Wackerbold
Im Jahre 1280 lebte im Niederdorf der Bäcker Wackerbold. Weil er seine Brote zu leicht gebacken hatte, wurde er zur Strafe in die «Schnelli» gesetzt. Diese bestand aus einem senkrechten Pfosten mit einem beweglichen Querbalken, an welchem zu äusserst der «Lasterkorb» hing. Die «Schnelli» stand am sumpfigen Ufer der Limmat, zwischen dem Rathaus und der Wasserkirche. Wackerbold bekam weder Speise noch Trank. Wollte er hinabspringen, was ihm erlaubt war, so fiel er in Sumpf und Kot.
Bald kam jung und alt herbeigelaufen und verspottete ihn. Schliesslich hielt er es nicht mehr länger aus und sprang hinunter. Mühsam arbeitete er sich aus dem Schlamme heraus aufs Trockene und eilte beschmutzt und durchnässt heim, verfolgt von einer johlenden und schreienden Menge.
Wackerbold liess sich längere Zeit nicht mehr blicken. In finsterem Groll brütete er darüber, wie er die erlittene Schmach rächen und ein grosses Unglück über die Leute bringen könnte. Er kam auf den Gedanken, die Stadt anzuzünden. Also fing er an, heimlich sein Haus von unten bis oben mit dürrem Holze zu füllen.
In einer finstern, stürmischen Nacht, als der Wind durch die Gassen brauste, legte er Feuer. Bald stand sein Haus in hellen Flammen, und der Sturm trieb sie rasch über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg. Der Bäcker machte sich auf und davon. Auf dem Zürichberg begegneten ihm zwei Frauen. Sie riefen ihm zu: «Warum fliechstu und siehst, das es so recht übel in der statt got?» Da sprach er: «Gang hin und sag inen, der pfister, der us dem korb in das kot gefallen sig, heig sich geweschen und well sich bi diesem für tröcknen; ouch heigend sie damal all gemeinlich jung und alt gelachet, und wann si jetz all gemeinlich schriend und weinend, sigend wir erst der sach halb wett.» Nie mehr erfuhr man etwas von ihm.
Unterdessen wütete das Feuer in den engen, winkligen Gassen fürchterlich. Da die Häuser nur aus Holz gebaut und mit Stroh oder Schindeln gedeckt waren, fanden die Flammen reichliche Nahrung. Niederdorf und Oberdorf sanken in Schutt und Asche.

- Groll: Ärger, Bitterkeit, Empörung
- über etwas brüten: über etwas nachdenken
- Schmach: Kränkung, Demütigung, Schand
Wie der Geissturm zerstört wurde
An der Ecke des Grossmünsterschulhauses liegt ein Stein, auf welchem folgende Inschrift eingehauen ist: «10. Juni 1652, 34 Ztr.». Dieser Stein gehörte einst zum Geissturm, welcher in der Stadtmauer zwischen Oberdorf- und Lindentor stand. Der Turm war fünfunddreissig Meter hoch und mit einem pyramidenförmigen Dach gedeckt. Im Keller und auf dem obersten Boden wurden etwa vierhundert Zentner Pulver für die Kanonen aufbewahrt.
Am Donnerstag, den 10. Juni 1652, abends sechs Uhr, zog ein drohendes Gewitter am Himmel auf. Ein Blitzstrahl schlug in den Geissturm und entzündete den Pulvervorrat. Augenblicklich wurde der Turm mit so furchtbarer Gewalt zersprengt, dass die grössten Steine über die ganze Stadt, ja sogar über den See bis nach Wollishofen geschleudert wurden. Eine Masse von Steinen fiel in der Umgebung der Grossmünsterkirche nieder; ein hundertpfündiger fiel auf das Zunfthaus «Zur Waag», einer auf die Brücke beim Schwert und ein dritter auf die Wasserkirche. Einige durchschlugen ein Fenster der Fraumünsterkirche und zertrümmerten die Bänke. Die Häuser im Oberdorf, in der Neustadt und in Stadelhofen sahen aus, wie wenn sie von Kanonenkugeln durchlöchert worden wären. Die Reben am Geissberg waren verwüstet. Der Geissturm war vollständig verschwunden und die Ringmauer auf einer Strecke von mehr als hundert Metern umgeworfen. Der Schaden an Gebäuden betrug Hunderttausende von Franken.
Sieben Menschen, sechs Erwachsene und ein Kind, verloren durch herabfallende Steine das Leben, darunter der Nadlermeister Rudolf Emd, der an der Wühre gerade seinen Laden schloss. Viele wurden schwer verletzt.
Auf wunderbare Weise wurden mehrere Menschen vom Tode errettet: Ein Kindlein blieb in seiner Wiege unversehrt, während diese ganz in Trümmer geschlagen wurde. Zwei Kinder, die in einem Badzuber sassen, wurden von den mächtigen Blöcken gleichsam ummauert. Der Luftdruck warf einen Knaben, der schreibend an einem Tische sass, auf das danebenstehende Bett, während ein grosser Stein den Tisch zerschmetterte.
Am Sonntag nach dem Unglück wurde in der Grossmünsterkirche für die Betroffenen gesammelt.
- Zentner: ein Zentner = 100 Kilogramm
- Zunfthaus: Haus, das einer Zunft gehört. Eine Zunft war ein Zusammenschluss von Personen, die denselben Beruf ausüben (z. B. Schuhmacher). Im Mittelalter gab es besonders viele Zünfte
Sechseläuten: Zug der Zünfte durch die Innenstadt von Zürich und gegenseitige Zunftbesuche am Abend - Nadlermeister: Nadler stellten Nadeln und andere Drahtobjekte her und handelten mit solchen
- Badzuber: Holzwanne
Der Brand des Grossmünsterturms
Einst zierten hohe Spitzhelme die Türme der Grossmünsterkirche, die mit Holzschindeln gedeckt waren. Über den Brand eines Glockenturms berichten die Zeitgenossen folgendes: Das schrecklichste Unwetter, dessen man sich zu entsinnen vermag, brach am 24. August 1763 über Zürich und Umgebung herein. Abends um sechs Uhr setzte ein fürchterlicher Wolkenbruch über Küsnacht und Goldbach ein. Die kleinsten Bäche schwollen zu reissenden Strömen an. Um sieben Uhr dehnte sich das Gewitter über die Stadt aus. Blitz folgte auf Blitz, sodass der Himmel im Feuer zu stehen schien. Um acht Uhr schlug ein Strahl ins Zollhaus bei der Sihlbrücke und tötete einen Wächter. Ein zweiter Blitz fuhr in den Kratzturm und durch die Stube des Hochwächters, der mit seiner Familie am Tische sass. Sie kamen mit dem Schrecken davon. Ein dritter Strahl traf den Glockenturm des Grossmünsters gerade unterhalb der mit Kupfer überzogenen Helmstange, riss ein Stück des Schindeldaches weg und schleuderte es in den Hof des Wettingerhauses.
Nach einer Viertelstunde nahm jemand eine Flamme wahr und schlug Lärm. Der Wächter blies ins Feuerhorn. Aus allen Richtungen strömten Helfer und Zuschauer herbei. Der Stadtdachdecker und der Spritzenhauptmann stiegen vom Wächterhäuslein aus innen durch den Helm hinauf, soweit sie kommen konnten. Sie sahen anfänglich kein Feuer, da die Schindeln nur aussen brannten. Doch bald griff das Feuer um sich. Obwohl fünf Schlauchspritzen herangebracht wurden, war an keine Rettung zu denken, weil der Wasserstrahl nicht höher als bis zu den Glocken reichte. Die grossen Glocken wurden mit nassen Ochsenhäuten bedeckt und so gerettet; die kleinen schmolzen in kurzer Zeit. Zwei Handspritzen wurden über die lange Stiege auf die Empore gebracht. Von dort aus konnte man das Feuer etwas eindämmen.
Um zehn Uhr fiel die Helmstange samt den zwei Knöpfen und dem Windzeichen auf das Kirchendach herunter und zerschmetterte viele Ziegel. Brennende Schindeln und glühende Holzstücke überschütteten die benachbarten Dächer. Ein brennender Balken stürzte auf das Kirchendach und drohte es zu entzünden. Vom Karlsturm her konnte der neue Brandherd erfolgreich bekämpft werden. Einige Feuerwehrleute wagten sich auf das Kirchendach hinaus und löschten von dort her. Es währte aber bis morgens vier Uhr, bis das Feuer gemeistert war und die Mannschaft entlassen werden konnte. Vier Spritzen blieben noch bis zum Dienstagmorgen. Das Kupferblech an den Helmen der Ecktürmchen musste abgedeckt werden, damit das mottende Holz gelöscht werden konnte.

- Holzschindel: dünnes, oft wie ein Dachziegel geformtes Holzbrettchen zum Decken des Daches und Verkleiden der Aussenwände
- Wolkenbruch: heftiger Regen, bei dem innerhalb kurzer Zeit grosse Niederschlagsmengen fallen
- Kratzturm: Der Kratzturm war einer der Türme in der linksufrigen Stadtbefestigung von Zürich und Sitz des Feuerwächters
- Spritzenhauptmann: Feuerwehr-Kommandant. Er war verantwortlich für die Ausbildung und die Einteilung der Mannschaft sowie für die Führung und Taktik im Einsatz
- Stiege: steilere, enge Holztreppe
- Karlsturm: Der Karlsturm ist der südliche Turm des Grossmünsters in Zürich. Er ist nach Karl dem Grossen benannt
- motten: glimmen, glühen