Ahnengalerie mit Bildstörung
Yves Netzhammers monumentale Wandarbeit im Personalrestaurant im Bettenhaus des Stadtspitals Triemli fragt nach unserem Umgang mit Bildern des Gesichts.
Auf den ersten Blick wirkt das Werk wie eine Ahnengalerie mit Bildstörung. Die Rahmen sind verzogen, zuweilen bizarr, die Gesichter entstellt und dazwischen finden wir ein Geschöpf in der Reihung, das ganz bestimmt nicht menschlich ist. Der Titel der Arbeit hilft uns zunächst nicht weiter, verwirrt den Betrachter und die Betrachterin zusätzlich. Bei der Erarbeitung eines möglichen Vokabulars für seine filmischen und installativen Arbeiten sucht Yves Netzhammer (*1970) zunächst im Medium Zeichnung nach Formen des Ausdrückbaren. «Die mentalen Bühnenräume», die sich in seinen künstlerischen Schöpfungen finden, sind somit eigentlich die Fortsetzung der Zeichnung (und der Zeichen) mit anderen Mitteln.
Für seine monumentale Wandarbeit «Gerichte, Gesichte, Gewichte» spürt er diesen Ursprüngen nach und erarbeitet sich eine monumentale Zeichnung, die den Raum (und unsere Wahrnehmung) durchmisst, gewichtet und hinterfragt. Der ornamentale Teil, die Sockelleisten eines Zimmers oder die Rahmen einer Zeichnung, werden zu Linien, zu einem beinahe erzählerischen Element, das Bezüge herstellt und verwirft. Die möglichen Interpretationsebenen, die beim Betrachten und Zusammensetzen der Elemente entstehen, lassen uns nicht mit einer konventionellen Erkenntnis, nicht mit einem Aha, sondern mit einer Ahnung und weiterführenden Fragen zurück. Mit etwas Fantasie können wir uns vorstellen, dass es der Installation genauso geht, dass im möglichen Bewusstsein des Werkes der Besucher verschwommen bleibt, eine Erscheinung wie eine flirrende Zeichnung.
Jagd nach dem Authentischen und Einmaligen
Wenn wir von einer Person sprechen, meinen wir zuerst den Menschen, das Individuum, das sich durch seine Einzigartigkeit auszeichnet. Paradoxerweise hat die Zunahme der virtuellen Welten dazu geführt, dass wir immer mehr Wert auf das vermeintlich «Authentische» legen. Politikerinnen und Politiker müssen authentisch sein, das Essen beim Chinesen genauso wie die Wanderung durch die Wälder des Unterengadins. In der Begegnung mit anderen Menschen wollen wir dem echten Charakter näherkommen, bilden uns ein, dass eine direkte Annäherung nicht nur möglich, sondern absolut wünschenswert ist. Dabei bilden wir unser Urteil über unser Gegenüber blitzschnell. Innert dreier Sekunden – so die psychologische Forschung – haben wir uns ein Bild des anderen gemacht. Wie viele Vorurteile hinter der Beurteilung von Gesichtszügen stecken, lehrt uns aber die Geschichte.
Gesichtern auf den Leib rücken
Im 18. Jahrhundert schrieb der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741–1801) einen seltsamen Bestseller. Die «Physiognomischen Fragmente» (1775–1778) in vier Bänden begründeten die «Wissenschaft» der Charakterergründung mittels des Studiums der Gesichtszüge und -proportionen. Gleichzeitig popularisierten sie das Genre der Umrisszeichnungen, Silhouettenköpfe und Gemmen. Lavater empfand die Gesichter als die «Buchstaben eines göttlichen Alphabetes». Netzhammers Arbeit setzt hier an und führt die Physiognomik des 18. Jahrhunderts einerseits ins Absurde, im Wissen um ihre spätere Geschichte, und andererseits zu ihrer ursprünglichen Intention zurück, indem sie das Wesenhafte und grotesk Individuelle der Gesichter betont.
Erkenntnis und Vermessung
Im 19. Jahrhundert, mit dem Siegeszug der Statistik als Methode, folgte auf Lavaters Ideen, die das Erkennen der Seelen zum Ziel hatte, die Biometrie, die von den äusseren Proportionen auf intellektuelle Fähigkeiten schliessen wollte, was häufig dazu benutzt wurde, rassistische Theorien im Kolonialismus zu untermauern. Das Aufkommen des Fotoporträts als Fahndungsmittel im Polizeidienst und der Glaube, dass man Verbrechern ihre Tendenzen bereits frühzeitig ansehen könne, wenn man die Gesichtszüge genau studiere, verbanden sich im frühen 20. Jahrhundert mit der Rassenlehre der Nazis. Unvergesslich sind die Bilder von Ärzten, die Schädel von Kindern im Konzentrationslager vermessen. Auch als Reaktion auf diese Katastrophe griffen Künstler*innen antike Ideen des Gesichtes als Maske wieder auf und verbanden diese mit aussereuropäischen Einflüssen in den avantgardistischen Strömungen der Kunst der Moderne.
Maskierung des Authentischen
Unser Verhältnis zum Gesicht, zur Maske bzw. zum Maskiert-Sein und dem vermeintlich authentischen Abbild eines Menschen, war also schon immer kompliziert und hat sich durch die globalen, pandemiebedingten Sicherheitsvorkehrungen im gemeinsamen Raum nochmals grundsätzlich verändert. Die Umstrittenheit der Massnahmen deutet darauf hin, dass, zumindest in unserem Kulturkreis, das Tragen einer Maske als Beschneidung der Persönlichkeit verstanden wird. Gleichzeitig hat sich für die Mehrheit der Bevölkerung etwas Grundlegendes umgekehrt: Während wir früher das maskierte Gesicht als bedrohlich empfunden haben, so erscheint uns nun das unmaskierte als gefährlich. Ein klitzekleines Virus, eine Wesenheit, der wir früher jede Persönlichkeit abgesprochen hätten (deren Umrissbild wir uns aber mittlerweile alle eingeprägt haben), hat alles aus dem Gleichgewicht gebracht.
Yves Netzhammers Arbeiten gewinnen in solchen Momenten unserer Geschichte an Schärfe. Die Ahnengalerie mit Bildstörung wird zu einer tiefsinnigen, zeichnerischen Analyse unserer Beziehungen: zueinander, zu anderen Spezies, zum Gesicht. Die Zeichenhaftigkeit der Installation verweist auf die unbewussten Schichten unseres kulturellen Gedächtnisses. Die Ideen der Antike und des 18. Jahrhunderts leben in uns weiter und konfrontieren sich mit den neuen Denkräumen des Globalen und Digitalen. Puppenhafte Figuren als Stellvertreter für uns Individuen bewegen sich durch Netzhammers assoziative Räume; wir sehen uns in Laboratorien, in denen verschiedene Ebenen von Realitäten durcheinandergeraten und sich neu ordnen. Die oben erwähnten «mentalen Bühnenräume» werden von uns Betrachterinnen und Betrachtern in der Auseinandersetzung mit den entstellten Gesichtern erzeugt; poetische Momente der Kontemplation zum Wesenskern einer Person wechseln sich ab mit albtraumhaften Szenarien der Vereinzelung und Einsamkeit, Entmenschlichung und totalitärer Kontrolle.
Der alltagssprachliche Ausdruck «gewogen und für zu leicht befunden» stammt zwar aus dem Alten Testament (Daniel 5, 27) und dem Vokabular Lavaters, bekommt in Zeiten der Gesichtserkennung durch den algorithmischen Blick, durch künstliche Intelligenz und die Allgegenwart robotischer Systeme eine ganz neue Bedeutung. Die zeichnerischen Linien von Yves Netzhammers «Gerichte, Gesichte, Gewichte» verbinden das kulturell (unbewusste) Gedächtnis unseres Kulturraumes mit universell menschlichen Ängsten und Hoffnungen, die ideengeschichtliche Vergangenheit mit einer ungewissen Zukunft.
Text: Damian Christinger
Foto: Martin Stollenwerk