Stephanie Tuggener, Sie sind Co-Präsidentin von Lares und setzten sich für die Implementation des Genderaspekts ein. Was bedeutet der Begriff «Gender» im Kontext von Raum-, Verkehrs- und Mobilitätsplanung?
Der englische Begriff «gender» bezeichnet das soziale Geschlecht. Eine entsprechende Übersetzung fehlt in der deutschen Sprache. Im Unterschied zu «sex», welches das biologische Geschlecht bezeichnet und auf die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinweist, nimmt «Gender» die sozialen Rollen in den Blick. Weibliche und männliche Rollen und Aufgaben sind nicht naturgegeben, sondern werden durch unsere alltäglichen Handlungen immer wieder aufs Neue konstruiert und gesellschaftlich gefestigt.
Mit Blick auf die Planung bedeutet eine «Genderperspektive» genau hinzuschauen, welche räumlichen Strukturen dieses duale Geschlechtersystem unterstützen und reproduzieren und mit welchen Ansätzen mehr Handlungsoptionen geschaffen werden können. Ziel ist eine partnerschaftliche Gesellschaft, die «männlich» und «weiblich» konnotierte Tätigkeiten gleich gewichtet.
Eine gendersensible Planung berücksichtigt die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Nutzerinnen und Nutzern. Sie nimmt Rücksicht auf unterschiedliche Lebensphasen, soziale oder kulturelle Verhältnisse. Der vielfältige Alltag der Menschen ist Ausgangs- und Orientierungspunkt jeder Planung. Konkret kann das heissen, dass explizit die Auswirkungen von Planungsmassnahmen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen überprüft werden. Schliesslich geht es um eine höhere Qualität im Planungsprozess.
Können Sie uns für die Stadt Zürich Beispiele nennen, in denen die gendersensible Planung bereits realisiert wurde?
Ein vorbildliches Beispiel ist der Planungsprozess des Pfingstweidparks. Dort wurden – auch dank der Unterstützung von Lares-Fachfrauen – von Grün Stadt Zürich bereits im Wettbewerbsprogramm Genderkriterien integriert. Alle Teams erhielten die Aufgabe einen Plan «Gender Mainstreaming – Soziale Nachhaltigkeit» zu erstellen. Sie wurden also aktiv aufgefordert, sich mit den Bedürfnissen verschiedener Nutzerinnen- und Nutzergruppen auseinanderzusetzen. Basierend auf den Planungsempfehlungen zur gendersensiblen Gestaltung von öffentlichen Parkanlagen der Lares-Fachfrauen wurden im Wettbewerb Aussagen zu den Themen Parkränder / lineare Strukturen, Parkerschliessung / Wegnetz, Raumkonzept und Nutzungsangebote als Pflichtbestandteile des Plans gefordert.
Um es konkret am Beispiel von Kindern und Jugendlichen zu benennen: Studien belegen, dass Mädchen in öffentlichen Parkanlagen ab einem Alter von 9 - 13 Jahren (aber auch 14 - 18) im Vergleich zu Jungs zahlenmässig deutlich schwächer vertreten sind. Die Ursache für die Zurückhaltung der Mädchen in der Raumaneignung liegt in einem komplexen Zusammenspiel von räumlichen und sozialen Faktoren. Besonders verschärft manifestiert sich das Problem dort, wo ein Mangel an Spiel- und Bewegungsraum besteht und starke Verdrängungsmechanismen zwischen den verschiedenen Nutzungsgruppen der Parks zum Tragen kommen. Z. B. sollte das Wegnetz in einem Park Möglichkeiten zum «Runden drehen» bieten und verschiedenartige Sitzgelegenheiten bieten (sitzen / liegen, beobachten, mobiles Mobiliar, unterschiedliche Materialien), dies hat einen hohen kommunikativen Wert. Oder der Einbezug von integrativen Spielgeräten, die von mehreren Personen gleichzeitig nutzbar sind (z. B. Nestschaukel) erhöhen das Gemeinschaftsgefühl. Die bewusst gewählte Vielfalt, die Polyfunktionalität ist der Schlüssel dafür, dass eine Parkanlage auch für möglichst viele Personengruppen gerne genutzt wird.
Nebst dieser inhaltlichen Auseinandersetzung mit Gender als Aspekt der sozialen Nachhaltigkeit war die Anwesenheit der Lares-Fachfrauen bei der Jurierung ein weiterer Erfolgsfaktor. So erhielt der Aspekt der Nutzerinnen und Nutzer bei der Beurteilung der Projekte erneut Gewicht. Das Ergebnis ist ein vielfältiger, funktional vielschichtiger Park (mehr dazu in der Zeitschrift COLLAGE 3/19)
Gibt es besonders vorbildliche Städte? Was machen diese Städte anders?
Ein grosses Vorbild ist die Stadt Wien. Dort begann die Auseinandersetzung mit gender- und alltagsgerechten Räumen bereits in den 1990er Jahren. Mit der Einrichtung der Leitstelle «Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen» wurde das Thema in der Baudirektion der Stadt Wien verankert. Seither wurden zahlreiche Pilotprojekte umgesetzt, Leitfäden und Checklisten entwickelt, die auf die Planung in ganz Europa ausstrahlen. Ein Handbuch Gender Mainstreaming in der Stadtplanung und Stadtentwicklung würde ich mir auch für die Stadt Zürich wünschen.
Was macht Wien anders?
Das ist schwer zu sagen, ausschlaggebend war sicherlich die klare politische Unterstützung, die das Thema erhielt. Dazu gehört auch die Integration des Gender Mainstreamings in die Verwaltung. Ziel dieses Ansatzes ist eine geschlechtergerechte Gesellschaft mit gleichen gesellschaftlichen Strukturen, Start- und Rahmenbedingungen.
An welchen Merkmalen erkennt man als Laiin, als Laie, ob der Strassenraum, Plätze oder ein Gebäude gendergerecht gebaut wurde?
Ein einfacher Indikator ist, ob man sich zu jeder Tageszeit, an allen Wochentagen und im Verlauf der Jahreszeiten an diesem Ort wohlfühlt. In der Diskussion über frauengerechte Räume, welche v. a. in den 1990er-Jahren geführt wurde, stand das Thema Sicherheit im öffentlichen Raum im Fokus. Das subjektive Sicherheitsempfinden – sei es von jungen Männern, Seniorinnen oder Kindern – ist ein wichtiges Merkmal.
Wenn es um den Strassenraum geht, können Fussgängerinnen, Velofahrer, Menschen mit Rollator oder Kinderwagen schnell feststellen, ob der Raum gendergerecht geplant wurde. Können sich all diese Personengruppe ohne Hürden bewegen, handelt es sich um einen gendergerecht geplanten Raum.
Für Personen, die Sorge- oder Care-Arbeit leisten, sind kurze Wege und gute ÖV-Verbindungen zwischen Arbeits-, Wohn- und Einkaufsorten zentral. Sorge- oder Care-Arbeit umfasst alle Arten von gesellschaftlich notwendiger, reproduktiver Tätigkeit: von Kindererziehung über Hausarbeit bis hin zur Fürsorge temporär oder dauerhaft pflegebedürftiger Menschen. Auch die Vielfalt an Nutzungen des täglichen Bedarfs auf dichtem Raum ist ein Merkmal für eine gendergerechte Planung.
Wo setzen Sie und Ihr Verein an, damit das Anliegen des gleichberechtigten Zugangs zum Raum zur Selbstverständlichkeit wird?
Wir setzen auf Wissensvermittlung und Sensibilisierung. Dazu finden jährlich zwei Veranstaltungen statt. Bei «Lares on tour» besuchen wir mit Rundgängen vor Ort unterschiedliche Gebäude oder Plätze, die vor der Realisierung aus Gendersicht geprüft wurden. Die Erkenntnisse aus den Rundgängen bereiten wir als Lares-Faktenblätter auf. Unsere Fachpersonenliste ist eine weitere Möglichkeit für Interessierte, um einfach an Genderwissen zu gelangen. Gleichzeitig setzen wir uns damit auch für eine paritätische Vertretung von Frauen und Männern in Planungsteams oder Gremien ein.
Die Laren (lateinisch Lares; Singular Lar) sind übrigens die römischen Schutzgötter oder Schutzgeister bestimmter Orte und Familien oder öffentlicher Plätze und Wegkreuzungen.
Was können private Bauherrschaften, Liegenschaftenverwaltungen oder auch Unternehmen machen?
Sie sollten Genderkriterien in ihren Planungs- und Bauprojekten verankern. Hier können Planungsempfehlungen helfen. Diese geben Ideen für die Gestaltung privater Grünräume oder in Bezug auf die Aufenthalts-, Sicht- und Bewegungsqualität.
Gemischte Jurys und Teams sind ein weiterer Erfolgsfaktor. Es liegt auf der Hand: Eine homogene Gruppe hat ein anderes Erfahrungswissen, als gemischte Teams. Noch immer sind viele Planungsteams sehr homogen zusammengesetzt (häufig männlich, ab 40 Jahren…). Aber die Welt ist in Bewegung.
Weiterführende Hinweise
- Interview mit Eva Kail auf Deutschlandfunk Nova, Expertin für frauengerechtes Planen und Bauen beim Amt für strategische Planung der Stadt Wien über «Gender planning – einer Stadtplanung, die Frauen gerecht wird»
- Geschlechtssensible Verkehrsplanung
- Planungsempfehlung geschlechtssensible Gestaltung öffentlicher Parkanlagen
- www.lares.ch