«Wir müssen den Tourismus neu denken»
Die Tourismusstadt Zürich erzielte 2023 einen neuen Rekord: Sie verzeichnete 7,1 Millionen Übernachtungen und 16,5 Millionen Tagesgäste. Was macht die Stadt trotz des hohen Preisniveaus so attraktiv?
Es sind viele Faktoren. Die Stadt bietet eine aussergewöhnlich hohe Lebensqualität – sauberes Wasser, unmittelbare Nähe zu Natur, Seen und Flüssen. Aber sie bietet auch eine grosse Auswahl an erstklassigen Restaurants, Bars, Veranstaltungen und kulturellen Angeboten. Hinzu kommt die ideale Lage mit kurzen Wegen – sowohl innerhalb der Stadt als auch in die Region. Zudem dient Zürich vielen Gästen als Ausgangspunkt für ihre Reisen durch die Schweiz.
Bis Anfang der 2000er Jahre kamen überwiegend Geschäfts- und Kongressreisende, danach kamen immer mehr Freizeittourist*innen. Wer besucht heute Zürich?
Derzeit halten sich Freizeit- und Geschäftsreisende die Waage mit jeweils etwa 50 Prozent der Logiernächte. Bei den Freizeitgästen stellen Besuchende aus der Schweiz inzwischen die grösste Gruppe dar. 2023 lag ihr Marktanteil in der Tourismusregion Zürich bei 37 Prozent. Die Gäste aus Europa und Übersee machten ebenfalls je rund einen Drittel der Logiernächte aus.
Wie wirkt sich das wirtschaftlich aus?
Der Tourismus ist für die Stadt Zürich ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Er sorgt für rund 24'000 Arbeitsplätze und die Gäste sorgen für einen Umsatz von 3 Milliarden Franken. Nach Abzug der Ausgaben für Ausflüge ausserhalb der Stadt und importierter Vorleistungen entspricht dies einer Bruttowertschöpfung von rund 1.8 Milliarden Franken.
Thomas Wüthrich
Der Direktor von Zürich Tourismus ist seit dem 1. Januar 2022 im Amt. Zuvor war er Managing Director der global tätigen Marketingagentur MCI in Stockholm und Berlin. Der gebürtige Berner Oberländer ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in Dübendorf.
Trotz dieses Erfolges hat Zürich Tourismus nun die neue Studie «Tourismus neu denken» präsentiert. Warum müssen wir den Tourismus überdenken?
In Zeiten, in denen der Tourismus weltweit stetig wächst und gleichzeitig die Skepsis in der Bevölkerung zunimmt, ist das unerlässlich. Es geht dabei nicht um eine Imagekampagne, sondern um eine proaktive Destinationsentwicklung und ein wirksames Destinationsmanagement. Wir wollen vorausschauend handeln, statt erst auf Herausforderungen zu reagieren.
Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie?
Für die Studie haben wir unter anderem die Meinung der Bevölkerung eingeholt. Die Befragten stehen dem Tourismus überwiegend positiv gegenüber: Nur vier Prozent geben an, dass sich der Tourismus für Zürich oder für sich persönlich negativ auswirken und acht Prozent sind der Meinung, dass die negativen Effekte des Tourismus überwiegen. Die Umfrage zeigt jedoch auch, dass viele Menschen nicht wissen, wie sich der Tourismus konkret auf ihren Alltag auswirkt.
Woran lässt sich das feststellen?
Oft wird der Tourismus nur auf Übernachtungs- und Tagesgäste reduziert. In Wirklichkeit umfasst er in Zürich weit mehr. Auch Einheimische, die an Freizeit-, Kultur- und Erholungsangeboten teilnehmen, tragen zur wirtschaftlichen Wertschöpfung bei. Die Aktivitäten der 1,8 Millionen Einwohnenden der Region Zürich, die rund 63,4 Millionen Freizeit- und Kulturerlebnisse jährlich wahrnehmen, schaffen eine zusätzliche Wertschöpfung von 4,1 Milliarden Schweiz Franken. Diese erweiterte Betrachtungsweise wird in der Studie unter dem Begriff «Visitor Economy» zusammengefasst.
«Nur dank des Tourismus verfügen wir heute über ein so grosses und qualitativ gutes Angebot an kulturellen Veranstaltungen, innovativer Gastronomie, Freizeitaktivitäten, Läden und Mobilität.»
Was ist darunter zu verstehen?
Im Gegensatz zum traditionellen Tourismuskonzept, das sich primär auf die Gewinnung von möglichst vielen neuen Gästen konzentriert, legt die «Visitor Economy» den Fokus auf die Stärkung der Lebens- und Erlebnisqualität einer Region und deren Bevölkerung. Dieser ganzheitliche Ansatz, wie er bereits in Städten wie Kopenhagen und Wien etabliert ist, spricht nicht nur auswärtige Gäste, sondern auch Einheimische an. Der Tourismus trägt also aktiv zur Lebensqualität bei.
Inwiefern? Die meisten denken wohl eher an mehr Verkehr und teurere Wohnungen.
Diese Beispiele verdeutlichen, warum ein erweitertes Tourismusverständnis notwendig ist. Fakt ist, dass die Lebens-, Erlebnis- und Aufenthaltsqualität in Zürich durch die touristischen Angebote steigt. Nur dank des Tourismus verfügen wir heute über ein so grosses und qualitativ gutes Angebot an kulturellen Veranstaltungen, innovativer Gastronomie, Freizeitaktivitäten, Läden und Mobilität. Der Tourismus trägt zudem erheblich zum positiven Standortimage bei, was in den letzten Jahren auch entscheidend für die Ansiedlung von Schlüsselbranchen und Unternehmen war. Dies stärkt die Attraktivität der Stadt für hochqualifizierte Arbeitskräfte. Davon profitieren sowohl Einheimische wie Besuchende.
Zu den grössten Herausforderungen des Tourismus zählt die Nachhaltigkeit.
Der «Visitor Economy»-Ansatz bietet eine Chance, diesen Spagat erfolgreich zu meistern, ist er doch auf ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit ausgerichtet. Zürich hat bereits erhebliche Fortschritte in diesem Bereich erzielt. Unter anderem sind wir die erste klimaneutrale Tourismusorganisation der Schweiz. Zudem haben wir in der Strategie 2030 Nachhaltigkeit als zentralen Bestandteil verankert. Internationale Ratings bestätigen, dass Zürich zu den nachhaltigsten Tourismusregionen der Welt gehört.
Bleiben Grossanlässe wie die Street Parade auch künftig wichtig für den Zürcher Tourismus?
Ja, denn sie tragen nicht nur zur Wertschöpfung und zu einer höheren Zahl an Logiernächten bei, sondern haben auch einen positiven Einfluss auf das Image der Stadt. Unsere Marktforschung in Deutschland und den USA hat gezeigt, dass viele, die Zürich nicht kennen, sie zunächst als langweilige, graue Bankenstadt wahrnehmen. Wer hier war, hat ein farbiges Bild von der Stadt und beschreibt sie so, wie wir sie gerne sehen und erleben. Die Grossanlässe bringen aber auch konkrete Verbesserungen für die Bevölkerung. So haben wir etwa im Vorfeld der Rad- und Para-Cycling-WM in Zürich über 1400 Kilometer Velotouren in der Region Zürich erfasst und stellen diese auf verschiedenen Plattformen gratis zur Verfügung.
«Overtourismus» ist bei uns noch kein so brennendes Thema wie in Barcelona oder Amsterdam. Trotzdem zeigen sich bereits über die Hälfte der befragten Zürcher*innen skeptisch und wollen weniger oder zumindest nicht mehr Tourismus. Soll der Tourismus weiterhin wachsen?
Unser Ziel ist ein moderates und qualitativ hochwertiges Wachstum. Wir wollen die Saisonalität weiter auszugleichen, indem wir insbesondere in nachfrageschwachen Zeiten wie Januar und Februar Zuwächse erzielen. Zudem möchten wir die Aufenthaltsdauer unserer Gäste verlängern, um den CO₂-Ausstoss durch weniger An- und Abreisen zu reduzieren und eine nachhaltigere Entwicklung fördern. Durch ein hochwertiges Premium-Angebot erhöhen wir die Wertschöpfung pro Gast und verbessern die Wirtschaftlichkeit, ohne die Zahl der Besucher*innen zu steigern. Ein besonderer Fokus liegt auf Gästen aus nahegelegenen Märkten.
Weshalb?
Weil sie oft ein geringeres Mobilitätsverhalten und eine längere Aufenthaltsdauer haben und sich stark für Kultur und Regionalität interessieren. Zudem fördern wir die Nutzung touristischer Angebote durch Einheimische, um die Identifikation mit der Region zu stärken und die CO₂-Bilanz weiter zu verbessern.
« Ich es für wenig realistisch, dass der traditionelle Tourismus vollständig ausgedient haben wird. Tourismus lebt von Emotionen und echten Erlebnissen, die man nur vor Ort erfahren kann.»
Kann «Overtourismus» denn überhaupt verhindert werden?
Das ist nicht einfach, da Reisen ein Grundbedürfnis bleibt. In der Schweiz wirken dem jedoch einige natürliche Faktoren entgegen, wie der starke Franken und die Tatsache, dass keine grossen Kreuzfahrtschiffe bei uns anlegen. Zudem hat Zürich kein einzelnes ikonisches Bauwerk wie den Eiffelturm oder das Kolosseum.
Was tun sie nun, um die «Visitor Economy» umzusetzen?
Wir müssen uns von einer reinen Marketing-Organisation zu einer umfassenden Management-Organisation weiterentwickeln. Das gesamte Aufenthaltserlebnis der Besucher*innen muss aktiv gestaltet werden – von der Infrastruktur über Dienstleistungen bis hin zur Besucherlenkung. Und der Tourismus muss künftig als wichtiger Bestandteil der Stadt- und Regionalentwicklung gelten.
Was heisst konkret für die Politik und Verwaltung?
In Zürich sind wir in einer besonderen Situation: Zürich Tourismus ist grösstenteils eine private Organisation und nicht direkt an Stadt oder Kanton gebunden. Daher wurde der Tourismus in der Vergangenheit eher zufällig wahrgenommen und hat nicht die gleiche politische Aufmerksamkeit erhalten wie in vielen anderen Städten. Hier ist ein Umdenken erforderlich. Es ist entscheidend, dass wir eng mit den politischen Gremien unserer Region zusammenarbeiten. Die strukturelle Verankerung des Tourismus muss in den städtischen und regionalen Strategien sowie in der Politik erfolgen.
Wagen wir noch einen Blick in die fernere Zukunft. Hat der Tourismus längerfristig ausgedient, weil die Menschheit künftig daheim auf dem Sofa per VR-Brille die Welt bereist?
Das ist sicherlich eine faszinierende Vorstellung. Dennoch halte ich es für wenig realistisch, dass der traditionelle Tourismus vollständig ausgedient haben wird. Tourismus lebt von Emotionen und echten Erlebnissen, die man nur vor Ort erfahren kann.
Das Interview führte Michael Krobath