«40 Prozent der Zürcher*innen sprechen bei der Arbeit Englisch»
Herr Meier, in Zürich werden laut neuesten Untersuchungen 130 Sprachen gesprochen. Ist das Weltrekord?
Kaum. Diese Sprachenvielfalt gibt es in vielen international orientierten Städten rund um den Globus. Speziell ist vielleicht, dass wir als vergleichsweise kleine Stadt so viele Sprachen vereinen, darunter auch Lingala, Amharisch oder Tagalog. Fakt ist auch: Immer mehr Menschen in Zürich sind zwei- oder sogar mehrsprachig. Fast 60 Prozent sprechen neben einer Hauptsprache mindestens eine weitere Sprache in ihrem Alltag.
Ist Zürich noch eine deutschsprachige Stadt?
Natürlich. Für drei von vier Einwohner*innen über 15 Jahre ist Deutsch die Hauptsprache. Auffallend ist jedoch: 2014 waren es noch vier von fünf. Und umgekehrt: 12,4 Prozent – also jede achte Person – sprechen in Zürich gar kein Deutsch, 2014 waren es nur 8 Prozent. Das Tempo dieser Entwicklung ist markant und hat mich überrascht.
Christof Meier
Leiter Integrationsförderung Stadt Zürich
Christof Meier ist seit 2006 Leiter Integrationsförderung der Stadt Zürich. Zuvor liess er sich zum Sekundarlehrer (Phil. II) ausbilden und studierte Ethnologie. Er war unter anderem für die Asyl-Organisation Zürich (AOZ) und die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen tätig.
Welche Sprachen sind besonders auf dem Vormarsch?
Am deutlichsten zugenommen hat der Anteil der Englischsprachigen von 9 auf 14 Prozent, das sind 40 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Zugelegt haben auch Französisch und Spanisch, sowie – allerdings auf sehr tiefem Niveau – Griechisch, Russisch, Polnisch und natürlich Ukrainisch. Leicht rückläufig sind hingegen Portugiesisch, Serbokroatisch, Albanisch und Türkisch.
Die letztjährige Migrationskonferenz widmete sich unter dem Titel «Babylon Zürich» der Sprachenvielfalt. Das klingt nach Chaos und Verwirrung. Ist die Mehrsprachigkeit eine Gefahr für Zürich – oder eher eine Chance?
In erste Linie ist die Mehrsprachigkeit eine Tatsache, die wir als Stadt zur Kenntnis nehmen. Wir stellen fest und fragen, wie wir die sich weiter entwickelnde mehrsprachige Gesellschaft möglichst gut gestalten und im Interesse aller nutzen können.
Wie geht die Stadtverwaltung damit um?
Wir haben einen Informationsauftrag und so stellt sich die Frage des Zugangs zu unseren Leistungen. Welche Sprachen sind dazu nötig? Vor vielleicht dreissig Jahren herrschte die Haltung vor: Wer etwas von uns will, der muss zuerst Deutsch lernen. Das ist heute anders, denn professionelle Arbeit versucht immer, die Menschen zu erreichen. So bieten wir mehr Infos auf Englisch und in einigen weiteren Sprachen an. Und künftig dürften es dank der Künstlichen Intelligenz noch viel mehr Sprachen werden.
Besonders ausgeprägt ist der Wandel am Arbeitsplatz. Bereits 40 Prozent der Zürcher*innen sprechen dort Englisch.
Ja, das sind 136 000 Menschen. Das ist markant und umso bemerkenswerter, weil davon 90 000 nicht englischer Muttersprache sind. Betrachten wir nur jene, die zu Hause Schweizerdeutsch sprechen, dann reden 37 Prozent bei der Arbeit oder in der Ausbildung Englisch. Das ist einerseits erfreulich und stärkt Zürichs Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit als internationalen Wirtschaftsstandort. Aber es birgt auch Risiken.
Inwiefern?
Die Zahlen zeigen eben auch: Längst nicht jede Zürcherin und jeder Zürcher sprechen Englisch. Das gilt sowohl für Zuzüger*innen aus dem Ausland wie auch für viele Einheimische. Es besteht die Gefahr einer gesellschaftlichen Bruchlinie zwischen den gut und weniger gut Gebildeten. Menschen mit einer tertiären Ausbildung sprechen immer öfter und immer besser Englisch. Aber in vielen Jobs wird nach wie vor kein Englisch verlangt.
«Was nicht passieren darf, ist eine Ungleichbehandlung der Sprachen. Also zu sagen: Deutsch ist unsere Sprache und nicht Italienisch, Spanisch oder Serbokroatisch. Aber wenn jemand Englisch spricht, dann ist das schon in Ordnung.»
Lässt sich dieser Graben beziffern?
Ja, wobei sich unsere Daten ausschliesslich auf die ausländische Bevölkerung beziehen. Von den Akademiker*innen und Führungskräften nutzen rund 70 Prozent Englisch und selbst bei den Techniker*innen und im Büro sind es über 50 Prozent. Bei den Handwerker*innen oder in der Pflege sinkt der Wert markant auf unter 20 Prozent. Da stellen sich bildungspolitische Fragen. Was heisst das für die Ausbildung und die berufliche Weiterbildung? Wer hat noch Zugang zu welchen Jobs, wenn Englisch auch indirekt zur Voraussetzung dafür wird?
Sollten wir den Stier bei den Hörnern packen und den Englischunterricht in den Schulen massiv ausbauen?
Das ist eine heikle bildungs- und staatspolitische Debatte, die wir schon von der Debatte ums Frühenglisch kennen. Aber klar ist: Englisch ist die Lingua Franca und sie wird es wohl auch in Zukunft bleiben.
Inwiefern beeinflusst dies die Integrationsarbeit? Bisher galten Deutschkenntnisse als wichtigste Voraussetzung für die Integration. Genügen künftig auch Englischkenntnisse?
Integrationspolitik ist Realitätspolitik. Wir kümmern uns um alle Menschen, die hier leben. Und wir müssen eine Ausgrenzung aufgrund von Bildungs- oder Sprachunterschieden verhindern. Was nicht passieren darf, ist eine Ungleichbehandlung der Sprachen. Also zu sagen: Deutsch ist unsere Sprache und nicht Italienisch, Spanisch oder Serbokroatisch. Aber wenn jemand Englisch spricht, dann ist das schon in Ordnung. Daher wird es keine Abstriche geben bei unserem Ziel, dass sich hier möglichst viele Menschen auf Deutsch unterhalten und beteiligen können.
Trotzdem ist in den letzten Jahren eine «English only»-Kultur entstanden. Es gibt Cafés oder Geschäfte, wo die Kundschaft nur noch auf Englisch bedient wird. Das wird teilweise als Entfremdung und Ärgernis wahrgenommen. Können Sie das nachvollziehen?
Ich denke, es gilt zu unterscheiden. Geschieht dies im Irish-Pub, dann ist das Ok. Wer sich daran stört, der kann in die Bar nebenan gehen. Problematisch wird es, wenn dies auf andere Branchen überschwappt, etwa auf die Pflege.
Weshalb?
Weil wir hier nicht mehr von einem freiwilligen Zugang sprechen. Kommt man als Patient:in in die Situation, dass niemand Deutsch spricht, dann ist das einschneidend. Dann haben wir eine Zweiklassengesellschaft, in der nicht mehr alle die gleichen Dienstleistungen erhalten. Das ist nicht gewollt und spricht eben auch dafür, daran festzuhalten, dass möglichst viele Menschen hier Deutsch können.
Wie lässt sich das fördern? Die Zuwanderung nach Zürich ist ungebrochen und je grösser die Expats-Community, desto kleiner wird der Anreiz, Deutsch zu lernen und sich zu integrieren?
Diese Menschen sind nicht nur für die Wirtschaft wichtig, sondern auch für unsere Zivilgesellschaft. Sei dies im Volleyballklub-Vorstand, im Organisationskomitte des Quartierfests, bei der freiwilligen Feuerwehr oder in der Politik. Wir alle haben ein starkes Interesse, diese Bewohner*innen einzubinden. Gleichzeitig haben wir keine Druckmittel zur Integration. Die Expats haben kaum mit dem Staat zu tun, es gibt keine Zwangskontakte, etwa mittels Sozialhilfe.
Beruht Ihre Integration also auf Freiwilligkeit?
Zum Glück. Und wir stellen fest, dass dieser Wille durchaus vorhanden ist und wir leisten dabei Unterstützung. Nur ein kleiner Teil bewegt sich primär in dieser Bubble, im Gefühl, nur vorübergehend und für wenige Jahre hier zu leben. Aber die Allermeisten sind am Austausch mit Einheimischen interessiert und bereit, Deutsch zu lernen. Viele internationale Firmen finanzieren für ihre Angestellten Deutschkurse und die Zurich International School hat kürzlich damit begonnen, Deutschklassen zu führen.
In Deutschland fordern die FDP und Wirtschaftsvertreter, Englisch als zweite Amtssprache zu etablieren. Ist dies auch in Zürich ein Thema?
Diese Debatte gibt es. Aber meines Wissens kann das eine Stadt gar nicht selbst für sich entscheiden, sondern das ist Sache des Kantons. Wovon ich ziemlich überzeugt bin: Ich persönlich werde das nicht mehr erleben.
Das Interview führte Michael Krobath
Die Integrationsförderung der Stadt Zürich
Die Integrationsförderung ist das städtische Kompetenzzentrum für Fragen zur Migration und Integration. Sie führt Veranstaltungen und Kurse durch, um die Integration zu fördern, hat daneben aber auch strategische und koordinierende Aufgaben. Die städtische Integrationsföderung organisiert zudem jedes Jahr eine Migrationskonferenz. 2023 widmete sich diese dem Thema Sprache und Verständigung und den damit verbundenen Chancen und Herausforderungen. (MK)