Sie sind in Zürich angekommen. Und jetzt?

Gut ausgebildet, nicht deutschsprachig, neu in der Stadt: Die Integrationsförderung bietet zugezogenen Frauen Orientierung und erste Kontakte.

14. Juni 2024 – Sie sind neu in Zürich. Ihr Beruf war ihre Identität, sagt jemand – bis sie weggezogen ist. Und jetzt? Auch die anderen Frauen, eine Architektin, eine Neuropsychologin und eine Studentin, eine Zahnärztin und eine Pflegefachfrau, eine Lehrerin und eine Sozialpädagogin, diskutieren, was ihnen Arbeit bedeutet und wie gesellschaftliche Anerkennung damit zusammenhängt. In der deutschsprachigen Gruppe des Integrationskurses «In Zürich leben» dreht sich heute alles um Beruf und Arbeit. 

Wer aufbricht, fällt Entscheide, nimmt Abschied, sieht eine neue Zukunft vor sich und weiss, wann es losgeht. Abreisen hat feste Zeiten. Beim Ankommen hingegen mögen die Dinge schnell ihren Platz finden und der Alltag seine ersten Abläufe. Doch wann ist man angekommen? Und wo ist man gelandet?   

Passte sich eine Person an, galt sie als integriert

Ausgerichtet von der Integrationsförderung der Stadt Zürich hat der Kurs eine lange Geschichte. An diesem Mittwochmorgen im Frühsommer zeichnet die Projektverantwortliche Cristina Büttikofer-Beltrán nach, was es heisst, mit der Zeit zu gehen, wenn man von Integration spricht. Unter dem Begriff habe man vor dreissig, vierzig Jahren Assimilation verstanden. Das Stichwort hiess damals Anpassung an hiesige Gegebenheiten, die man als festgeschrieben ansah.  

«Heute geht es vielmehr darum, dass sich Menschen in der Stadt Zürich zu Hause fühlen. Und Zürich ist von Diversität geprägt. Wer sind die Schweizer*innen, wer sind die Zürcher*innen?», fragt die energetische Frau mit dem raschen Schritt und den schnellen Gedanken. In Zürich sind es zu einem Drittel Ausländer*innen. «Wohin integrieren wir uns denn? Müssen wir uns nicht alle orientieren in der Stadt?»  

Ein Kurs, zehn Sprachen

Im Zentrum Karl der Grosse, Mittwochmorgen, wenn die Zürcher Altstadt ein ruhiges, geschäftiges Dorf ist: Hier treffen sich Frauen aus anderen Sprachregionen zum Kurs «In Zürich leben». Einmal die Woche erfahren und besprechen sie in Gruppen, die in bis zu zehn Sprachen gehalten sind, Aspekte aus ihrem neuen Alltag.  

Der Bogen spannt sich von der Geschichte und Geografie der Schweiz über Politik, Recht und Verwaltung von Kanton und Stadt Zürich, zum Bildungssystem, zu Fragen über Arbeit und Informationen über Sozialversicherungen, Gesundheit und Krankenkassen. Die zwölf Module und vier Exkursionen dauern 15 Wochen, Kinderbetreuung ist mit angeboten. 

Als Kind hat sie miterlebt, wie ihre Eltern, aus Spanien eingewandert, die Sprache in der Schweiz nicht verstanden. Das motiviert sie, heute andere in dieser Situation zu unterstützen.

Cristina Büttikofer-Beltrán konzipiert den Kurs und bereitet die Module vor. Es ist jedoch nur eine ihrer Aufgaben. Aktuell erarbeitet sie auch ein Grundlagenpapier über den Familiennachzug und die Integration von gut qualifizierten Zuzügerinnen, die «wegen der Liebe in Zürich» angekommen sind. Im Integrationskurs betreut die Sozialarbeiterin und Kulturwissenschafterin zudem die Gruppe in Spanisch – ihrer zweiten Erstsprache. Als Kind hat sie miterlebt, wie ihre Eltern, aus Spanien eingewandert, die Sprache in der Schweiz nicht verstanden. Das motiviert sie, andere in dieser Situation zu unterstützen: «Es bedeutet mir viel zu wissen, wer die Teilnehmerinnen sind.»  

Dass die Kursteilnehmerinnen mittlerweile besser ausgebildet sind als vor dreissig Jahren, gelte für alle. «Eritreerinnen zum Beispiel kommen heute mit grossem Wissensdurst in den Kurs und fehlen nie. Früher hingegen war es nicht einfach, sie im Kurs zu behalten», sagt die Integrationsspezialistin. Noch eine Gemeinsamkeit, die alle verbindet: Sie möchten in der Schweiz arbeiten, am liebsten in ihrem Beruf.  

Die Hände einer Kursteilnehmerin sind auf dem Tisch, unter ihnen ein Notizblock und Papiere
Was kommt als Nächstes? Die Teilnehmerinnen machen sich Gedanken zu den vier Phasen der Integration.

Der erste Kurs startete, als der Saisonnierstatus fiel 

In der deutschsprechenden Gruppe kommen die Frauen aus Kasachstan bis über Somalia und Taiwan. Es ist eine offene, lebhafte Diskussion rund um die Fragen: Wie können sie beruflich Fuss fassen? Wohin können sie sich wenden? Welchen Weg einschlagen? «Mal schauen, wohin es geht», sagt jemand. Ankommen kann auch heissen, in und mit einer Arbeit neu zu beginnen.  

Die Gruppe tauscht sich aus und lernt Neues dazu: Dass Freiwilligenarbeit in der Schweiz einen hohen Stellenwert hat, wo man Stellenangebote findet, welche Strategien bei der Stellensuche erfolgreich sein können, wozu Netzwerkanlässe dienen, wie viele Ferien man bei Schweizer Arbeitgebern hat. Stellen, Adressen, Vorschläge werden genannt und ausgetauscht. Am Ende des Vormittags fragt eine Teilnehmerin die Kursleiterin inspiriert und erleichtert: «Wo waren Sie nur die ganze Zeit?» 

Sie sind die Fachkräfte, die dringend gebraucht werden

Sie alle erleben, wie eng Integration und Arbeit zusammenhängen. Frauen in der Arbeitswelt zu stärken gehörte bereits in den Anfängen des Kurses zu den wichtigsten Aspekten. 1993, als er erstmals durchgeführt wurde, war der Saisonnier-Status im Zug der Personenfreizügigkeit gefallen. Das brachte die Möglichkeit des Familiennachzugs für einstige «Gastarbeiter» mit sich. Auch ihre Frauen konnten im Land arbeiten.  

Der «Integrationskurs für neugezogene Ausländerinnen mit Wohnsitz in der Stadt Zürich», wie er hiess, bot Deutschkurse und Informationen etwa über Sozialversicherungen an und bereitete Frauen auf den Berufseinstieg vor. Zu den damals etwa 1000 Zürcher Immigrantinnen pro Jahr zählten auch Frauen aus dem Süden, die Schweizer Männer geheiratet hatten. Für sie alle sollte der Kurs neue Perspektiven schaffen, er sollte die Sozialversicherungen entlasten und Fachkräfte ausbilden, die dringend gefragt waren. 

Unterdessen führen externe Institutionen die Deutschkurse und berufsbezogenen Trainings durch. Stecke sich der Kurs einst «empowerment» – das Bewusstsein über eigene Rechte und Stärken – und «lebensbegleitendes Lernen» zum Ziel, so treffen sich die Gruppen heute mit ihren Kursleiterinnen, um eine eigene Strategie und ein Netzwerk zu entwickeln.  

Waren sie bis anhin beruflich und wirtschaftlich unabhängig, müssen sie unter Umständen erst ihre Abschlüsse anerkennen lassen, weitere Atteste erreichen oder eine zusätzliche Schulung absolvieren, um zu arbeiten.

Denn Migration setzt Menschen zurück. Frauen sind, so die Beobachtung, bei der Integration besonders herausgefordert. Neu sind für sie nicht nur der Lebens- und Arbeitsort, die Sprache, die Regeln und Umgangsformen. Frauen kommen oft auch in neuen Lebensphasen und einem neuen Selbstverständnis, manchmal auch in einer veränderten Beziehung an. Waren sie bis anhin beruflich und wirtschaftlich unabhängig, müssen sie unter Umständen erst ihre Abschlüsse anerkennen lassen, weitere Atteste erreichen oder eine zusätzliche Schulung absolvieren, um zu arbeiten. Auch wenn sie eine Familie gründen oder beruflich wieder einsteigen, weil die Kinder gross sind, orientieren sie sich neu.  

 Sie sprechen Tigrinya, Thailändisch, Englisch, Deutsch.  

Cristina Büttikofer-Beltrán hat die Erfahrung gemacht, dass sich Frauen in Situationen wie diesen freier unter sich besprechen. Die Gespräche untereinander versichern und motivieren sie. Gelegenheit zum Austausch zu schaffen ist mit ein Grund, einen Kurs für Frauen anzubieten. Ein weiterer kommt hinzu: Zwei Drittel der Menschen, die im Familiennachzug nach Zürich kommen, sind Frauen. Sie gelten als Multiplikatorinnen, weil sie ihren Kindern und Familien weitergeben, was sie an ihrem neuen Ankunftsort erleben.  

Erfahrungen will auch der Kurs möglich machen. Und sei es «nur» darüber, dass die Schwellen in der Stadt Zürich niedrig sind. Wieder am Mittwoch, eine Woche später, treffen sich fünf der zwölf Sprachgruppen im Laufbahnzentrum Zürich. Die Frauen sprechen Tigrinya, Thailändisch, Englisch, Spanisch und Deutsch.  

Ihre Kursleiterinnen übersetzen die Präsentation über das Bildungssystem der Schweiz und das Beratungsangebot des Laufbahnzentrums. Danach recherchieren die Frauen ihre Berufe. Jemand findet einen praktischen Hinweis für eine Weiterbildung. Zwei unterhalten sich über die verwirrende Vielfalt der Möglichkeiten und über die fantastische Erfahrung eines beruflichen Neueinstiegs. Die Gespräche stimmen zuversichtlich. Hier ist der Ort für fast alle beruflichen Fragen. Die Türen sind offen. Da könnte ein Weg lang gehen zum Ankommen.  

Nina Toepfer