«Gute Pflege ist individuell und behandelt nicht nur körperliche Beschwerden, sondern auch seelische Bedürfnisse. Gute Pflege ist nicht wie ein Rezept aus einem Kochbuch à la: Man nehme...»
Jelena Candelieri, Studentin Pflege HF
Jelena Candelieri kommt aus Serbien und hat dort eine Ausbildung im Reisebüro gemacht. Mit 23 Jahren ist sie der Liebe wegen in die Schweiz gezogen und hat als Reinigungskraft gearbeitet, um ins Berufsleben einzusteigen und daneben Deutsch zu lernen. Was als Einstieg gedacht war, hat fünf Jahre gedauert – und führte Jelena durch Zufall zur Pflege. Eine ihrer Kundinnen war nämlich die damalige Leiterin Pflege im Pflegezentrum Käferberg. Sie brachte Jelena auf die Idee, den dreiwöchigen SRK-Kurs zu machen. Nach zwei Schnuppertagen auf der Demenzabteilung war für Jelena klar, dass sie diesen Beruf ausüben möchte. Nach dem SRK-Kurs hat sie als Pflegehelferin auf der Demenzabteilung angefangen. Heute ist Jelena im fünften Semester ihres Pflegestudiums.
Jelena, wie bist du zum Pflegestudium gekommen?
Ich habe 2019 als festangestellte Pflegehelferin im heutigen Gesundheitszentrum für das Alter Käferberg angefangen. Schon während Corona war mir klar, dass ich hier am richtigen Ort bin. Trotzdem habe ich mir Zeit gelassen, um meine Entscheidung für die Pflege zu festigen. Ich wollte mir sicher sein, dass ich auch wirklich im Beruf bleiben würde. So ein Studium ist schliesslich ein grosses Commitment. Als ich bereit war für diesen Schritt, habe ich mich an die Berufsbildungsverantwortliche gewandt und mich erkundigt, was ich alles brauche, um mich anzumelden. Meine Ausbildung in Serbien wurde als Äquivalent zu einer schweizerischen Lehre mit EFZ-Abschluss anerkannt. So konnte ich mein HF-Studium am Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen (ZAG) bereits im September 2022 beginnen.
Wie erklärst du dir, dass du dich von Anfang an sehr wohlfühltest auf der Demenzabteilung?
Für Menschen mit Demenz da sein zu dürfen, mit ihnen zu lachen, ihnen Essen einzugeben, sie zu trösten, gibt mir sehr viel. Ich glaube, es hat damit zu tun, dass ich keine Familienangehörigen habe in der Schweiz. Es ist vielleicht eine Art Ausgleich. Obwohl wir uns in einer professionellen Beziehung befinden, ist da so viel Nähe. Ihre Bedürfnisse, die sie teilweise nicht äussern können, zu erkennen, löst eine tiefe Zufriedenheit in mir aus. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, sie zu verstehen.
Als du in die Schweiz gekommen bist, konntest du dich nicht gut auf Deutsch ausdrücken. Hilft dir diese Erfahrung im Beruf?
Ja, ich denke tatsächlich, dass meine persönliche Erfahrung von Vorteil ist. Ich weiss, wie es ist, wenn man nicht verstanden wird – und wie wichtig das Nonverbale ist. Ich kann im Beruf meine Fähigkeit, auch ohne Worte zu kommunizieren, einbringen. Das ist eine gute Voraussetzung für die Arbeit mit Menschen mit Demenz, bei denen sehr viel über die Empathie und das Spüren läuft. Das geht übrigens in beide Richtungen. Wenn ich zum Beispiel müde zur Arbeit komme, kann ich das vor den Kolleg*innen verstecken. Den Bewohnenden bleibt aber nichts verborgen. Es ist eine besondere Beziehung zwischen uns, die über Worte hinausgeht.
Die Arbeit auf der Demenzabteilung ist aber doch fordernd, was macht das mit dir?
Genau. Man erlebt sehr viel Schönes, sieht aber den Menschen auch in schwierigen, vulnerablen Momenten. Wenn er unruhig ist und weint. Wenn er nicht weiss, wer wir sind. Das war vor allem am Anfang schwierig für mich, hat mich aber auch tief berührt. Es hat mich dazu angeregt, mir mehr Gedanken über das Menschsein zu machen. Wir leben, arbeiten, gründen eine Familie. Und am Ende sind wir nicht mehr, was wir einmal waren. Es ist herausfordernd, das jeden Tag zu sehen und erfüllt mich mit Bedauern. Gleichzeitig ist es aber auch meine grösste Motivation, weil ich Menschen besondere Momente schenken kann. Zudem beurteile ich heute vieles anders. Ich war 32 Jahre alt, als ich in die Pflege kam. Ich war also schon erwachsen, hatte aber trotzdem keine Ahnung vom Leben. Ich hatte zuvor keine Berührungspunkte mit dem Tod oder mit den letzten Lebensjahren gehabt. Die Pflege hat mir einen neuen Blick auf das Leben gegeben. Ich lebe heute bewusster und verstehe viel besser, was ich tun muss, um zufrieden zu leben und kein Bedauern zu haben. Man kann sagen, in der Pflege zu arbeiten, hat mich weise gemacht.
Was macht für dich gute Pflege aus?
Gute Pflege ist eine ganzheitliche Pflege und Betreuung, die individuell auf den Menschen, seine Wünsche und Bedürfnisse ausgerichtet ist. Gute Pflege ist nicht wie ein Rezept aus einem Kochbuch à la: Man nehme ... Es geht dabei um Menschenwürde und die Frage: Wie möchte der Mensch leben und was ist ihm noch wichtig? Gute Pflege ist umfassend und behandelt nicht nur körperliche Beschwerden, sondern auch seelische Bedürfnisse. Sie besteht aus der emotionalen, spirituellen, sozialen, psychischen und körperlichen Komponente. Diese zu erforschen und die Interventionen und den Beziehungsaufbau darauf auszurichten, macht für mich gute Pflege aus.
Wo siehst du deine Stärken in der Pflege?
Es gelingt mir sehr gut zu merken, wenn etwas anders ist bei einem Bewohner. Ich bin selbst eher zurückhaltend und spreche nicht gerne offen über Gefühle. Dadurch bin ich sehr sensibel, wenn es darum geht, Menschen zu verstehen, die Dinge ebenfalls nicht ansprechen können oder wollen.
Was ist dein Fazit nach gut zwei Jahren Studium und entsprechender Berufspraxis?
Im dritten Jahr meines Studiums habe ich sogar noch mehr Motivation als zu Beginn. Wenn man von Pflege spricht, denken viele Menschen an Körperpflege und Essenseingabe. Das sind zwar Elemente davon, sie machen aber nicht den Kern der Pflege aus. Im Studium befassen wir uns mit dem Körper und der Seele und lernen unter anderem, pathopsychologische Symptome zu erkennen. Hat zum Beispiel eine Bewohnerin nur aufgrund der Hitze geschwollene Beine oder könnte dahinter möglicherweise eine Herz- oder Niereninsuffizienz stecken? Wenn jemand herausforderndes Verhalten zeigt, versuchen wir zu ergründen, was der Auslöser dafür ist und in welcher Phase einer Krise sich die Person befindet. Das geht sehr tief und ich eine anspruchsvolle Arbeit.
Was müsste sich deiner Meinung nach in der öffentlichen Wahrnehmung von Pflege ändern?
Die Vielseitigkeit und Flexibilität, die der Beruf bringt, sind zu wenig bekannt. Menschen sind keine Computer, die nach Programm funktionieren. Jeder Tag ist anders: auch mit ein- und demselben Bewohner. Man geht ins Zimmer und es zeigt sich einem ein Bild, mit dem man arbeitet. Man muss sich immer auf etwas Neues einstellen. Darum wird einem auch nie langweilig. Was man gibt und was man zurückbekommt, ist enorm. Das ist einfach schön.
Hat das Studium auch deine eigene Vorstellung von Pflege nochmals verändert?
Absolut. Sehr vieles von dem, was ich heute weiss, war mir als Pflegehilfe nicht bewusst. Ich hatte damals eine Aufgabe bekommen und sie erfüllt. Heute bin ich an einem ganz anderen Punkt. Meine Zufriedenheit im Beruf wächst mit den Erkenntnissen, die ich gewinne.
Hast du schon eine Vorstellung davon, in welche Richtung du nach dem Studium gehen möchtest?
Ich bin noch am Überlegen. In der Führung sehe ich mich eher nicht, ich stelle mir vielmehr eine Fachkarriere als Pflege- oder Demenzexpertin vor. Zudem möchte ich Erfahrungen im Akutspital machen, danach aber auf die Demenzabteilung zurückkehren.
Was sind deine Gedanken zur Zukunft der Pflege?
Die Langzeitpflege und der Umgang mit Demenz entwickeln sich stetig weiter. Demenz wird immer stärker erforscht, und wir gewinnen laufend mehr Wissen dazu. Mit der Babyboomer-Generation wird die Relevanz der Themen Alter und Altern steigen: Wie gehen wir als Gesellschaft mit dem Alter um? Das ist eine grosse Chance für uns alle, uns zu überlegen, was wir wollen und welche Werte wir als Gesellschaft pflegen wollen. Auch aufgrund dieser Veränderungen entwickelt sich unser Beruf stetig weiter. Es ist schön, ein kleiner Teil von etwas Grossem zu sein und es erfüllt mich mit Stolz.