht wieder Sinn, in der Stadt zu produzieren. 

Sie lancierten vor rund sechs Jahren die «Made in Zürich Initiative». Der Name klingt nach einer Label-Kampagne für das produzierende Gewerbe, das zurückkehrt in die Stadt. 

Eisenhut: Das war tatsächlich der ursprüngliche Gedanke. Aber sehr schnell haben wir realisiert: Der wachsenden Kreativwirtschaft fehlt eine Stimme, das Bedürfnis nach Austausch und Vernetzung ist gross. Deshalb ist die «Made in Zürich Initiative» mehr als nur ein Label; es ist eine Plattform, die urbane Produktivist*innen jeglicher Couleur vereinigt. Inzwischen haben wir 160 Mitglieder, von Mode- und Möbelmacher*innen, Seifensieder*innen und Foodkönig*innen bis zu High-Tech-Firmen und Industriebetrieben.  

Die Stadt hat die Initiative von Beginn weg unterstützt. Wie kam es dazu? 

Freitag: Als wir 2017 den Verantwortlichen der Stadtentwicklung unsere Ideen präsentierten, rannten wir offene Türen ein. Denn die Stadt hatte kurz zuvor die Förderung der urbanen Produktion zu einem Strategieschwerpunkt erklärt. Die finanzielle Unterstützung der Stadt hat uns schliesslich den nötigen Schub verliehen, um loslegen zu können. Die Stadtentwicklung ist bis heute im Vorstand vertreten und hilft uns tatkräftig mit Knowhow und Inputs. Ohne die Stadt gäbe es diese Initiative vermutlich nicht. 

 

Zu den Personen

Markus Freitag und Johannes Eisenhut sind Mitgründer und Vorstandsmitglieder der «Made in Zürich Initiative». Der Designer und Unternehmer Markus Freitag (54) gründete 1993 mit seinem Bruder Daniel die Firma FREITAG, deren Taschen aus gebrauchten LKW-Planen auf der ganzen Welt verkauft werden. Johannes Eisenhut (52) ist Geschäftsführer der Senn Development AG, die innovative Immobilienprojekte entwickelt wie derzeit das Koch-Areal in Zürich, das Areal Stettbach Mitte oder den Switzerland Innovation Park Basel.  

Zu Ihren zentralen Forderungen gehören zahlbare Produktionsräume mit Ladenflächen. Weshalb ziehen die Produzierenden nicht einfach in die günstigere Agglomeration? 

Eisenhut: Es geht uns nicht nur um die Firmen, sondern um eine Vision für unsere Stadt. Die Corbusier-Idee einer Trennung von Wohn- und Arbeitsstadt ist aus Nachhaltigkeitsgründen obsolet geworden. Produktions- und Gewerberäume in den Städten reduzieren den Verkehr, weil weniger UPS-Lastwagen und Handwerker-Lieferwagen täglich in die Zentren hineinfahren und die Strassen verstopfen. Zudem verhelfen sie der Stadt zu einer diversifizierteren Wirtschaft und einem breiteren Arbeitsplatzangebot. 

Freitag: Es geht aber auch um die Seele und um die Identität unserer Stadt. «Zürich hat mehr Kapital als Kapital» – das war unser erster Claim. Eine ganzheitliche, lebendige Stadt sollte nicht nur aus Büros, Wohnraum und Spielplätzen bestehen. Sie sollte ihre Infrastruktur selber erhalten und reparieren können. Deshalb sollte sie den lokalen Start-ups das Leben nicht schwer machen, sondern vielmehr stolz auf sie sein. Ein gutes Beispiel ist Moritz Güttinger, Gründer des erfolgreichen Kaffeemaschinenherstellers Zuriga. Seine Firma heisst nicht nur wie die Stadt, Güttinger stammt auch von hier und er will nicht weg – obwohl er anderswo billiger produzieren könnte. 

Der Vorstand der «Made in Zürich Initiative»: Günther Arber, Stadtentwicklung Zürich; Fränzi Akert, Garçoa; Johannes Eisenhut, Senn Resources AG; Markus Freitag, FREITAG lab. ag; Tobias Schär, Genossenschaft Veloblitz; Mika Lanz, mikas – stadt.fleisch.wurst; Sandra Schmid, ddrobotec, Präsidentin.

Für welche Industrien eignet sich der Produktionsstandort Zürich? 

Freitag: In erster Linie für Firmen, die ihre Kundschaft in der Stadt haben und hochwertige Produkte erzeugen. Dazu gehören etwa Bierbrauer*innen oder Foodhersteller*innen. Aber auch alle anderen Produzent*innen, die ihre Waren auf einer überschaubaren Fläche herstellen und direkt verkaufen können. Im Idealfall bilden sich Cluster von Unternehmen mit ähnlichen Bedürfnissen. So können sie Synergien nutzen. Kleinbrauereien etwa, können sich eine teure Abfüll-Anlage teilen, holzverarbeitende Firmen den Maschinenpark.  

 «Wir sollten die Stadt neu denken und Zonen für die urbane Produktion in der Innenstadt und in den Misch- und Wohngebieten entwickeln.» Johnny Eisenhut

Welche Räume eignen sich dafür besonders gut? 

Eisenhut: In erster Linie natürlich die alten Industrieareale wie die Geroldstrasse und das Escher-Wyss-Areal. Aber auch das Areal der Rheinmetall Air Defence in Zürich-Nord und der Schlachthof; 2030 stellt dieser den Betrieb ein. Die Stadt prüft zurzeit, wie er künftig genutzt werden kann. Wir sollten die Stadt neu denken und eigene Zonen für die urbane Produktion in der Innenstadt und in den Misch- und Wohngebieten entwickeln.

Erste Beispiele von urbanen Werkplätzen sind der Supertanker, ein umgenutztes Lagerhaus in der Binz. Und die «Werkstadt Zürich» in den denkmalgeschützten SBB-Werkstätten. 

Freitag: Ja, das ist ein grossartiger Arbeitsort, wo ich für die Entwicklung meines Cargobikes FLINC selbst eingemietet bin. Die SBB legen Wert darauf, dass sich dort Firmen ansiedeln, die sich ergänzen und die Idee der Kreislaufwirtschaft umsetzen. So produziert etwa «FluidSolids» neue Kunstoffe aus Abfall und die Transa Reparatur-Werkstatt flickt Outdoor-Ausrüstungen.  

Eisenhut: Apropos Kreislaufwirtschaft: Markus und sein Bruder Daniel Freitag haben diese in den 90-er Jahren mit ihren Taschen aus LKW-Planen sozusagen erfunden. Umso mehr freut es uns, dass Zürich kürzlich als erste Schweizer Stadt eine Strategie zur Kreislaufwirtschaft verabschiedet und uns das Thema anvertraut hat. Es gibt der «Made in Zürich Initiative» eine wichtige Aufgabe über den ursprünglichen Gründungszweck hinaus. Die gehen wir mit Elan an.  

Eine grosse und nun völlig leere Industriehalle.
Wo die SBB früher Züge überholten, können künftig Events stattfinden. Die «Werkstadt Zürich» in Altstetten

Die Firma FREITAG hat ihren Sitz nicht in einer alten Industriehalle, sondern im Noerd, dem ersten Gewerbehaus für die Kreativwirtschaft in Oerlikon. Wie kam das? 

Freitag: Als wir 2011 das Maag-Areal verlassen mussten, wollten wir unbedingt in der Stadt bleiben. Da sind wir zufällig auf das Bauland von OC-Oerlikon gestossen, welches die Firma rasch abstossen wollte. Die Immobilienentwicklerin Senn hat es gekauft und nach unseren Vorstellungen gebaut. Im Gegenzug haben wir uns mit der Kreativagentur Aroma zusammen für zehn Jahre als Mieter*innen verpflichtet. Erfreulicherweise sind uns weitere urbane Produzent*innen gefolgt, und das obwohl Oerlikon nicht besonders hip war. 

Wieso ist Senn auf dieses Bauprojekt eingestiegen? Klassische Büros oder Wohnungen wären vermutlich weniger riskant und lukrativer gewesen? 

Eisenhut: Weil wir das Potenzial erkannt haben. Projekte mit langfristigen Ankermieter*innen sind auch für uns als Investorin interessant. Im Prinzip ist es eine Win-win-Situation: Bisher stellten Investor*innen oft einen Betonkasten hin und hofften, geeignete Unternehmen zu finden. Heute streben sie von Anfang an Planungssicherheit und zufriedene Mieter*innen an. Und diese wiederum erhalten bedürfnisgerechte Räume. Das ermölicht es ihnen, in der Stadt zu bleiben.

 «Zürich ist nicht nur ein Dienstleistungs- und Schlafort, sondern eben auch ein urbaner Werkplatz.» Markus Freitag

Wurde die «Made in Zürich Initative» schon für die Planung von Neubau-Projekten angefragt?  

Eisenhut: Das ist unsere Vision. Ein erster Erfolg ist, dass uns die Stadt bei der Entwicklung des Schlachthofs einbezieht. Private Immobilienbesitzer*innen haben uns schon angefragt, ob unsere Mitglieder allenfalls an der Miete ihrer neuen oder renovierten Gebäude interessiert wären. Das ist gut. Aber noch besser wäre, wenn sie uns vor Baubeginn kontaktieren würden. 

Und was kommt als Nächstes?  

Freitag: Am 28. September findet wieder unser «Tag der Urbanen Produktion» statt, ein Event, der sich bereits zum Klassiker entwickelt hat. Unsere Mitglieder öffnen ihre Produktionsräume für das interessierte Publikum, und wir planen spannende Veranstaltung zur Kreislaufwirtschaft. Zudem suchen wir fieberhaft nach einem neuen Standort für unsere Organisation. Ideal wäre ein auffälliges Gebäude an zentraler Lage. Eine Art Leuchtturm, der allen Menschen in der Stadt signalisiert: Zürich ist nicht nur ein Dienstleistungs- und Schlafort, sondern eben auch ein urbaner Werkplatz. 

Das Interview führte Michael Krobath

Die Stadt fördert den Werkplatz Zürich

Die Stadt Zürich setzte in der Legislatur 2018 bis 2022 einer ihrer Schwerpunkte auf die  Förderung des urbanen Werkplatzes. In diesem Zusammenhang hat die Stadtentwicklung Zürich zusammen mit Partnern aus der Privatwirtschaft den Verein «Made in Zürich Initiative» ins Leben gerufen. Sie leistete eine  Anschubfinanzierung und ist heute Sparringpartnerin der urbanen Produzent*innen.