Erica Hänssler
«Das schwebende Leben»: Erica Hänssler (7.11.1947-1.1.2016)
Von Halina Pichit, Stadtarchiv Zürich
«Meine Zeit war ein Geschenk der Ewigkeit, etwas, das dauert und etwas, das verfliegt wie Schnee. […] Das schwebende Leben. Es liegt zwischen Buchstabe und Buchstabe, zwischen einer unendlichen Einsamkeit und einer unendlichen Zärtlichkeit, zwischen der Wolke des Vergessens und der Wolke des Nichtwissens.» (Das Milchstrassen Alphabet. Im Universum der Dichtung, Zürich 2014), schrieb Erica Hänssler im November 2014. Am ersten Januar 2016 verliess sie «das schwebende Leben» für immer.
Theater und «Königin im Kellergeschoss» (Die Weltwoche, 15.04.1995)
Erica Hänssler, Leiterin des Theaters Stok, Schauspielerin, Regisseurin, Dramatikerin, Autorin, Grafikerin, Bühnenbildnerin, Masken- und Kostümmacherin, Sängerin. Im ihrem Lebenslauf von 1976 schrieb sie:
Heimatort - Bremgarten bei Bern, Primar- und Sekundarschule in Zürich, Collège und Gymnasium in Lausanne, ein paar Monate Germanistik an der Universität Wien, Schauspielschule Elisabeth Barth und Abschlussprüfung in Karlsruhe, Interesse: «Theater-Theater-Theater». Jahre später hiess es nur noch: «Mein Leben ist das Theater. Punkt.» (Tages-Anzeiger, 31.10.1991).
Das Theater, ihr «Theater», war das 1970 von Zbigniew Stok gegründete Kammertheater, das sie zusammen mit ihm seit 1972 bespielte und nach Stoks Tod 1990 weiterführte, ab 1992 zusammen mit Peter Doppelfeld. Das Weiterführen des Theaters betrachtete sie als Zbigniew Stoks Erbe – sein kompromissloses «Theater Total», das «durch den hautnahen Kontakt mit dem Publikum ein Mitspiel des Zuschauers» anstrebte, ein «Raumtheater, keine Guckkastenbühne» (Was bezweckt das Kammertheater?, Zbigniew Stok 1971).
Über 70 Eigenproduktionen entstanden in Stoks Theaterkeller, mit sehr bescheidenen Mitteln. Sie wurden in der ganzen Schweiz und im Ausland erfolgreich aufgeführt; erwähnt seien hier die wichtigsten Theaterbühnen in Berlin, Saarbrücken, Villach, Wien, Breslau, Venedig und Buenos Aires oder Kiew. Die Aufführungen mit Texten von Karl Kraus, Joachim Ringelnatz, Rainer Maria Rilke, Walter Mehring, Heinrich Heine, Karl Valentin, Samuel Beckett, Else Lasker-Schüler, Franz Kafka und vielen anderen wurden vom begeisterten Publikum mit grossem Applaus belohnt und als unvergesslich bezeichnet, von ausländischen Kritikern und Kritikerinnen hoch gelobt – in Zürich oft gar nicht wahrgenommen und «beim Subventionenboom […] praktisch immer wieder stillschweigend übergangen», schrieb das Aargauer Tagblatt am 3. April 1990. Für die Unterstützung und Anerkennung des Theaters Stok haben sich prominente Zürcherinnen und Zürcher wie Emil Landolt, Adolf Muschg, Elisabeth Brock-Sulzer, Lilian Uchtenhagen und Erwin Parker stark eingesetzt.
Theatermuseum und Atelier - «Poesie für Herzbetrunkene und andere Verrücktheiten» (Aargauer Tagblatt, 03.04.1990)
Das Theater Stok am Hirschengraben 42 und Stoks Theatermuseum am Sihlquai 252 in Zürich sind nicht voneinander zu trennen. Wer nur einmal das Theater-Wohn-Atelier Stok betrat, begrüsst vom Herrn und Beschützer des Hauses – der «Faun» Peter Doppelfeld – sah sich in eine ungewöhnliche Welt versetzt: Masken, Requisiten, Figuren, Kostüme, Puppen und Zwerge, Tische und Stühle, die Schuhe tragen. Die Frau des Hauses, die «Fee» Erica Hänssler, bemerkte man erst auf dem zweiten Blick. Sie stand oben auf der Galerie, aufs Geländer gestützt – und lachte leise, voll Wärme und Neugier. Dann erzählten die Fee und der Faun vom ihrem «Schloss»: Hier wird gelebt, gearbeitet, diskutiert, gelesen, hier sind neue Ideen und alle Theaterproduktionen mit «unbequemen» Texten von «unbequemen» Autoren entstanden. Textbücher, Notizen und Skizzen, Fotografien und Aufführungsaufnahmen, Kritiken, Plakate, Programme wurden sorgfältig von Erica Hänssler aufbewahrt und mit Hilfe von Peter Doppelfeld geordnet.
Das Archiv der kleinen, ganz grossen Zürcher Bühne
Das Archiv des Theaters Stok wurde von Erica Hänssler und Peter Doppelfeld am 1. Dezember 2014 als Schenkung dem Stadtarchiv Zürich übergeben. Der Bestand (Signatur: Stadtarchiv Zürich VII. 543.) enthält den Teilnachlass von Zbigniew Stok und die Akten über die Gründung, Einrichtung, Führung und die Produktionen des Theaters Stok. Zurzeit befindet sich das Archiv in Bearbeitung, ab spätestens Ende 2016 wird es dem Publikum zugänglich gemacht werden.