Seegfrörni 1962/1963
Erlebnisse rund um die Seegfrörni 1962/1963
Die Seegfrörni 1962/1963 aus der Sicht eines ehemaligen Seepolizisten
Am 1. Oktober 1957 begann ich die Polizeischule in Zürich bei der Stadtpolizei, da ich als gelernter Baufachmann damals spüren musste, wie die Arbeitsaufträge massiv zurückgingen. Als guter Schwimmer und Wassersportler, aufgewachsen am Stausee Wettingen, bin ich den Ausbildnern beim Fahren auf der Limmat und beim Schwimmen wohl aufgefallen. Am 1. Oktober 1962 wurde ich auf Antrag des Chefs Seepolizei ins Bootshaus am Mythenquai umgeteilt, wo ich ab sofort dem damaligen Tauchchef direkt unterstand. Viele Bergungen, Rettungen und Hilfeleistungen durfte ich mit ihm quer durch die Schweiz unternehmen, da Polizeitaucher in der Schweiz damals dünn gesät waren. Doch dann kam für uns alle die grosse Überraschung!
1. Wetterlage und erste Eisbildung
Mitte November 1962 bis 9. Dezember 1962 trat die erste Kälteperiode des Winters 1962/63 ein. Eine zweite Kältewelle begann kurz vor Weihnachten und dauerte bis Ende des Jahres 1962. Die kleineren Seen des Mittellandes waren zugefroren und auf dem Zürichsee lag die Eisdecke von Rapperswil bis zur Halbinsel Au. Ebenso waren das untere Seebecken und die Uferpartien bis zur Au zugefroren. Viel Nervosität kam auf bei den Seeanstössern, den Wassersportvereinen mit ihren Steganlagen und Bojen, den Bootsvermietern und vor allem bei den Schiffsbesitzern, die den Moment der Auswasserung verpasst hatten. Sie alle bestürmten damals über Tage das Büro des Chefs der Seepolizei mit Fragen und nicht mehr realisierbaren Forderungen. Ein grosser Temperatursturz erfolgte vom 22. auf dem 23. Dezember 1962 mit klirrend kalten und klaren Nächten und man sah das Eis buchstäblich wachsen. Anfang Januar 1963 überzog dann die Eisfläche den tiefsten Teil des Zürichsees auf der Höhe der Halbinsel Au. Ab 22. Januar 1963 mussten die Zürichsee-Schifffahrtsgesellschaft und der Fährbetrieb Horgen-Meilen ihre Fahrten einstellen. Am 24. Januar 1963 war der See von Schmerikon am Obersee bis Zürich durchgehend zugefroren, ebenso alle Weiher und Kleinseen. Sogar der Bodensee und einzelne Flüsse wiesen eine Eisdecke auf. Nicht nur die Menschen, nein auch die Fische und die vielen Wasservögel verstanden die Welt nicht mehr!
2. Massnahmen und Entscheide
Ebenfalls am 22. Januar 1963 setzen sich der Polizeivorstand mit dem Polizeiinspektor und dem Chef der Seepolizei zu einer ersten Besprechung über die zu treffenden Massnahmen zusammen. Viele wichtige Vorentscheide wurden gefällt und bereits Aufgaben und Aufträge verteilt und übertragen. Plötzlich war alles anders. Unsere Rettungsschiffe waren eingelagert. Die Bootshalle am Mythenquai war leer und die Rolltore senkten sich nur bis zur Eisfläche. Dafür stand darin ein Gummiboot auf Alukufen bereit, bestückt mit Rettungswesten, Eisbohrer und Eisschichtmessgerät. Jeden Morgen und jeden Abend mussten wir die Messungen der Eisdicke an fünf festgelegten Orten durchführen. Für uns war das eine riskante Arbeit, wenn man bedenkt, dass das Wasser unter dem Eis nur gerade 2° Celsius aufwies. Deshalb das Gummiboot zum Nachziehen und die dauernde Bereitschaft zum "Tellsprung"! Unvergesslich sind für mich die vielen Augen, die uns teils bewundernd, teils mit wartender Schadenfreude musterten. Dauernd waren wir im Einsatz um angefrorene Wasservögel zu befreien. Dafür hatten wir immer warmes Wasser in Militärkanister bereitgestellt. Pech hatte unser Lastwagenchauffeur, der am Bellevue stand und am Funk nach Diesel rief. Er musste mit seinem Fahrzeug in die Garage abgeschleppt werden, weil kein Treibstoff mehr zu bekommen war. Parallel dazu liefen die Arbeiten in unserer Werkstatt auf Hochtouren. Dort wurden Plakatsäulen produziert, die mit den Vorschriften für die Bevölkerung beklebt wurden. Von allen nur möglichen Baugeschäften wurden Holzleitern angeliefert, welche bei uns mit Schubvorrichtungen zu Rettungsleitern umfunktioniert wurden. Rettungsweidlinge wurden auf Kufen montiert, Sirenen mit Batterieanschluss in tragbare Kisten montiert. Die Sturmwarnanlage wurde überprüft und für allfällige Alarmmeldungen vorbereitet. Zusätzlich mussten durch uns die verschiedenen Weiher und die Katzenseen überwacht werden. Ebenso die Sihl, die bei einsetzendem Regenwetter drohte, mit ihren schiebenden Eisplatten Brückenpfeiler, ja sogar den Bahnhof zu gefährden. Es bestand nämlich die Möglichkeit, dass die Sihl bei zu grosser Wasser- und Eismenge mit Eisplatten den Durchfluss unter dem Bahnhof blockieren und sich das Wasser einen Weg über die Gleisanlagen suchen würde. Um derartige Eisplatten zurückzuhalten, wurde nachträglich im Allmendgebiet das heutige Eiswehr erstellt.
Rund um den See herrschte ein emsiges Treiben und Arbeiten. Das Hochbauinspektorat, das Tiefbauamt und diverse Baufirmen waren bereits damit beschäftigt, provisorische Fussgängertreppen einzurichten, damit die Bevölkerung verteilt auf die Eisfläche gelangen könnte. Aber auch beim Gewerbekommissariat wurden, nachdem der zugefrorene See eine Vielzahl fliegender Händler auf den Plan gerufen hatte, Bewilligungen für Maroni-, Grillwürste- und Getränkeverkauf eingeholt. Noch rechtzeitig hat uns der Chef mit Schlittschuhen ausgerüstet. Nur eine Woche später war der ganze Kanton Zürich ausverkauft, nicht einmal mehr Ladenhüter waren zu erstehen. Zusätzlich erhielten wir vier Motorschlitten und einen Rettungskanadier. Für uns anfänglich ein ungewohnter Anblick: Rettungsschlitten in einer Bootshalle!
3. Belastungsprobe und Gipfelkonferenz
Die Bevölkerung verfolgte mit Spannung die täglichen Berichte in den Medien und alles bereitete sich auf den Tag "X" vor. Sogar die SBB planten Extrazüge. Doch noch war es nicht so weit. Der legendäre Chef der Seepolizei, "Admiral Heiri Müller", holte den bekannten Wissenschaftler der ETH, Dr. Rötlisberger, Chef der Hydrologie und Glaziologie auf den Platz. Am 30. Januar 1963 führte dieser bekannte Eisspezialist die für mich sehr eindrückliche Belastungsprobe durch. Im Tiefenbrunnen, ca. 80 m vom Ufer entfernt, wurden unter seiner Leitung mehrere Blechfässer à 200 Liter in einem grösseren Kreis aufgestellt. Mit einer Kettenfräse wurde weit vom Geschehen ein Loch in die Eisdecke gefräst, woraus dann mit Pumpe und Schlauch Wasser in der gewünschten Reihenfolge in die Fässer abgefüllt wurde. Die zur anschliessenden Gipfelkonferenz gehörenden Politiker und Chefbeamten zogen sich immer weiter vom Fässerkreis zurück und bestiegen schliesslich den Weidling auf Kufen. Der Wissenschaftler aber arbeitete ruhig mit Ohren, Augen, Bleistift und Papier weiter, bis es krachte. Die Fässer waren weg und er stand ruhig und lächelnd auf einer Rettungsleiter. Seine Angaben zum Belastungstest: 2'400 kg auf 10 m Durchmesser senkt das Eis 15 cm und nach 2 Stunden bricht das Eis. Darauf wurde entschieden: Die Eisfläche wird am 1. Februar 1963 für die Bevölkerung ab 12.00 Uhr freigegeben. Die Eisdicke an den 5 Messstellen betrug:
Schiffsteg Wollishofen 10,5 cm
Schiffsteg Zürichhorn 12,6 cm
Seepolizei Mythenquai 13,0 cm
Seepolizei Tiefenbrunnen 13,5 cm
Schiffsteg Bürkliplatz 13,2 cm
Die Eröffnung wurde durch den Polizeivorstand über die Medien bekannt gegeben. Ebenso wurden die Vorschriften, Gebote und Verbote illustriert. Auch die SLRG hat bei der Aufklärung mitgeholfen und ebenfalls vor Ansammlungen von Personen gewarnt. Zudem wurde das Befahren der Eisfläche mit Motorfahrzeugen jeder Art verboten. Die Weisungen des Polizeiinspektorates wurden auf grossen gelben Plakaten am Ufer angeschlagen mit der Aufforderung, beim Ertönen der Alarmsirenen sofort die Eisfläche zu räumen. Unter dem Motto "Gefährde Dich nicht und nimm Rücksicht auf die andern" enthielten sie folgende zehn Verhaltensregeln:
1. Den Anforderungen der Polizei ist unverzüglich Folge zu leisten
2. Rote Fahnen und rote Laternen bezeichnen die Stellen, an denen Rettungsgeräte niedergelegt sind
3. Absperrungen dürfen unter keinen Umständen überschritten oder zerstört werden
4. Die Rettungsleitern dürfen nicht als Sitzgelegenheiten benützt werden
5. Um Notrufe Verunfallter hören zu können, ist das Lärmen auf dem Eis zu unterlassen
6. Grössere Ansammlungen sind zu vermeiden
7. Die Eisfläche ist zur Nachtzeit oder bei Nebel zu verlassen
8. Es dürfen keine Gegenstände auf das Eis geworfen werden, da diese die Benützer der Eisfläche gefährden
9. Ist jemand in das Eis eingebrochen, so soll er sich entweder flach auf das Eis legen oder die Arme seitwärts ausbreiten
10. Bei im Eis Eingesunkenen darf sich nur die Rettungsmannschaft aufhalten, Ansammlungen gefährden jeden Einzelnen.
4. Eröffnung und Rekordbesuch
Im Restaurant Fischstube wurde die Wache Eispolizei eingerichtet. In Uniform, auf Schlittschuhen und mit Funk stand sie bereit. Ich werde nie die knisternde Spannung beim Volk am Ufer, bei unseren Vorgesetzten und bei uns selber vergessen. Am 1. Februar 1963 gegen 12.00 Uhr wurden die Absperrungen bei den Fussgängertreppen geöffnet. Das Volk strömte buchstäblich von überall her aufs Eis. Die Spannung stieg, obwohl wirklich alles für eine allfällige Rettung bei uns und bei der Sanität bereitgestellt war, als der See immer dunkler wurde und das weisse Eis immer mehr verschwand. Es war der eindrücklichste Tag in meinen 38 Dienstjahren. Bis auf wenige, kleinere Zwischenfälle verlief alles geordnet. Trotzdem hatten wir alle Hände voll zu tun. Bei Bagatellunfällen mit den Schlittschuhen entstand immer ein grosser Menschenauflauf, wollte doch jeder sehen war los war, insbesondere wenn wir mit dem Motorschlitten kamen. Die Leute strömten zusammen, dann ein Krachen im Eis, ein Grollen und wir waren wieder allein mit dem Verletzten. Viele Kinder gingen verloren und wurden als vermisst gemeldet. Die grösseren Kinder tauchten dann meist wieder auf Schlittschuhen weiter See aufwärts auf. Ca. 100'000 Besucher wurden geschätzt. Während der Woche war es jeweils ruhiger. Nur in der Nacht grollte das Eis, wenn die grossen Risse entstanden. Dann fuhren wir zu zweit mit dem Motorschlitten aus, mit Notstromaggregat und Scheinwerfer, um die Risse zu begutachten und abzuklären, ob sie abgesperrt werden müssen oder um nächtliche Überquerer vom Eis zu weisen. Diese Risse konnten sehr gefährlich sein und zur Todesfalle werden, wenn der Druck das Eis nach unten durchbrechen liess. Fiel hier eine Person hinein, so war sie ohne sofortige Rettung aussichtslos verloren. Leider konnten drei solcher tödlichen Unfälle auf dem Zürichsee nicht verhindert werden.
Am Samstag, 10. Februar 1963, als die Dicke der Eisdecke schon 25 cm betrug, strömten über 150'000 Personen auf das Eis. Wir hatten uns schon an die Menge gewöhnt. Es gab die üblichen Unfälle wie Prellungen und Armbrüche von Stürzen mit oder ohne Schlittschuhe. Entsprechendes Gelächter gab es natürlich, wenn Polizisten plötzlich am Boden lagen, oder als beim Einfluss Hornbach ein Seepolizist mit dem Motorschlitten wegen einer Rettung auf zu dünnes Eis fuhr und dadurch samt Schlitten einbrach. Trotzdem konnte er die sich dort in Not befindende Personen retten, wofür es dann entsprechenden Applaus gab. Wir Seepolizisten konnten natürlich das Lachen nicht verbergen, als unser Chef mit dem Motorschlitten in einer Kurve seitlich kippte und dabei den mitfahrenden Polizeivorstand auslud!
Vom 20. - 23. Februar 1963 musste die Eisfläche wegen eines Wärmeeinbruchs gesperrt werden. Ab 24. Februar bis 8. März 1963 war sie aber wieder begehbar. In dieser Zeit zeichneten sich gewaltige Pressungen in der Eisfläche ab. Gefährliche, kilometerlange Risse entstanden. Stege, Pfähle und Stahlkonstruktionen wurden wie Streichhölzer krumm gedrückt, schwimmende Badeanlagen und Uferverbauungen blieben auch nicht verschont. Schiffe erlitten im Eisdruck Schäden oder sanken plötzlich auf Grund, wie zum Beispiel der grosse Nauen "Arche". All diese Stellen mussten abgesperrt werden.
5. Das Bangen auf den Rückzug des Eises
Nach 35 Tagen musste die Eisfläche auf dem ganzen Zürichsee gesperrt werden. Das warme Wetter hatte die oberste Schicht aufgeweicht, das Eis wurde faul. Man hoffte allgemein auf ruhiges Wetter, damit keine Eisplatten verschoben wurden und dadurch grössere Schäden entstanden. Bis Ende März löste sich dann die Seegfrörni zu unserer grössten Zufriedenheit still und leise in nichts auf. Dankbar und erleichtert durften wir unsere Motorschlitten wieder gegen Rettungsboote tauschen und unsere Schlittschuhe abgeben. Auch die Zürichsee-Schifffahrtsgesellschaft und die Ledischiffe fuhren wieder ungehindert und die vielen Wasservögel genossen es, sich wieder im Wasser aufhalten zu können. Es dauerte aber noch viele Wochen, bis alle Folgeschäden beseitigt waren.
Die Jahre einer vollen Seegfrörni
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