Mit Kindern in den Dialog treten
Der Spracherwerb von Kindern kann auf unterschiedliche Weise gefördert werden: in vorbereiteten Sequenzen, aber auch in Alltagssituationen. Lässt man Kindern Raum und Zeit, entstehen spannende Fragestellungen und Dialoge, wie das Beispiel der Kita Selnau zeigt.
Text: Constanze Cervenka und Bonali Kikwakwa
Madeleine kommt am Morgen in die Kita und zeigt in der Garderobe ihre nassen Gummistiefel. Sie erzählt vom Regen: «Meine Gummistiefel sind ganz nass geworden!» «Das stimmt! Ich kann die Regentropfen sogar noch auf deinen gelben Gummistiefeln sehen!», antworte ich ihr. Madeleine bückt sich und schaut sich die Tropfen ganz genau an. Wir kommen direkt ins Gespräch. Sie packt ihren Rucksack aus und zeigt voller Stolz ein Märchenbuch, das sie heute mit ihrer Mama eingepackt hat.
«Meine Gummistiefel sind ganz nass geworden!»
Sprachförderung passiert nicht nur in vorbereiteten Situationen, sondern beginnt, wenn das Kind am Morgen die Kita betritt. Unsere Fachpersonen sind für solche Alltagssituationen sensibilisiert und treten mit den Kindern bewusst in Interaktion. Sie sprechen mit den Kindern anregend und unterstützend, nehmen ihre Bedürfnisse und Signale wahr und reagieren altersgerecht und individuell. Alltagsintegriert erwerben die Kinder so ihre sprachlichen Fähigkeiten. Die Fachpersonen nehmen sich aber auch immer wieder gezielt Zeit für geführte Interaktionen wie dialogische Bilderbuchbetrachtungen. Dabei wird das Buch als ein Medium verstanden, das dazu dient, die Kinder zum Sprechen anzuregen und mit ihnen in den Dialog zu treten. Die Kinder geniessen die Zeit des Vorlesens sehr. Sie tauchen in die Geschichten ein, hören genau zu und teilen ihre Gedanken mit der Kindergruppe.
Gespräche aus dem Morgenkreis
Im Morgenkreis zeigt Madeleine allen Kindern ihr neues Buch: das Märchen von Aschenputtel. Sie erzählt, wie ihr Papa ihr Märchen vorliest, bevor sie schlafen geht. Auch andere Kinder beginnen zu erzählen von ihrem Einschlafritual. Die Fachperson nutzt das Buch spontan für eine dialogische Bilderbuchbetrachtung. Und so entsteht ein angeregtes Gespräch: «Gibt es heute auch noch Prinzessinnen?», fragt ein Kind. «Nein, die gibt es nur in den Märchen!», antwortet ihr ein anderes Kind. Dieser Frage muss die Gruppe auf den Grund gehen. «Das ist eine interessante Frage von dir. Was meinen die anderen Kinder dazu?» Was wird spekuliert!
«Ich habe noch nie eine Prinzessin gesehen!» «In Zürich gibt es keine Prinzessinnen und Prinzen.»
«Mein Papa war in England und er erzählte mir, da gibt es ein Königshaus.» «Stimmt, ein Bild der Königsfamilie habe ich vor wenigen Tagen in der Zeitung gesehen. Dort lebt sogar eine Königin, die Queen genannt wird», erweitert die Fachperson das Gespräch der Kinder. «Leben alle Prinzessinnen in einem Schloss?», fragt ein Kind weiter. «Kommt, wir suchen auf der nächsten Seite das Schloss», erwidert die Fachperson. «Da!», zeigt sogar das jüngste Kind mit seinem Zeigefinger direkt auf das imposante Schloss.
Sprachförderung im Kita-Alltag
Um die Interaktionsqualität im Alltag zu fördern gibt es verschiedene Methoden. Wir in der Kita Selnau haben uns für vier Ansätze entschieden, die wir in unserem pädagogischen Alltag nutzen. Die rhythmische und musikalische Sprachförderung und der Umgang mit Kinderfragen eignen sich besonders gut für die jüngeren Kinder. Mit Liedern, Reimen und Versen im Morgenkreis sowie bei verschiedenen Ritualen im Alltag steht die rhythmische und musikalische Sprachförderung im Vordergrund. Für die Methode «Umgang mit Kinderfragen», bei der Fragen der Kinder aus ihrer eigenen Lebenswelt im Zentrum stehen, spielen auch die Raumgestaltung und das Material eine wichtige Rolle. Sind die Materialien und die Bildungsbereiche in der Kita den Themen und Interessen der Kinder angepasst, entstehen interessante Kinderfragen über ihre Lebenswelt.
Die Methoden der dialogischen Bilderbuchbetrachtung und das Philosophieren mit Kindern setzen gewisse Kompetenzen der Sprachentwicklung bei den Kindern voraus. Bei der dialogischen Bilderbuchbetrachtung geht es nicht darum, die Geschichte oder das Bilderbuch fertig zu erzählen, sondern den Kindern eine Situation zu bieten, um Fragen zu stellen, sich emotional in die Rollen einzufühlen, zu diskutieren oder die Geschichte weiterzuspinnen, wie die Szene mit Madeleines Märchenbuch zeigt. Durch das dialogische Vorlesen entstehen viele interessante Kinderfragen, wobei sich die ganze Kindergruppe engagiert Antworten ausdenkt. Dies setzt voraus, dass die Erzählenden die Geschichte gut kennen sowie Raum und Zeit lassen, damit die Kinder ihre Gedanken bilden können. Beim Philosophieren werden Antworten über die eigene Lebenswelt gesucht, erforscht und geformt. Dabei ist besonders wichtig, dass die Erwachsenen offen sind und Zeit haben für fantasievolle oder auch realistische Antworten der Kinder. Diese werden ernst genommen, besprochen und vertieft, so dass das Interesse der Kinder auch im Alltag beachtet und aufgenommen werden kann.
«Wir haben herausgefunden, dass es immer noch Prinzessinnen gibt. Eine Prinzessin lebt in diesem Schloss. In einem Wolkenschloss.»
Am Abend, als Madeleine von ihrem Papa abgeholt wird, erzählt Madeleine mit mir von ihrem ereignisreichen Tag. «Wir haben heute mein neues Buch von Aschenputtel gelesen!», beginnt Madeleine zu erzählen. «Und wir haben herausgefunden, dass es immer noch Prinzessinnen gibt», führe ich das Gespräch weiter. «Ist nicht wahr! Und wo leben diese Prinzen und Prinzessinnen heute?», fragt Madeleines Vater. «Eine Prinzessin lebt in diesem Schloss», meint Madeleine und streckt ihrem Papa ihr selbstgemaltes Bild hin. «Sie lebt in einem Wolkenschloss.»
Wie es wohl sein mag so hoch oben zu wohnen?