Artikel erschienen am 26. Mai 2020
Was bedeutet für Sie Digitalisierung?
Mirjam Schlup: Für mich ist die Digitalisierung eine der grossen umfassenden Veränderungen in unserer Zeit, die ganz viele unserer Lebensbereiche betrifft. Auch bezogen auf die Stadtverwaltung und die Arbeitswelt im Generellen ist die Digitalisierung viel, viel mehr als ein IT-Projekt. Es geht darum, besser zu verstehen, wie wir unsere Schnittstellen zur Kundin, zum Kunden gestalten. Dies erfordert eine komplett andere Denkhaltung: Prozesse müssen aus dem Kundinnen- und Kundenerlebnis heraus gestaltet werden.
Dann ist Digitalisierung mehr als ein Projekt?
Ja, unbedingt. Digitalisierung ist ein umfassendes Organisationsentwicklungsvorhaben, das uns während der kommenden Jahre stark beschäftigen wird. Das habe ich auch meinen Mitarbeitenden gesagt: Glaubt nicht, dass die Organisation demnächst zur Ruhe kommt. Wir sind Teil der laufenden Veränderung. Wichtig dabei ist aber, dass es menschlich bleibt. Unserem menschenzentrierten Auftrag müssen wir Rechnung tragen.
Die Digitalisierung muss für Kundinnen und Kunden und für uns als Organisation nutzbringend sein.
Das klingt ambivalent: Ist die Digitalisierung ein Fluch oder ein Segen für die Sozialen Dienste?
Sie ist ein Segen und selten auch mal ein Fluch. Der springende Punkt ist: Sie ist eine Realität, der wir uns nicht entziehen können. Also stellt sich nicht die Frage, ob, sondern wie wir mit der Digitalisierung umgehen wollen. Welche Regeln geben wir ihr? Gestaltet die Technologie uns oder wir sie? Ich bin der Meinung, dass wir die Technologien gestalten und nutzen sollten. Wir sind weit davon entfernt, dass Maschinen über uns Menschen herrschen.
Welche Chancen ermöglicht die Digitalisierung den Sozialen Diensten?
Es ist schon eine Chance, dass wir uns intensiv mit unseren Prozessen beschäftigen. Entscheidend ist der Kundinnen- und Kundenfokus. Die Frage müsste also lauten: Welche Chancen ermöglicht die Digitalisierung unseren Kundinnen und Kunden? Diese interessieren sich nicht per se für Digitalisierung, sondern dafür, möglichst rasch einen Beratungstermin zu erhalten oder Geld. Also wollen wir ihnen digitale Zugänge bereitstellen, damit sie jederzeit Termine online reservieren, Anträge stellen und die notwendigen Dokumente hochladen können. Wichtig ist aber auch, dass die nachgelagerten Prozesse stimmen. Die Digitalisierung muss für Kundinnen und Kunden und für uns als Organisation nutzbringend sein. Digitalisierung per se hat keinen Wert.
Welche IT-Projekte beschäftigen die Sozialen Dienste im Moment?
Ein zentrales Projekt ist der digitale Posteingang. Wir scannen heute über 1 Mio. Briefe, Rechnungen, Bewerbungen und Anträge pro Jahr – manuell auf den Multifunktionsgeräten. Ab 2020 soll dies vorgängig zentral und automatisiert passieren, sodass wir über einen digitalen Posteingang samt automatisierter Weiterleitung verfügen. Der digitale Posteingang ist die Voraussetzung für zwei Folgeprojekte: den elektronischen Kreditoren-Workflow und das neue Fallführungssystem. Hier laufen die Entwicklungsarbeiten gemeinsam mit Bern und Basel im Rahmen des Citysoftnet. Diese Projekte sollen in den nächsten Jahren eingeführt werden. Kürzlich haben wir zudem den Online-Antrag für wirtschaftliche Sozialhilfe eingeführt. Damit können Personen, die in der Stadt Zürich wohnen und sich in einer finanziellen Notlage befinden, online Unterstützung beantragen. Die Einführung hat sich in der Corona-Pandemie bewährt.
Wie sieht es in der Beratung aus, einem Kerngeschäft der Sozialen Dienste – macht da Digitalisierung überhaupt Sinn?
Durchaus. Zwar ist und bleibt soziale Arbeit Beziehungsarbeit. Idealerweise sehen wir unsere Klientinnen und Klienten ab und zu persönlich, damit wir eine Verbindung aufbauen können. In den letzten Wochen haben wir jedoch Corona-bedingt viele Beratungsgespräche per Video durchgeführt. Gerade junge Zielgruppen waren sehr froh um diese Möglichkeit! Zudem werden wir auch Live-Chats in der Beratung mit Expertinnen und Experten prüfen. Allgemein gilt es, Mischformen von Online- und Face-to-Face-Beratung, das so genannte «Blended Counseling», näher anzuschauen. Zudem überlegen wir uns, für bestimmte Peergroups Chat-Foren zu moderieren, was allerdings rechtlich heikel ist. Was jedoch sicher ist: Die Anonymität von digitalen Kanälen kann auch eine Chance sein. Stichwort Gewalt- oder Suizidprävention – da sind digitale Kanäle viel niederschwelliger als ein Anruf oder ein Besuch.
Die Anonymität von digitalen Kanälen kann auch eine Chance sein.
Wie gehen Sie damit um, dass Ihre Kundinnen und Kunden über sehr unterschiedliche IT-Kenntnisse verfügen?
Wir müssen darauf achten, niemanden aufgrund technischer Barrieren auszuschliessen. Das bedeutet, dass wir mehrgleisig fahren müssen. Man kann also Beratungstermine bei uns online reservieren, aber natürlich auch anrufen oder persönlich vorbeikommen. Fakt ist jedoch, dass fast alle unsere Klientinnen und Klienten heute ein Smartphone besitzen. Die Digitalisierung hat alle Teile der Bevölkerung erreicht.
Wie gehen Ihre Mitarbeitenden mit dem Thema Digitalisierung um?
Ich versuche, das Thema Digitalisierung als Normalität zu vermitteln. Wir leben ja alle damit – in den letzten Wochen noch mehr als vor der Corona-Pandemie – führen Sitzungen virtuell durch, kaufen online ein. Darüber hinaus schulen wir unsere Mitarbeitenden; persönlich, aber auch im Intranet und durch professionelle Videos.
___________
Dieser Artikel erschien erstmals im Mai 2019 in einer stadtinternen Publikation und wird hier leicht überarbeitet und aktualisiert zum ersten Mal öffentlich publiziert.