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Kunst des Erinnerns

Erinnerungskultur ist ein gewichtiges Thema unserer Zeit. KiöR stellt die Frage, welche Rolle die Kunst im Spannungsfeld des Erinnerns spielen kann. Historisch gesehen waren Künstler*innen meist Dienstleister*innen, die klar formulierte Aufträge für Denkmäler übernahmen und dem Dargestellten zu gebührender Sichtbarkeit verhelfen sollten. Eine solche Positionierung ist für zeitgenössische Künstler*innen nicht mehr denkbar. Wie arbeiten Künstler*innen heute mit dem Thema Erinnerungskultur?

KiöR hat zwei Vertreter*innen künstlerischer Positionen eingeladen, sich in Zürich mit dem Thema zu beschäftigen. Die Schweizer Künstlerin Olivia Wiederkehr und das deutsche Künstler*innenkollektiv Para. Sie werden sich als «Spezialist*innen» mit dem Thema Erinnerungskultur auseinandersetzen. Die Projekte wurden in Auftrag gegeben, um künstlerisches Wissen zum Thema Erinnerungskultur abzufragen. Dieses soll anschliessend auch in die städtische Gesamtstrategie «Erinnerungskultur» einfliessen.

Diesen Herbst und im Sommer 2025 werden die beiden spezifisch für Zürich entwickelten Projekte in der Stadt zu erleben sein.

Das Interview wurde von Heiko Schmid in schriftlicher Form mit den Künstler*innen geführt.

1. Liebes Kollektiv Para: Para ist ein Kollektiv. Könnt ihr einführend kurz erläutern, was euch als Gruppe zusammengebracht hat und was euch bis heute zusammenhält?
Wir kommen alle aus sehr unterschiedlichen künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen und arbeiten teilweise schon seit 2015 zusammen. Uns verbindet das gemeinsame Interesse daran, an öffentlichen oder kunstfernen Orten zu arbeiten und uns dabei spekulativ mit Phänomenen oder Umständen der Gegenwart auseinanderzusetzen, die wir gerne überwinden würden. Die gemeinsame Begeisterungsfähigkeit, das gegenseitige Überraschen und manchmal auch eine gewisse Form von Pragmatik halten uns als Gruppe zusammen. Und wir essen und tanzen extrem gerne miteinander.

1. Liebe Olivia: Als Künstlerin arbeitest du mitunter an der Grenze zum Marketing und Produktdesign. Kannst du uns etwas ausführen, wie es dazu gekommen ist?
Für das bevorstehende Projekt bediene ich mich der kommerziellen Strategien einer Eventagentur. Kunst und Werbung – das geht nicht zusammen, sagen sie alle. Und gleichzeitig befruchten sich beide Seiten regelmässig, stehen in einer Ko-Abhängigkeit zueinander. In meiner Arbeit suche ich mit einer Eventagentur nach einer gemeinsamen, verständlichen Sprache für unser multikulturelles, multiperspektivisches Zusammenleben in der Stadt Zürich. Was passiert dabei mit den Inhalten? Wie werden sie umgesetzt und vor allem: Wie werden sie von der Bevölkerung aufgenommen?

Die Künstlerin Olivia Wiederkehr. Foto Lukas Bertschi.
Die Künstlerin Olivia Wiederkehr. Foto Lukas Bertschi.

2. Liebe Olivia: Wie würdest du beispielsweise anhand deiner Werkserie «yes!yes!yes!no!no!» Personen, die deine Arbeit nicht kennen, deine künstlerischen Strategien und Zugänge erklären?
Als bildende Künstlerin, die ihre Wurzeln im Tanzbereich und der Szenografie hat, erachte ich die Räume und Orte, die uns konstant umgeben, als stetige Möglichkeiten der Inszenierung: Bühnen, auf denen wir miteinander interagieren, die wir gemeinsam bespielen – bewusst oder unbewusst. Meine Arbeiten finden meist im öffentlichen Raum statt. Die gezielte Beobachtung des Alltags, mit seinen Rhythmen und Wiederholungen, bildet für mich das eigentliche inhaltliche Substrat, aus welchem ich schöpfe.

In meiner künstlerischen Arbeit fordere ich mich permanent heraus und setze mich neuen Fragestellungen aus. Meinen Ausdruck finde ich in der Performance, aber auch in installativen- und partizipativen Arbeiten. Ein wichtiger Teil meiner künstlerischen Forschung gilt der Auseinandersetzung mit philosophischen Texten. In den vergangenen Jahren habe ich mich intensiv mit dem Essay «Die Freiheit, frei zu sein» von Hannah Arendt beschäftigt, in welchem die politische Theoretikerin Arendt die Freiheit als einen Raum, der von uns Menschen aktiv behandelt werden soll, beschreibt. Aus dieser Beschäftigung ist eine vierteilige Ausstellungsreihe entstanden, welche ich in der Kunsthalle Wil, im Ausstellungsraum YellowBrick in Athen, im PTTH Luzern sowie im Zimmermannhaus Brugg zeigte.

Der Titel «yes!yes!yes!no!no!» bezieht sich auf die einzigartige menschliche Fähigkeit, etwas zu erschaffen. Erschaffen ist eine bewusste Handlung: Ja, ich will das, aber auch: Nein, das will ich nicht. Oder wie Hannah Arendt es ausdrückt: Wir Menschen haben die Fähigkeit, zu handeln und zu sprechen – und Sprechen ist nichts anderes als eine andere Form des Handelns –, was uns zu politischen Wesen macht. Handeln bedeutet seit jeher: Ja, ich will etwas in Bewegung setzen, was vorher nicht da war... Der Titel für dieses Projekt signalisiert in seiner Vervielfältigung dieser Worte also die Notwendigkeit von Engagement und Positionsbezug. 

2. Liebes Kollektiv Para: Wie würdet ihr beispielsweise anhand aktuellerer Arbeiten wie «Berge Versetzen» und «Feed the Rich» Personen, die eure Arbeit nicht kennen, eure künstlerischen Strategien und Zugänge erklären?
Das sind sehr unterschiedliche Arbeiten. Bei der einen geht es um Umverteilung und Ernährungsfragen, bei der anderen um die Restitution eines Steins vom Gipfel des Kilimandscharo, den der deutsche Kolonialgeograph Hans Meyer dem Kaiser Wilhelm II einst als Geschenk von der angeblichen Erstbesteigung des Berges mitgebracht hat. Beide Arbeiten verbindet der partizipative Ansatz: Bei «Feed the Rich» stellt das Publikum gemeinsam mit uns Sauerkraut her, aus dem Kohl wütender Kohlbauern, und tauscht sein eigenes Magenknurren und die Bakterien unter den Fingernägeln gegen ein Paket Sauerkraut ein. «Berge Versetzen» wiederum lädt Besucher*innen des Museums ein, «Skrupel» – Replikate des Gipfelsteins vom Kilimandscharo, die wir aus den Krümeln einer von uns zertrümmerten Stele des ethnografischen Museums in Leipzig gewinnen – herzustellen. So nimmt das Publikum konkret die Restitution sowohl des Objekts an sich als auch der Idee der kolonialen Narration des ethnografischen Museums in die Hand. Es geht uns immer darum, uns in ein konfliktuöses Verhältnis zur Realität zu setzen, die erst einmal, so unsere Annahme, prekär ist. Unsere Arbeiten bieten dann die Möglichkeit, sich selbst als Teil dieser Realität wahrzunehmen und bestenfalls natürlich auch als Teil von deren Auflösung.

PARA, «Berge Versetzen», 2022, Grassi Museum für Völkerkunde, Leipzig. Credit PARA
PARA, «Berge Versetzen», 2022, Grassi Museum für Völkerkunde, Leipzig. Credit PARA

3. Liebes Kollektiv Para: Erinnerungskultur umfasst nicht mehr nur materielle Objekte wie Denkmäler, Architektur und Monumente, sondern etwa auch Handlungen und popkulturelle Phänomene (Kleidung, Musikvideos etc.). Wie ordnet ihr euren eigenen künstlerischen Zugriff auf das Themenfeld Erinnerungskultur ein?
Uns interessiert immer die Frage, was werden wir wie in 10, 50 oder 100 Jahren erinnern. Also wenn wir beispielsweise davon ausgehen, dass das fossile Zeitalter vorübergehen wird, weil es das muss, dann ist ja die Frage, wie Menschen in 100 Jahren auf dieses Zeitalter zurückschauen werden, in dem ständig und überall alles verbrannt wurde. Welche kulturellen Praktiken werden uns in Zukunft ein Rätsel aufgeben? Welche Beweise brauchen zukünftige Generationen, um uns verklagen zu können, weil wir beispielsweise zu wenig gegen die Klimakrise unternommen haben? Das haben wir uns in unserer Arbeit «HAZE. Eine Bezeugung in Rauch» gefragt. Erinnerungskultur interessiert uns vor allem als Werkzeug, uns mit dem Status Quo fremd zu machen. Und Erinnerungspolitiken überall dort zu hinterfragen, wo sie wirksam sind, ob im Museum oder im Parlament, in Kinderbüchern oder im Internet.

3. Liebe Olivia: Erinnerungskultur umfasst nicht mehr nur materielle Objekte wie Denkmäler, Architektur und Monumente, sondern etwa auch Handlungen und popkulturelle Phänomene (Kleidung, Musikvideos etc.). Wie ordnest du deinen eigenen künstlerischen Zugriff auf das Themenfeld Erinnerungskultur ein?
Ich halte mich dabei an die «Auslegeordnung des Historischen Seminars der Uni Luzern», in der es heisst: «Die Gestaltung von ‹Erinnerungskulturen als zivilgesellschaftlicher Prozess› ist ein wichtiges Merkmal demokratischer Länder. Dazu gehört auch die Anerkennung bisher unerzählter und marginalisierter Geschichten und das selbstkritische Hinterfragen monoperspektivischer Meistererzählungen. Bei der Erinnerungskultur handelt es sich grundsätzlich nicht um einen «Bestand», sondern um lebendige, dynamische Prozesse, an denen sich unterschiedliche Akteur*innen beteiligen und in denen darüber verhandelt wird, was nicht vergessen werden darf.

Ein Charakteristikum von Erinnerungskultur ist gerade die Unabgeschlossenheit und die fortlaufende und teils konflikthafte Auseinandersetzung mit ihren in dynamischer Weiterentwicklung befindlichen, materiellen, immateriellen, sozialen und emotionalen Aspekten. Solche Aushandlungsprozesse kann man nicht befehlen, dominieren, entscheiden oder verordnen. Vielmehr sollte aus demokratiepolitischem Interesse dafür gesorgt werden, dass die Bedingungen für solche Aushandlungsprozesse aufrecht erhalten bleiben.»

Als Künstlerin sehe ich mich in erster Linie als Teil der Zivilbevölkerung, in der ich mit den mir gegebenen Möglichkeiten diesen Prozess mitgestalten kann. Dabei räume ich der Emotionalität, die meines Erachtens mit Erinnerungen immer einhergeht, einen wichtigen Raum ein.

4. Liebe Olivia: Existentielle Fragen und ungewöhnliche Themenfelder, wie zum Beispiel dieses Mal Schmerz, sind zentral für deine Projekte. Inwiefern ist es dein Ziel, mit Kunst gesellschaftspolitischen Wandel zu befördern, und siehst du (noch) Grenzen zwischen Kunst und politischem Aktivismus?
Schmerz ist für mich eine Erfahrung, die wir alle – ausnahmslos alle – kennen. Heute herrscht allgemein eine Algophobie – eine generalisierte Angst vor Schmerzen. Jeder schmerzhafte Zustand wird möglichst vermieden. Konflikten und Kontroversen, die möglicherweise zu schmerzhaften Auseinandersetzungen führen, wird immer weniger Raum gegeben. Hinter dieser Algophobie liegt ein Paradigmenwechsel: Wir leben in einer Gesellschaft der Positivität, die sich jeder Form von Negativität zu entledigen sucht.

In den vergangenen Jahren habe ich mich mit dem Thema des individuell und gesellschaftlich gefühlten historischen Schmerzes intensiv auseinandergesetzt. Schmerz ist für mich eine Erfahrung, die das Leben erst lebenswert und erfahrbar macht. Sich diesem Schmerz auszusetzen, braucht Mut. Dazu braucht es den Mut des Aussprechens. Und dazu braucht es Worte, um der Sprachlosigkeit, die durch die Unterdrückung des Schmerzes innerhalb der Gesellschaft so rapide zunimmt, eine Stimme zu geben.

Politischer Aktivismus hat das Ziel, eine spezifische Einstellung oder ein spezifisches Anliegen publik zu machen, andere zu überzeugen. Als Künstlerin nehme ich davon explizit Abstand. Mein Verständnis des «Politischen» ist nicht zu vergleichen mit einem Aktivismus – sondern mit einer Ausrichtung auf das Wir, auf das Gemeinsame, das Multiperspektivische, das aktive Miteinander.

Aus dieser Haltung heraus kann Kunst, aus meiner Perspektive, einen Wandel in der Betrachtungsperspektive meiner Mitmenschen von Dingen evozieren. Dies bedingt aber die Inklusion bzw. die Handlungsfreiheit, nicht in eine dogmatische (=aktivistische) Haltung zu verfallen, sondern in poetischer Neugierde auf blinde Flecken und Dinge zu verweisen. Ich biete also Möglichkeiten an, um selbst nachzudenken, um sich selbst positionieren zu können. Eine Verbindung von politischer Ausrichtung und Motivation innerhalb eines solchen Auftrags und innerhalb der Verantwortung im öffentlichen Raum sehe ich also als No-go. Vielmehr sehe ich mich als poetische Türöffnerin.

Olivia Wiederkehr, Gastkünstlerin Auswahl 23, Aargauer Kunsthaus: «FERN-WEH (DAS EPHEMERE MONUMENT)», 2023, Ortsspezifische Textarbeit, Vertikaler Schriftzug mit 28 Verben (Wörter) auf die Aussenseite der Glasfront appliziert.

4. Liebes Kollektiv Para: Politiken des Erinnerns und allgemein kritische Zugriffe auf nur vordergründig allgemeingültige (Denk-)Ökonomien sind zentral für eure Projekte. Inwiefern ist es euer Ziel, mit Kunst gesellschaftspolitischen Wandel zu befördern, und seht ihr (noch) Grenzen zwischen Kunst und politischem Aktivismus?
Was genau sind denn «allgemein kritische Zugriffe auf nur vordergründig allgemeingültige (Denk-)ökonomien?» Der Kapitalismus beispielsweise ist ja sowohl vordergründig als auch hintergründig ein Problem. Ihn jetzt aber einfach nur doof zu finden, wäre uns als kritischer Zugriff zu wenig und diese Beweisführung haben andere bereits geleistet. Uns interessiert dann eher, inwieweit unsere Zeitordnung Konzepte wie Risiko oder Absicherung erst operationalisierbar macht und so Realitäten schafft. Am Ende machen wir aber schlicht Kunst, weil wir das am besten können. Es wäre vermessen, sich dabei mit politischem Aktivismus zu vergleichen. Wir retten keine Geflüchteten auf dem Mittelmeer und wir besetzen keine Bank. Wir rauben auch keine aus. Wir versuchen nur, die Fantasie zu beflügeln, um Alternativen zu herrschenden Systemen vorstellbar zu machen.

5. Liebes Kollektiv Para: Können aus eurer Perspektive durch Künstler*innen gezielt erzeugte, gesellschaftliche bzw. erinnerungskulturelle Kontroversen als «Teil» künstlerischer Projekte angesehen werden oder sind diese für euch eher Effekt gelungener kritischer Arbeit?
Es gibt Arbeiten von uns, die ganz ohne mediales Echo oder Rezeption funktionieren, und dann gibt es solche, die auch diesen Raum bespielen und konzeptionell in seiner Wirksamkeit mitdenken. Man hat aber nicht immer in der Hand, wie diese Echos sich vervielfältigen. Die NZZ hat uns mal als Bilderstürmer bezeichnet und in die Nähe des Denkmalsturzes von Saddam Hussein gerückt, während wir in derselben Woche von einem grossen deutschen Medium als Besserwisser bezeichnet wurden. Vielleicht arbeiten bei der NZZ die eigentlichen Künstler*innen, vielleicht haben beide ein bisschen recht – wer weiss. Am Ende ist das alles ausgedacht, ergo ist alles Teil künstlerischer Arbeit. Auch dieses Interview.

5. Liebe Olivia: Können aus deiner Perspektive durch Künstler*innen gezielt erzeugte gesellschaftliche bzw. erinnerungskulturelle Kontroversen als «Teil» künstlerischer Projekte angesehen werden oder sind diese für dich eher Effekt gelungener kritischer Arbeit?
Effekte sind für mich grundsätzlich im Bereich des Kommerziellen oder auf der Leinwand der grossen Gefühle angesiedelt. Kunst soll und darf erinnerungsspezifische Themen sichtbar machen, auch ohne eine klare Positionierung einzunehmen. Kontroverse Themen können spannend sein.

Kontroversen erzeugen jedoch meist eine Emotionalität. Diese kann bewusst erzeugt werden durch künstlerische Eingriffe. Zeitgeist und lokale, nationale, globale Ereignisse färben diese Kontroversen aber zusätzlich ein oder erzeugen just in dem Moment eine Emotionalität, die das Kunstwerk in einem gänzlich anderen Licht erscheinen lässt.

Meine Intention ist es nicht, die Welt zu retten. Auch will ich nicht Bundesrätin werden. Ich bin Künstlerin. Mein Projekt ist Kunst. Wie man meine Arbeit liest – das liegt nicht in meiner Hand. Und zum Schluss, ganz wichtig: Die Dinge müssen offen sein – nicht alles muss erklärbar sein. Nicht alles muss und kann hermetisch abgeriegelt in Statistiken und Dissertationen verhandelt und erklärt werden. Als Künstlerin habe ich diese Freiheit, auch Dinge offen zu lassen, diese offen zu bewahren.

6. Liebe Olivia: Was müsste geschehen, dass du dich genötigt fühlen würdest zu sagen: «Kritische Kunst ist nicht mehr relevant. Ich male ab jetzt nur noch Blumen»?
Ist Kritik alleine den Künstler*innen überlassen? Muss Kunst immer kritisch sein? Was ist Kritik? Sind Blumen nicht auch kritisch? Kunst darf Fragen stellen. Wahrnehmung darf herausgefordert werden. Ob etwas kritisch betrachtet wird, hängt von den Betrachtenden ab.

PARA, «Feed the Rich», 2023, Theater Rampe, Stuttgart und Spoiler Aktionsraum, Berlin. Credit PARA.
PARA, «Feed the Rich», 2023, Theater Rampe, Stuttgart und Spoiler Aktionsraum, Berlin. Credit PARA.

6. Liebes Kollektiv Para: Was müsste geschehen, dass ihr euch genötigt fühlen würdet zu sagen: «Kritische Kunst ist nicht mehr relevant. Wir malen ab jetzt nur noch Blumen»?
Würden wir ja wahnsinnig gerne machen, zumal vor allem Tulpen ja eine wichtige Rolle gespielt haben in der Geschichte der Spekulation selbst. Aber Blumenbilder verkaufen sich so schlecht, alle wollen immer kritische Kunst haben und von irgendwas muss man ja leben. Aber im Ernst: Wer sagt überhaupt, dass das Malen von Blumen unpolitisch ist? Es gibt so viele Künstler*innen, die höchst politische und gegenwartskritische Blumenbilder malen. Kunst kann wahrscheinlich nie unpolitisch sein und es wird keinen Punkt in der Geschichte geben, an dem es keine kritische Kunst mehr bräuchte. Und apropos Blumen: Seit Kim Il Sung vom indonesischen Präsidenten eine Orchidee mit dem Namen «Kimilsungia» gewidmet bekam und die Orchidee zum propagandistischen Symbol seiner Herrschaft wurde, ist diese in ganz Nordkorea auf Plakaten und Wandmalereien zu finden und eben keine «Blume» mehr, sondern das kodierte Propagandaporträt der Diktatur.

7. Liebes Kollektiv Para: Ihr habt Zürich als Vorbereitung für eure Arbeit besucht. Was ist euch hier besonders ins Auge gefallen bzw. gibt es Probleme / Dynamiken, die ihr hier als besonders dringlich erachtet?
Wir haben Zürich als eine Stadt kennengelernt, die von ihren Bewohner*innen gemocht und von Tourist*innen bewundert wird. Es ist sauber und sicher und überall sind schöne alte oder schöne neue Häuser. Hinter dem See sind wundervolle Berge und an unzähligen Orten fliesst sauberes Wasser durch die Stadt. Nach ein paar Tagen haben wir uns gefragt: Warum ist das hier so? Und bleibt das so für immer, in dieser Selbstverständlichkeit? Wo sind die echten Probleme, die es an allen anderen Orten der Welt gibt? Ein wenig wollen wir in unserer Arbeit auch diesen Fragen nachgehen. Mehr wollen für den Moment noch nicht verraten.

7. Liebe Olivia: Du lebst inzwischen ausserhalb von Zürich. Was fällt dir im Hinblick auf Erinnerungskultur besonders ins Auge, wenn du die Stadt besuchst?
Erinnerungskultur ist überall. Dabei werden unterschiedliche Bedürfnisse sichtbar, je nach lokalem Standort. Ich beziehe mich in meiner Wahrnehmung eher auf meine mich sehr prägenden Erfahrungen in Griechenland:

Im Jahr 2021 erhielt ich vom Aargauer Kuratorium ein Reise- und Recherchestipendium für Griechenland. Dieses Stipendium hat meinen Blick nachhaltig verändert und ihn gerade auch auf bio- und geopolitische Aspekte zwischen Nord- und Südeuropa gerichtet. Diese Bezüge zwischen Inklusion und Exklusion beschäftigten mich seither in meiner Arbeit.

8. Liebe Olivia: Im Optimalfall – wie wünschst du dir, dass man sich in Zukunft in Zürich an deine Intervention erinnert?
Zürich braucht ein neues Ritual – das Sechseläuten muss abgeschafft werden. Ein neuer Brauch der inklusiven, multiperspektivischen Erinnerung sollte stattdessen jedes Jahr gefeiert werden, bei dem die Velofahrer*innen über die Hardbrücke radeln, rassistische Häusernamen umbenannt werden, kolonialistische Denkmäler gemeinsam umgestaltet oder in den Zürichsee als Unterwassermuseum versetzt werden; Züriwasser frei und kostenlos in jedem Restaurant ohne Aufforderung angeboten wird. Und dann gibt es gratis Glace von der Gelateria di Berna in der Casa Italiana zusammen mit noch nie gehörten Geschichten der Gastarbeiter*innen. Habe ich etwas vergessen? Ganz viel. Aber da wäre ja auch viel Platz drin, in so einem neuen Ritual. Das Zürifäscht gibts ja nicht mehr – also los!

8. Liebes Kollektiv Para: Im Optimalfall – wie wünscht ihr euch, dass man sich in Zukunft in Zürich an eure Intervention erinnert?
Bei einem Glas Leitungswasser. Mit einem Anflug von Melancholie.

Text: Die Fragen stellte Heiko Schmid, Präsident der Kommission KiöR (Kunst im öffentlichen Raum) Stadt Zürich

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