13 Jahre Nationale Strategie Palliative Care: Wo stehen wir heute?
Seit 2010 fördern Bund und Kantone im Rahmen einer Nationalen Strategie bzw. Plattform die Palliative Care. Deren Ziel ist es, dass Palliative-Care-Angebote allen Menschen in guter Qualität zur Verfügung stehen. Am Zürcher Fachsymposium vom 5. Oktober 2023 zeigen Expert*innen (vornehmlich) aus Pflege und Medizin, wo wir heute stehen, und geben Einsicht in ihre Praxis.
«Als übergeordnetes Ziel der Palliative Care kann gelten, die bestmögliche Lebensqualität auf dem letzten Lebensweg zu gewährleisten», sagen Renato Marra und Reto Steimen von den Gesundheitszentren für das Alter bei der Begrüssung der rund 130 Symposium-Besucher*innen. Lebensqualität auf dem letzten Lebensweg bedeutet unter anderem, dass unnötige Hospitalisationen von hochaltrigen Menschen (in der Schweiz sterben die meisten Menschen im hohen Alter) möglichst vermieden werden. Das ist in der Realität leider oft nicht so, wissen Palliativmediziner Reto Pampaluchi und Palliative-Care-Expertin Fabienne Walder: Die meisten Pflegeheimbewohner*innen werden in ihrem letzten Lebensjahr mehrfach hospitalisiert, im Schnitt dreieinhalb Mal, jeder vierte Bewohner stirbt nach mehreren Hospitalisationen im Spital. Die Angebote von spezialisierter Palliative Care, Hausärzt*innen mit fundierten Palliative-Care-Kenntnissen und eine vorausschauende Planung können die Spitaleinweisungen vor dem Tod reduzieren. Um festzustellen, dass es spezialisierter Palliative Care bedarf, muss die palliative Situation erkannt werden – was profan klingt, ist in der Praxis manchmal gar nicht so einfach, wie Walder anhand eines Fallbeispiels und im Austausch mit dem Publikum eindrücklich zeigt.
Wird alles gut, was lange währt?
Zur spezialisierten Palliative Care gehören zum Beispiel mobile Dienste; Angebote, die chronisch unterfinanziert sind, wie Stephanie Züllig sagt. Die Geschäftsleiterin von palliative zh+sh ist überzeugt, dass die Finanzierung allgemeiner und spezialisierter Palliative Care eine politische Willensfrage ist, und lässt die Frage offen, ob im Hinblick auf die Nationale Strategie gut wird, was lange währt. Sie zeigt, wo Bund und Kantone heute in der Umsetzung der Strategie stehen, und stellt unter anderem die Motion 20.4264 vor (Einreichung 2020). Darin fordern die Mitglieder der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit die Schaffung von gesetzlichen Grundlagen für eine bedarfsgerechte Behandlung aller Menschen am Lebensende und eine angemessene Finanzierung von allgemeinen und spezialisierten Angeboten der Palliative Care. Die Schätzungen, die Mitarbeiter*innen von INTERFACE zuhanden des Bundesamts für Gesundheit in diesem Zusammenhang erarbeitet haben, sprechen für sich: Sie gehen davon aus, dass in der Schweiz aktuell 50‘000 Personen einen Bedarf an Palliative Care haben (20 % von ihnen an spezialisierter Palliative Care) und dass es im Jahr 2050 60‘000–66‘000 Personen sein werden (Zunahme von 25–30 %). Denkt man nebst diesen Zahlen noch an den sich zuspitzenden Fachkräftemangel, kann der dringende Handlungsbedarf kaum deutlicher sein.
Haltung prägt Kultur
Nicht werten, offen und achtsam sein, zuhören, humorvoll und mutig sein, Respekt zeigen. Das sind einige Eigenschaften und Verhaltensweisen, die das Publikum für die Palliative Care als wichtig erachtet. Im Rahmen von Nelly Simmens Referat erscheinen sie als spontan entstandene Wortwolke auf der Leinwand. Die Palliative-Care-Expertin erklärt, dass unsere Haltung und unsere Werte prägend dafür sind, wie wir handeln, entscheiden und sprechen. Um ihr Potential zu nutzen, müssen wir uns ihnen bewusst sein und sie hinterfragen. Sie ist überzeugt, dass sich die Haltungen innerhalb eines Teams gegenseitig beeinflussen und am Ende auch die Strukturen, Prozesse und Konzepte einer Institution prägen. Konkret rät Simmen etwa, keine Floskeln wie «würdevolles Sterben» oder «Sorgekultur» zu nutzen bzw. sich über deren (individuelle) Bedeutung klar zu werden, genau hinzuhören, was hochaltrige Menschen wirklich wollen, und sich für ihre Lebensgeschichte aufrichtig zu interessieren.
Lücken schliessen
«Durch den Einsatz der MPCT (spezialisierte mobile Palliative-Care-Teams) konnten Symptome gelindert und ungewollte Verlegungen ins Spital vermieden werden», sagt Pflegefachfrau Palliative Care Verena Gantenbein im Fazit ihres Referats. Sie schliesst damit den Kreis zum ersten Vortrag des Nachmittags. Gantenbein stellt das städtische Pilotprojekt «Schliessung der wesentlichen Versorgungslücken in der Palliative Care» vor, dessen Verlängerung der Stadtrat jüngst beschlossen hat. Im Rahmen des Projekts wurde etwa die Bevölkerung, Betroffene und Nahestehende sowie Fachpersonen über Palliative Care informiert bzw. geschult oder die Dienste der eben erwähnten mobilen Palliative-Care-Teams weiterentwickelt. Fortan sollten sie nicht ausschliesslich innerhalb der Spitex tätig und finanziert sein, sondern auch in den Langzeitinstitutionen. Die Teams unterstützen beispielsweise 24/7 telefonisch oder vor Ort bei anspruchsvollen Palliativsituationen, beraten bzgl. Notfallplanung und Patientenverfügung oder moderieren Familien- und Rundtischgespräche im Heim. «Zögert nicht, uns zu rufen», ermutigt Gantenbein die Symposium-Teilnehmer*innen aus den Langzeitinstitutionen, «wir verstehen uns als Ergänzung und nehmen euch nichts weg, das Wichtigste bleibt das Team vor Ort.»
Der Nachmittag im Gesundheitszentrum Mattenhof zeigt es: In der Palliative Care tat und tut sich was. Einige Versorgungslücken wurden geschlossen – dank politischen Engagements und Einsatzes an der Basis. Angesichts der demographischen Entwicklung und des Fachkräftemangels werden sich aber bestehende Lücken vergrössern und neue auftun. Sie werden weiterer Anstrengungen bedürfen, für deren Finanzierung besser heute als morgen Lösungen gefunden werden sollten, denn Palliative Care geht uns alle an.
Eveline Kühni, Hogrefe Verlag