Zu Tisch in der Kita Triemlispital
Mahlzeiten gehören in der Kita zu den Schlüsselsituationen. Beim Essen pflegen Kinder und pädagogische Fachpersonen Beziehungen. Sie reden miteinander und erleben die Speisen mit verschiedenen Sinnen. Essen soll den Kindern in seiner ganzen Vielfalt Freude und Genuss bereiten und ihre Autonomie von Anfang an ins Zentrum rücken.
«Können wir Essen hören?»
Text: Lea Schmidt, Kita-Leiterin Kita Triemlispital; Symbolbilder: Stadt Zürich (SEB), Anita Affentranger
Hinweis der Redaktion: Der folgende Text greift Essenssituationen auf und erläutert anhand dieser den pädagogischen Wert für die Kinder (jeweils kursiv gedruckt). Die Situationen setzen sich aus verschiedenen Begebenheiten zusammen. Die Kindernamen sind erfunden.
Mittagszeit in der Kita Triemlispital. Heute steht auf dem Menüplan: Mais-Lauch-Küchlein mit Ofengemüse und Bratkartoffeln, dazu Blattsalat mit Karottenblumen und Curryquark. Das Essen ist in durchsichtigen Schüsseln auf Kinderhöhe angerichtet. Die Kinder nehmen sich selbständig mit geeignetem Schöpfbesteck, was und wieviel sie essen möchten. Dem vierjährigen Leo fällt Salat herunter. Er weiss, wo er den Lappen findet, und wischt die Blätter und die Sauce selbständig weg.
Indem sie selbst schöpfen, üben Kinder motorische Fähigkeiten und durch das Abschätzen von Mengen mathematische Grundkompetenzen. Sie erleben zudem Autonomie und Selbstwirksamkeit.
Die dreijährige Anna hat sich bisher nur Bratkartoffeln geschöpft. Eine Fachperson fragt sie, ob sie vom Ofengemüse probieren möchte. Anna schüttelt den Kopf. Eine andere erwachsene Person lobt den feinen Duft der Küchlein und lädt sich eins auf den Teller. Anna überlegt kurz und nimmt sich auch ein Küchlein.
«Müssen Kinder beim Essen probieren?» ist oftmals eine Frage bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Essen. Unsere Antwort lautet klar: «Nein!». Mit einem «Nein» signalisiert ein Kind seine Grenze, die wir wahren. Viel mehr wollen wir Fachpersonen durch das Zeigen von Freude und Genuss beim Essen Vorbild sein.
Jeweils fünf bis sechs Kinder setzen sich mit einer Fachperson an einen Tisch. Während sich die Erwachsenen für die Essensituationen eine entspannte und harmonische Atmosphäre wünschen, gleicht die Realität eher einer Raubtierfütterung. Die Kinder haben Hunger und wollen am liebsten sofort anfangen zu essen.
Das sollen sie auch! Kleinkindern ist es aus entwicklungspsychologischer Sicht nicht möglich, Empathie und Rücksicht zu empfinden. Um geduldiges Abwarten zu lernen ist der Esstisch der falsche Ort. Diese Lernerfahrungen machen Kinder in anderen Situationen, zum Beispiel, wenn die heiss begehrte Schaukel gerade von einem anderen Kind besetzt ist oder die Bezugsperson sich einem anderen Kind widmet.
Luana hat erst vor einer Woche in die Gruppe der Grösseren gewechselt. Sie ist erschöpft von all dem Neuen und schläft am Tisch fast ein.
Wenn ein Kind müde ist, darf es den Mittagsschlaf vorziehen und später essen. Die Bedürfnisse der Kinder stehen bei uns im Mittelpunkt.
Rion hat sich einen Berg Ofengemüse auf den Teller geladen, von dem er genussvoll isst. Vielleicht ist Gemüse doch etwas Feines? Anna holt sich auch noch etwas davon.
Nicht nur die Erwachsenen, sondern auch andere Kinder können eine Vorbildfunktion übernehmen und zum Probieren anregen.
Alle hören gespannt zu, als Leo erzählt, dass er in den letzten Ferien versucht hat, Nudeln mit Stäbchen zu essen. Rion befühlt sein Gemüse und überlegt laut, wie gut er dieses mit Stäbchen essen könnte. Die Fachperson wirft die Frage auf, ob wir Essen hören können.
Essen ist nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern eine wichtige Zeit für das Miteinander und den Austausch. Oft sprechen wir über den Körper und unsere Sinneserfahrungen. Während der Mahlzeiten erleben die Kinder, wie Essen aussieht, riecht, schmeckt und sich anfühlt. Finger dürfen benutzt werden. So finden die Kinder heraus, was es bedeutet, wenn die Erwachsenen sagen, dass der Kartoffelstock «weich» oder die Sauce «feucht» ist.
Ein Blick in die Säuglingsgruppe. Meriam hat vor Kurzem sitzen gelernt und isst am Tisch mit. Vor ihr liegen Avocado-Streifen. Sie drückt sie mit den Fingern, nimmt ein Stück in die Hand und schiebt es sich in den Mund. Sie greift nach dem nächsten Streifen.
In Anlehnung an «Baby-led Weaning» (dt. babygeleitete Entwöhnung) bieten wir Säuglingen ergänzend zu Brei geeignete Lebensmittel, die sie selbständig essen können, zum Probieren an. Hierbei berücksichtigen wir den Entwicklungsstand des Kindes und tauschen uns regelmässig mit den Eltern aus.
Die Fachperson hält Meriam ein gegartes Karotten-Stäbchen hin. Meriam dreht sich entschieden weg. Die Fachperson legt das Karottenstück zurück auf den Teller.
Wir unterstützen die Kinder dabei, ihre eigenen Grenzen zu erkennen. Bei den Säuglingen achten wir auf nonverbale Signale. Die älteren Kinder fordern wir beispielsweise nach der dritten Portion dazu auf «ganz tief in den Bauch zu hören», um sicherzustellen, dass er wirklich noch nicht voll ist. Selbstbestimmung und Körperbewusstsein sind uns ab dem Säuglingsalter wichtig. Wir können darauf vertrauen, dass gesunde Kinder ihr Hunger- und Sättigungsgefühl selbst regulieren können. Lebensmittel dienen weder der Belohnung noch der Strafe.
Zurück in der Gruppe der Grossen. Alle sind satt und stellen ihr benutztes Geschirr auf die bereitstehenden Servierwagen. Ist alles erledigt, schnappen sich die Kinder ihren Waschlappen, um sich das Gesicht vor dem Spiegel abzuwischen.
Das gemeinsame Abräumen des Geschirrs und die selbständige Reinigung ihres Gesichts vermittelt den Kindern Verantwortungsbewusstsein.