Modalsplit-Bilanz in Zeiten der Pandemie
Autor
Nicola Nübold
Letzte Aktualisierung
26. Mai 2023
Ausgangspunkt: Modalsplit-Ziel der Städteinitiative
Die Strategie «Stadtverkehr 2025» basiert auf der «Städteinitiative», die 2011 von den Stimmberechtigten angenommen wurde. Die Initiative forderte einen besseren Schutz der Bevölkerung vor den negativen Auswirkungen des Verkehrs, eine Förderung und Anteilserhöhung von Fuss-, Velo- und öffentlichem Verkehr sowie einen Verzicht auf die Erweiterung der Strassenkapazitäten für den Autoverkehr auf Stadtgebiet. Wie vom Initiativtext vorgesehen, wurde im Jahr 2012 das Umsetzungsziel in der Gemeindeordnung (Art. 154 Abs. 1) verankert, den Modalsplit, das heisst den prozentualen Anteil des ÖV, des Fuss- und des Veloverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen im Stadtgebiet, innerhalb von zehn Jahren um mindestens zehn Prozentpunkte zu erhöhen. Massgebend sind dabei die zurückgelegten Wege auf Stadtgebiet bezüglich des Gesamtverkehrs.
Datengrundlage Mikrozensus Mobilität und Verkehr
Zur Beurteilung der Zielerreichung wurde ein Vergleich der Daten 2010 und 2020 des alle fünf Jahre von den Bundesämtern für Statistik und Raumentwicklung durchgeführten Mikrozensus Mobilität und Verkehr (MZMV) vorgesehen. In dieser repräsentativen Datenerhebung werden über ein Jahr verteilt schweizweit über 55 000 Personen detailliert zu ihrem Mobilitätsverhalten am Vortag befragt. Während der Telefoninterviews werden Quell- und Zieladressen, genaue Routen sowie verwendete Verkehrsmittel aller Wege erfasst, die an diesem Tag von den Befragten absolviert wurden. Der resultierende, in seiner Art einzigartige Datensatz ermöglicht gebietsbasierte Auswertungen wie die Berechnung des Modalsplits, in diesem Fall definiert als prozentuale Anteile der Hauptverkehrsmittel aller Wege mit Quell- und/oder Zieladressen in Zürich.
Der Zielvorgabe entsprechende Entwicklung bis 2019
Das in Art. 154 Abs.1 der Gemeindeordnung vorgegebene Verlagerungsziel wurde gemäss dem MZMV 2015 in der ersten Hälfte der Laufzeit 2010 bis 2015 zur Hälfte erreicht. Das heisst, in diesen fünf Jahren erhöhte sich der Anteil des ÖV, des Fuss- und des Veloverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen um fünf Prozentpunkte, von 70 auf 75 Prozent. Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) sank entsprechend von 30 auf 25 Prozent. Andere Datenquellen wie die in den Indikatoren 1 und 9 von «Stadtverkehr 2025» abgebildeten jährlichen Verkehrs- und Passagierzählungen oder die Pendlerstatistik des Bundes weisen darauf hin, dass auch die Entwicklung 2016 bis 2019 dem Zielpfad entsprach und eine Erreichung der Zielvorgabe im Jahr 2020 denkbar gewesen wäre.
Verschiebung des Mikrozensus Mobilität und Verkehr 2020 aufgrund der Coronapandemie
Die Anfang des Jahres angelaufene MZMV-Datenerhebung wurde im März 2020 aufgrund der Coronapandemie abgebrochen, weil der am 16. März 2020 vom Bundesrat verfügte erste Lockdown die Mobilität der Schweizer Bevölkerung drastisch reduzierte. Im Mai 2020 beschlossen die federführenden Bundesämter, die Datenerhebung stattdessen im Jahr 2021 durchzuführen. Wie wir heute wissen, war das im MZMV 2021 erhobene Mobilitätsverhalten der Schweizer Bevölkerung allerdings ebenfalls noch vollauf von der Pandemie geprägt. Der Datensatz des MZMV 2021 steht seit Februar 2023 für Auswertungen auf kantonaler, regionaler und teils kommunaler Ebene zur Verfügung.
Gemäss juristischer Einschätzung entspricht es angesichts der veränderten Ausgangslage und mangels einer alternativen, vergleichbaren Datenquelle Sinn und Zweck von Art. 154 Abs. 1 GO, dass für die Bilanzierung des Modalsplit-Ziels auf den MZMV 2021 abgestellt und dementsprechend eine Bilanz zum elfjährigen Zeitraum von 2010 bis 2021 vorgelegt wird.
Auswirkungen der Pandemie auf das Mobilitätsverhalten
Die in den Indikatoren 1 und 9 von «Stadtverkehr 2025» abgebildeten jährlichen Verkehrs- und Passagierzählungen zeigen, dass das Gesamtverkehrsaufkommen in der Stadt Zürich in den beiden Jahren 2020 und 2021, in denen es lange Phasen pandemiebedingter Betriebsschliessungen von Gastronomie, Einzelhandel, Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie Homeoffice-Empfehlungen respektive -Pflichten gab, deutlich zurückgegangen ist. Dabei hat die ÖV-Nutzung massiv stärker abgenommen als der MIV. Das einzige Verkehrsmittel, welches auch im Jahr 2020 auf dem Stadtgebiet einen Zuwachs im absoluten Aufkommen verzeichnete, war das Velo. Die ausserordentlich langen Schlechtwetterphasen im Bilanzierungsjahr 2021 haben diesen Boom aber wieder abgeschwächt, die Velofrequenzen gingen gegenüber 2020 deutlich zurück. Eine pandemiebedingte Zunahme von Fusswegen insbesondere im Wohnumfeld kann angenommen, jedoch mit den vorwiegend innerstädtisch gelegenen Fussgängerzählgeräten der Stadt Zürich im Gegensatz zum MZMV nicht nachgewiesen werden. Zusammengefasst gab es in den beiden Pandemiejahren 2020 und 2021 also eine gewisse Verschiebung vom ÖV hin zu den bezüglich Ansteckungsgefahr als sicherer wahrgenommenen Individualverkehrsmitteln Fuss, Velo und Auto. Hauptsächlich fiel aber Verkehr einfach weg, weil viele Menschen vermehrt zu Hause blieben. In Zentren wie der Stadt Zürich akzentuierte sich dies besonders, weil Auswärtige weniger Anlass hatten, für Arbeits-, Ausbildungs- oder Freizeitaktivitäten dorthin zu fahren.
Der pandemiebedingte Rückgang des Gesamtverkehrsaufkommens zeigt sich auch in der Anzahl der im MZMV erfassten Wege, die als Grundlage für die Modalsplit-Auswertung dienen. Bei gleicher Stichprobengrösse (das heisst, dass im Gegensatz zu den Vor-Ort-Zählungen in den Indikatoren 1 und 9 das zwischenzeitliche Bevölkerungs- und Arbeitsplatzwachstum nicht sichtbar wird) absolvierten alle landesweit befragten Personen im Jahr 2015 insgesamt 8144 Wege mit Start und/oder Ziel auf dem Stadtgebiet von Zürich, im Jahr 2021 insgesamt aber nur noch 5493 Wege, also 33 Prozent weniger. Dabei sind die mit Auto, Velo oder zu Fuss als Hauptverkehrsmittel zurückgelegten Wege jeweils um etwa einen Viertel zurückgegangen, die mit dem ÖV absolvierten Wege hingegen annähernd um die Hälfte.
Absolutes vs. relatives Verkehrsaufkommen
Ein Rückgang des absoluten Verkehrsaufkommens zeigt sich allerdings nicht im relativen Modalsplit: Die Wege auf Stadtgebiet sind in der Pandemie zwar deutlich weniger geworden, auch die per Auto absolvierten Wege. Beim für die Bilanzierung von Art. 154 Abs. 1 der Gemeindeordnung massgeblichen prozentualen und damit relativen Anteil der auf diesen Wegen verwendeten Hauptverkehrsmittel bilden aber alle im jeweiligen Jahr erfassten Wege die 100 Prozent, auf die sich die Verteilung auf die einzelnen Verkehrsmittel bezieht. Ob die 100 Prozent mehr oder weniger Wege umfassen, wird dabei nicht sichtbar. Aufgrund des viel stärkeren Rückgangs der per ÖV absolvierten Wege steigt deshalb der prozentuale Anteil der mit dem Auto, dem Velo oder zu Fuss absolvierten Wege auf Stadtgebiet, obwohl auch diese in der Pandemie absolut betrachtet deutlich weniger geworden sind.
Vergleich Modalsplit 2010 vs. 2021
Vergleicht man nun, wie von der Gemeindeordnung vorgegeben, die Modalsplits der Hauptverkehrsmittel der Wege auf Stadtgebiet in den Jahren 2010 und 2021, wird die Zielvorgabe von Art. 154 Abs. 1 nicht annähernd erreicht: Anstatt wie angestrebt um zehn Prozentpunkte zu steigen, hat der prozentuale Anteil des ÖV, des Fuss- und des Veloverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen in diesem Zeitraum lediglich um 1,7 Prozentpunkte von 69,8 auf 71,5 Prozent zugenommen. Zwar haben die Anteile des Fuss- und des Veloverkehrs um insgesamt 6,8 Prozentpunkte zugenommen, zugleich ist aber der Anteil des ÖV um 5,1 Prozentpunkte zurückgegangen. Die Pandemiesituation, in der viele normalerweise mit dem ÖV absolvierten Arbeits-, Ausbildungs- und Freizeitwege einfach wegfielen und in der zugleich der ÖV aufgrund möglicher Ansteckungsgefahr tendenziell gemieden wurde, zeigt sich somit sehr deutlich im Modalsplit 2021 und damit auch in der Bilanz zum Modalsplit-Ziel.
Interpretierbarkeit der Bilanz
Dass der zeitliche Zielhorizont des Modalsplit-Ziels in eine weltweite Ausnahmesituation fallen und der Modalsplit deshalb 2020 gar nicht erhoben und 2021 ausserhalb der Norm liegen würde, war bei der politischen und methodischen Festlegung dieses Ziels nicht absehbar. Nun, da diese Lage eingetreten ist, kann und muss die Interpretierbarkeit der Bilanz zu Art. 154 Abs. 1 infrage gestellt werden. Wäre in der Gemeindeordnung stattdessen ein sinngemäss ähnliches, aber methodisch anders hergeleitetes Ziel festgelegt worden, beispielsweise eine Reduktion der auf Stadtgebiet gezählten Autoverkehrsfrequenzen, hätte eine während der Pandemie gezogene Bilanz auch positiv ausfallen können. Sie hätte aber ebenso als ausserhalb der Norm liegend bewertet werden müssen. Zusammenfassend betrachtet eignen sich die von der Pandemie geprägten Jahre 2020 und 2021 schlicht nicht, um die längerfristige Entwicklung von Verkehr und Mobilitätsverhalten in der Stadt Zürich zu beurteilen. Die nächste Datenerhebung des MZMV im Jahr 2025 wird hoffentlich in einer stabileren Weltlage stattfinden und in ihren Resultaten wieder in die langjährigen Zeitreihen einzuordnen sein.
Verkehrsentwicklung ab 2022
Mit der Normalisierung der Gesundheitslage im Verlauf des Jahres 2022 knüpfte auch die Verkehrslage in der Stadt Zürich wieder an die Entwicklungen bis 2019 an. Die MIV-Frequenzen erreichten im Jahresmittel 2022 bereits wieder dasselbe Niveau wie vor der Pandemie. Die Anzahl ÖV-Passagiere nahm nach dem Auslaufen der Corona-Eindämmungsmassnahmen im Jahresverlauf stetig zu und fiel Ende des Jahres nur noch leicht tiefer aus als im Vergleichsmonat 2019. Der Veloboom, der im Jahr 2021 durch ausserordentlich lange Schlechtwetterperioden ausgebremst wurde, zeigte sich 2022 wieder deutlich; noch nie seit dem Start der Velozählungen wurden auf dem Stadtgebiet so hohe Velofrequenzen erfasst wie in diesem Jahr. Das Ziel, den Anteil des ÖV, des Fuss- und des Veloverkehrs am Modalsplit zu erhöhen, darf deshalb weiterhin als erreichbar eingestuft werden und steht auch zukünftig im Zentrum der städtischen Mobilitäts- und Verkehrsplanung.
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