Die Stimme der Ausländer*innen
24. Mai 2024 – «Ausländische Menschen sind nicht per se darauf aus, in einer Bubble zu leben. Ich spüre vielmehr den grossen Willen, hier mitzuwirken und selbstbestimmt leben zu wollen.» So kontert Marianne Charaf die Frage nach dem mangelnden Integrationswillen der Expat-Community, die in der Öffentlichkeit zunehmend diskutiert wird. Schliesslich ergäben sich aus der Mitwirkung auch Vorteile: Bessere Karrierechancen, mehr Bildungsmöglichkeiten, ein grösseres Netzwerk.
Sie ist das beste Beispiel dafür. Die Wirtschaftsinformatikerin engagiert sich seit 2018 im Ausländerinnen- und Ausländerbeirat der Stadt Zürich und ist seit 2022 auch dessen Co-Präsidentin gemeinsam mit der ursprünglich aus Mexiko stammenden Ledesma Alba Chantico.
Der Beirat (siehe Box) ist quasi die offizielle Stimme der Ausländer*innen, deren Anteil sich mittlerweile auf über 33 Prozent der ganzen Bevölkerung beläuft, bei den 30- bis 39-Jährigen sind es gar fast 50 Prozent. Zudem steht der beirat dem Stadtrat beratend zur Seite. «Solange es kein Stimm- und Wahlrecht für Ausländer*innen gibt», sagt sie, «ist es die einzige Möglichkeit, sich als Ausländer*in an der lokalen Politik zu beteiligen».
Die zwei Seiten der Integration
Marianne Charaf kam 2014 in die Schweiz und lebt mit ihrer Familie in Oerlikon. Die Stadt hat es ihr angetan, und sie ist gekommen, um zu bleiben. «Zürich bietet die perfekte Mischung von Vielfalt, Modernität und Sicherheit», schwärmt sie. Viele Lebensentwürfe seien hier möglich, das Kulturleben sei divers, die Stadt kreativ.
Verheiratet mit einem Schweizer und Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern, arbeitet sie im Vollzeitpensum für ein IT-Unternehmen im Technopark. Als Partnerin und Mitbesitzerin der Firma Itopia unterstützt sie Kund*innen bei der digitalen Transformation.
Woher nimmt sie noch die Energie für ihr Engagement im Beirat? «Ich will mithelfen, das grosse Potenzial der Ausländer*innen besser auszuschöpfen», erklärt sie. Integration habe zwei Seiten: Hart zu arbeiten und selber etwas zu leisten, um die eigenen Talente zu nutzen. Die Ausländer*innen brauchten dabei aber auch Unterstützung. Menschen und Organisationen, die ihre Anliegen ausdrücken können und die gehört werden. Und genau das leiste der Ausländerinnen- und Ausländerbeirat.
«Ich weiss, wie hart es ist, wenn man kein Wort versteht und bei null anfangen muss.»
Was es bedeutet, in einem fremden Land neu anzufangen und welche Hürden es dabei zu überwinden gilt, hat sie selber erlebt. Mit 14 Jahren kam sie mit ihrer Familie von Bolivien nach Deutschland. Zu sechst wohnten sie in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Um Geld mitzuverdienen, trug sie Zeitungen aus und arbeitete in den Ferien in der Fabrik. In der Schule musste sie mangels Deutschkenntnissen zwei Klassen weiter unten einsteigen.
Zwölf Jahre später hat sie nicht nur das Abitur und ein abgeschlossenes Magister-Studium in der Tasche, zusätzlich macht sie auch gleich noch einen Promotionsabschluss in Wirtschaftsinformatik – und dies mit summa cum laude. «Ich weiss, wie hart es ist, wenn man kein Wort versteht und bei null anfangen muss», sagt sie. Deshalb verstehe sie sich im Beirat auch nicht als Vertreterin der gutausgebildeten Expats: «Ich habe den Anspruch, die ganze Vielfalt der Ausländer*innen zu vertreten.»
Wenn Marianne Charaf erzählt, tut sie dies in einem gewählten Bühnendeutsch. bereits als Teenager habe sie realisiert, dass sie nur dann eine Chance auf eine erfolgreiche Karriere hat, wenn sie ihren Akzent loswird. «Also habe ich dafür enorm viel Zeit investiert. Ich bin in den Park gegangen, ganz allein. Dort habe ich mir laut Bücher vorgelesen und so meinen deutschen Akzent eingeübt.»
«Sprache ist mein Hauptthema. Sprache ist der Schlüssel zur Integration», sagt sie. Sprache sei die Türöffnerin im Berufs- und im Privatleben. Denn nur wenn man die Sprache beherrsche, könne man sich als Migrantin zu Wort melden und werde gehört. Nur so habe man die Wahlfreiheit, in welchem Unternehmen man arbeiten möchte. Und nur so verstehe man seine eigenen Kinder, wenn diese plötzlich in der Landessprache antworteten – denn das werde mit Sicherheit passieren.
Die Schweiz schöpft das Potenzial der Ausländer*innen nicht aus. Dadurch entgehen der Volkswirtschaft 20 bis 30 Milliarden Franken pro Jahr.
Das Thema Sprache spielt denn auch eine zentrale Rolle bei ihrer Tätigkeit im Beirat. Dieser widmet sich in der laufenden Legislatur den drei Fokusthemen «Bildungsgerechtigkeit», «berufliche Integration» und «friedliches Zusammenleben».
Die Schweiz hat ein Problem mit der Bildungsgerechtigkeit. Das sagt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. Der Bildungsweg und damit die Karriere hängen von der Sprache ab, aber auch von der sozialen Herkunft und davon, ob die Eltern studiert haben oder nicht. Eine neue Studie hat die volkswirtschaftlichen Folgen dieses unausgeschöpften Potenzials für die Schweiz beziffert: Es geht um 20 bis 30 Milliarden Franken jährlich.
«Wir müssen Barrieren für die Chancengleichheit beseitigen, damit wir Talente fördern können», ist Marianne Charaf überzeugt. Zu den Barrieren gehört, dass Eltern mangelhaft informiert werden, Vorbilder fehlen oder die Weichen für den Eintritt ins Gymnasium nicht früh genug gestellt werden. Die Prüfung sei im Kanton Zürich ohne teure Vorbereitungskurse kaum mehr zu schaffen, was leistungsstarken Schüler*innen aus schwachen soziökonomischen Verhältnissen den Zugang erschwere, sagt Charaf.
Aber auch in der Primarschule müssten Barrieren abgebaut werden. So würden etwa viele Migrantenkinder – aber auch schlechter gebildete Schweizer Schüler*innen – in Mathematik-Prüfungen scheitern, obwohl sie die Lösungen eigentlich wüssten. Aber sie verstehen die Fragen nicht richtig. «Wir sind keine Bildungsexperten, aber wir wollen für diese Themen sensibilisieren, damit Lösungen gesucht werden», sagt Marianne Charaf.
Mehr Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen
Um Chancengleichheit geht es dem Beirat auch bei der beruflichen Integration. Im Vordergrund steht dabei die Forderung nach mehr Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen. «Klar hat nicht jeder automatisch das Recht, in seinem angestammten Beruf zu arbeiten», sagt Marianne Charaf, «aber es gibt verschiedene Berufe, bei denen die Akzeptanz ausländischer Diplome nicht nur inhaltlich gerechtfertigt wäre, sondern auch dem Fachkräftemangel entgegenwirken könnte». Hilfreich wäre es zudem, wenn die Stadt und die Wirtschaft mehr Info-Veranstaltungen und Praktika für Berufseinsteiger*innen anbieten würde.
Für uns Ausländer*innen sind Menschen wichtig, die an uns glauben. Die uns eine Chance geben.
Und was verbindet der Beirat mit dem Fokusthema «Friedliches Zusammenleben»? «Grundsätzlich erlebe ich in Zürich eine grosse Offenheit gegenüber Ausländer*innen und Fremdsprachigkeit», sagt die Präsidentin.
Und doch gebe es weiterhin Rassismus und Diskriminierung. «Deshalb ist es wichtig, miteinander zu reden und einander zuzuhören. Nur so werden Vorurteile abgebaut», ist sie überzeugt. Dies gelte durchaus für beide Seiten, denn auch viele Ausländer*innen seien gegenüber den Einheimischen voreingenommen. «Friedliches Zusammenleben bedeutet jedoch nicht, dass die anderen mir gleichgültig sind», ist sie überzeugt, «sondern, dass ich die anderen respektiere.»
Dann steht bereits der nächste Termin an. Marianne Charaf ist für den Ausländerinnen- und Ausländerbeirat an mehreren Tagen pro Monat unterwegs. Optimistisch und voller Elan kämpft sie dort für eine Stadt, in der die Menschen «von den besten Absichten ihres Gegenübers ausgehen». Zum Abschied äussert sie ihren Wunsch an die Zürcher Bevölkerung: «Für uns Ausländer*innen sind Menschen wichtig, die an uns glauben. Die uns eine Chance geben und die uns helfen», sagt sie. Und manchmal helfe auch schon ein Lächeln.
Michael Krobath
Der Ausländerinnen- und Ausländerbeirat der Stadt Zürich
Der Beirat ist eine beratende Kommission des Stadtrats. Er vermittelt dem Stadtrat Anliegen und Bedürfnisse der ausländischen Wohnbevölkerung, leistet Beiträge zugunsten der Integration und setzt sich für ein gutes Zusammenleben ein. Der Rat existiert seit 2005 und ist dem Fachbereich Integrationsförderung der Stadtentwicklung im Präsidialdepartment angegliedert. Aktuell besteht er aus 25 Personen aus zwanzig verschiedenen Nationen, die meist in migrantischen Vereinen und Institutionen aktiv sind. (MK)