René Buchmann ist Fachexperte Psychiatrie im Gesundheitszentrum für das Alter Entlisberg.
René, du bist Fachexperte Psychiatrie. Was bedeutet das?
Bei der Stadt Zürich gibt es neben den Pflegeexpert*innen auch Fachexpert*innen für bestimmte Themen. Um Fachexpert*in zu werden, benötigt man zusätzlich zu fundiertem theoretischem Wissen viel praktische Erfahrung. In meinem Fall in der Psychiatrie. Ich habe meine vierjährige Ausbildung an der Schule für Gesundheits- und Krankenpflege im Jahr 1999 abgeschlossen und danach lange Vollzeit auf der geschlossenen Akutabteilung gearbeitet. Daneben habe ich eine Ausbildung zum Trainer Aggressionsmanagement und verschiedene weitere Schulungen absolviert. Seit 2009 bin ich im Gesundheitszentrum Entlisberg in der Gerontopsychiatrie tätig.
Du hast lange in der Akutpsychiatrie gearbeitet, wie kam es zum Wechsel in die Langzeitpflege?
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) weggehen würde. Aber nachdem ich wiederholt Beratungen im Gesundheitszentrum Entlisberg durchgeführt hatte, bot mir die Betriebsleitung eine Festanstellung an, um mein Know-how und meine Erfahrung aus der Akutpsychiatrie systematisch im Betrieb zu verankern. Diese Aufbauaufgabe reizte mich. Ich habe bei meiner Arbeit viel Handlungsspielraum und kann die Bewohnenden, ihre Angehörigen und die Mitarbeitenden begleiten. Dabei ist mir wichtig, dass man achtsam mit sich und anderen umgeht und Dinge offen ansprechen kann – immer wieder und unabhängig von Hierarchiestufen und Bereichen. Der offene und interprofessionelle Austausch ist für die Arbeit in der Gerontopsychiatrie absolut zentral. Ich schätze die reibungslose und enge Zusammenarbeit mit Arztdienst, Sozialdienst, Therapien und Pflege sehr.
Was war zu Beginn deine Aufgabe?
Meine Hauptaufgabe war das Unterstützen und Begleiten in heiklen und schwierigen Situationen wie Aggression, Verweigerung oder grosse Belastung. Daneben habe ich Fachgesprächen geführt, weiterführende Massnahmen angestossen, Beziehungen aufgebaut, vermittelt und stabilisiert. Zudem habe ich schnell eingegriffen in akuten Notsituationen. Die Mitarbeitenden hatten meine Nummer und konnten mich jederzeit beiziehen, um eine Situation wieder sicher zu machen. Ich blieb dann jeweils, bis alles geklärt war. Es war ausserdem meine Aufgabe, Mitarbeitende zu ermutigen und sie im Umgang mit psychiatrischen Problemstellungen zu schulen und zu fördern. Ich habe zum Beispiel anhand von aktuellen Ereignissen Wissen vermittelt und nahm eine Vorbildfunktion ein in Bezug auf Haltung und Kommunikation.
Und womit beschäftigst du dich heute?
Vieles davon ist geblieben: Das heisst, meine Aufgabe besteht weiterhin aus einer Kombination aus fixen und flexiblen Komponenten. Ich habe nach wie vor Bewohnende, die ich regelmässig treffe, um die Beziehung zu stabilisieren. Und ich vermittle zwischen Bewohnenden und dem Team. Dabei geht es oft darum, Strukturen zu schaffen und einzuhalten. Daneben brauchen mich die Mitarbeitenden vor allem noch punktuell in Notfallsituationen und zur Beratung. Das Wissen und die Erfahrung in Bezug auf gerontopsychiatrische Themen sind im Team mittlerweile stark verankert. Wer von Anfang an dabei war, hat inzwischen ebenfalls über zehn Jahre Erfahrung auf dem Gebiet. Das ist sehr viel wert.
Wo kommen die Bewohnenden her, die auf der gerontopsychiatrischen Abteilung ihr Zuhause finden?
Ein grosser Teil kommt aus anderen Pflegeinstitutionen, die ihnen kein passendes Setting bieten konnten. Andere kommen über externe Zuweisende zu uns: von der PUK, aus der Psychiatrie oder – via Gerontologische Beratungsstelle SiL – aus der Psychiatrischen Spitex.
Wann ist eine Verlegung in die Gerontopsychiatrie angezeigt?
Eine Verlegung ist dann sinnvoll, wenn das aktuelle Setting mit der Situation nicht mehr klarkommt und der Bewohner oder die Bewohnerin eine Umgebung braucht, die speziell auf die individuellen Bedürfnisse eingehen kann. Die Gerontopsychiatrie ist ein Angebot zur Entlastung. Wichtig ist hier zu sagen: Nicht die psychiatrische Diagnose entscheidet darüber, wer zu uns kommt, sondern das Verhalten der Person. Man muss klar sagen, dass wir auf allen Abteilungen Menschen mit entsprechenden Diagnosen haben. Viele von ihnen sind in ihrem Verhalten jedoch unauffällig, sodass eine Verlegung nicht nötig ist.
Welche Art von Verhalten ist eine Indikation für eine Verlegung?
Wenn es zu gefährlichen Situationen kommt, zum Beispiel mit Gewalt. Das betrifft sowohl Selbst- als auch Fremdgefährdung. Wenn jemand sehr unangepasst ist, sich nicht an Regeln hält, oft streitet und die Mitarbeitenden generell nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Eine Verlegung ist aber auch dann angezeigt, wenn das Verhalten einer Person andere stark stört und einschränkt, wie zum Beispiel anhaltendes Schreien.
Wie wurden die Mitarbeitenden auf die Arbeit auf der neuen Abteilung vorbereitet?
Bei der Zusammenstellung des Teams wurde darauf geachtet, motivierte Mitarbeitende zu finden, die offen für eine Spezialisierung in Gerontopsychiatrie waren. Anfängliche Unsicherheiten waren bei allen Beteiligten vorhanden und sind auch völlig normal. Wichtig war für alle zu wissen, dass wir uns aufeinander verlassen können, dass wir uns gegenseitig interprofessionell (Pflegedienst, Arztdienst, Sozialdienst, Therapien) unterstützen und niemand alleingelassen wird. Wissen wurde laufend vermittelt und verknüpft. Ich möchte betonen, dass so ein Projekt nur funktionieren kann, wenn der gesamte Betrieb mit an Bord ist: Die öffentlichen Bereiche wie der Empfang und das Restaurant sowie die Hauswirtschaft und der technische Dienst sind ebenfalls wichtig bei der Integration von gerontopsychiatrischen Abteilungen. Es braucht von allen Beteiligten eine kontinuierliche Kommunikation zu den Bedürfnissen und den Grenzen.
Was muss man mitbringen für die Arbeit auf der gerontopsychiatrischen Abteilung?
Sehr viel hat mit der Haltung und der Bereitschaft, sich einzulassen, zu tun. Die Mitarbeitenden müssen möglichst offen, vorurteilsfrei und selbstbewusst sein. Selbstbewusst im Sinne von sich seiner eigenen Grenzen bewusst sein und wissen, wie man sie schützt. Das ist eine Fähigkeit, die mit zunehmender Erfahrung wachsen kann. Zudem braucht es die Bereitschaft, laufend dazuzulernen. Je besser man etwas versteht, desto sicherer wird man. Sicherheit ist ein weiterer wichtiger Punkt.
Warum ist Sicherheit in der Gerontopsychiatrie besonders wichtig?
Fehler können schnell zu Gewalt führen: Dies ist vor allem auf den gerontopsychiatrischen Demenzabteilungen der Fall. Wobei man eigentlich nicht von Fehlern sprechen kann. Selbst wenn man alles richtig macht, kann eine Situation eskalieren, weil man zum Beispiel einen kleinen, bisher nicht bekannten Widerstand übersehen hat. Es braucht wenig, um eine Situation ungenügend einzuschätzen oder unsicher zu sein. Und wenn die Mitarbeitenden unsicher sind, begünstigt das unsichere Situationen.
Wie gewinnt man in diesem herausfordernden Kontext an Sicherheit?
Primär sicher durch Erfahrung. In meinem Fall sind das inzwischen über dreissig Jahre. Heute fühle ich mich relativ sicher, auch wenn ich unsicher bin. Denn ich weiss, das ist normal. Ich überlege dann, welchen Aspekt der Situation ich am schnellsten sicher machen kann und manövriere mich weiter durch. Bevor ich etwas mache, weiss ich bereits, was meine nächsten Schritte sind. Erfahrung ist in der psychiatrischen Pflege zentral. Durch Erfahrung wird man ruhiger, gelassener und resilienter. Die Voraussetzung dafür ist, dass man sich als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter der eigenen Unsicherheiten bewusst ist und – meist im Austausch mit anderen – an Sicherheit gewinnt. Diese Sicherheit muss mit einem hohen Mass an Achtsamkeit kombiniert werden. Die Mitarbeitenden, die bei uns auf der Abteilung von Anfang an dabei waren, haben inzwischen über zehn Jahre Erfahrung. Sie sind mit heftigen Situationen vertraut, wie man sie aus der Akutpsychiatrie kennt.
Wie gelingt es, unter diesen Umständen eine Beziehung aufzubauen?
Ein wichtiger Schlüssel ist, den Bewohnenden zu vermitteln, dass wir ihren Weg, mit etwas umzugehen, akzeptieren. Wir lassen sehr viel Selbstbestimmung zu, viel Autonomie. Die Menschen können hier ziemlich «verrückte» Sachen machen, sofern andere nicht darunter leiden. Wir begleiten sie und signalisieren in der Beziehung: Das ist schon eher speziell, was Sie da machen, aber solange es so bleibt, ist das in Ordnung. Es ist an uns, einen Rahmen vorzugeben, in dem Autonomie möglich ist.
Ist das der Grund, warum es bei dir auf der Abteilung gelingt, auch herausfordernde Situationen zu beruhigen?
Dass uns das meistens gelingt, hat sicher wesentlich mit unserer Haltung zu tun. Wir haben keine Angst vor schwierigen Situationen und sind offen für das, was der Mensch mitbringt. Diese unvoreingenommene Einstellung spüren die Menschen. Wir wollen nicht Menschen verändern, sondern Situationen. Denn wenn sich Situationen für Menschen verbessern, verändern sie selbst sich in der Regel automatisch auch. Die Fähigkeit, auch unter erschwerten Bedingungen Beziehungen zu gestalten, zeichnet uns aus. Wir vermitteln den Menschen das Gefühl: Wir sind da, um die Situation zu verbessern. Aber manchmal müssen wir auch akzeptieren, dass sich Situationen nicht verändern lassen. Das drängt uns in die Rolle der mitfühlenden Zeuginnen und Zeugen menschlichen Leidens, was manchmal schwer auszuhalten ist. Psychiatriepflege hat viel mit dem Managen von Belastungen zu tun.
Wir haben über den Übergang ins Gesundheitszentrum Entlisberg gesprochen. Verlegt ihr auch weiter?
Ja, dabei kommen verschiedene Optionen infrage: vom Austritt in eine Wohnung, dem Übertritt in eine andere Institution bis zu einem Langzeitplatz bei uns im Gesundheitszentrum Entlisberg. Wenn wir merken, dass sich die Situation verändert hat, seit die Person bei uns ist, kann es vorkommen, dass wir sie auf die reguläre Abteilung verlegen. Bei Verlegungen ist unser Sozialdienst federführend und leitet die Abklärungen. Zudem kommt es vor, dass wir Bewohnende vorübergehend in die Psychiatrie einweisen lassen, wenn die Situation gefährlich und zu belastend wird. Wir stehen in engem Kontakt mit dem Sanatorium Kilchberg und pflegen einen regelmässigen Austausch, aus dem verschiedene Initiativen entstanden sind. So zum Beispiel der Seitenwechsel, im Rahmen dessen Pflegende von uns ein paar Tage in der Klinik mitarbeiten und umgekehrt.
Würdest du deine Funktion auch anderen Institutionen empfehlen?
Ja. Wenn gerontopsychiatrische Fragestellungen regelmässig auftauchen, kann so Sicherheit vermittelt werden. Es gibt dann jemanden in der Nähe, der mit solchen oder ähnlichen Situationen vertraut ist und unterstützen kann – wenn nötig auch über einen längeren Zeitraum. Gerade in der Psychiatrie ist Erfahrung viel wert. Man muss im Umgang mit brenzligen Situationen gefestigt sein, denn man kann den Menschen nichts vorspielen.
Dieser Beitrag ist in NOVAcura, der Schweizer Fachzeitschrift der Pflege, erschienen.
Der Grundgedanke hinter dem gerontopsychiatrischen Angebot war, Menschen mit einer psychiatrischen Erkrankung ein passendes Setting zu bieten. 2013 eröffnete das Gesundheitszentrum Entlisberg die erste gerontopsychiatrische Übergangsabteilung mit dem Ziel, die eintretenden Menschen zu stabilisieren und sie dann in die adäquate Betreuungsform zu verlegen. Als deutlich wurde, dass es nur begrenzt Institutionen gab, die in der Lage waren, sie aufzunehmen, wurde intern zusätzlich eine gerontopsychiatrische Langzeitabteilung aufgebaut.
Inzwischen verfügt das Gesundheitszentrum Entlisberg neben der gerontopsychiatrischen Übergangsabteilung über zwei gerontopsychiatrische Langzeitabteilungen mit einer Pflegewohngruppe sowie zwei gerontopsychiatrische Demenzabteilungen und eine Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen. Die Entwicklung des gerontopsychiatrischen Angebots im Gesundheitszentrum Entlisberg seit der Eröffnung der ersten Abteilung vor über zehn Jahren verdeutlicht den steigenden Bedarf an gerontopsychiatrischer Betreuung in der Stadt Zürich. Die Pflegenden und das interprofessionelle Team im Gesundheitszentrum Entlisberg konnten sich über die Jahre einen grossen Erfahrungsschatz aneignen in der Bewältigung von herausfordernden Situationen rund um Themen wie Nähe und Distanz sowie Selbst- und Fremdgefährdung.