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Exzellenz in der Pflege: Spezialisierung durch Weiterbildung

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Welche Chancen bieten die städtischen Gesundheitszentren für das Alter im Bereich Weiterbildung und Spezialisierung – auch aufgrund ihrer Grösse und der verschiedenen Standorte? Das Beispiel von Severin Decensi und Sara Damnjanovic gibt einen Einblick. Gemeinsam besuchen sie den Peer-Tutor*innen-Kurs in Kinaesthetics.

30. September 2024

Severin Decensi, dipl. Pflegefachmann, Sara Damnjanovic, Fachfrau Betreuung und Pflege mit Zusatzkompetenzen
«Kinaesthetics ist ein Geschenk-Tool, das uns den Arbeitsalltag erleichtert und bei den Bewohnenden Ressourcen fördert.»

Severin Decensi, dipl. Pflegefachmann, Sara Damnjanovic, Fachfrau Betreuung und Pflege mit Zusatzkompetenzen

Wer sich im Sinne einer Fachkarriere weiterbilden möchte, hat dafür bei den Gesundheitszentren verschiedene Optionen, die jeweils individuell geprüft werden. Severin Decensi und Sara Damnjanovic machen derzeit – nach dem Grund- und dem Aufbaukurs – den Peer-Tutor*innen-Kurs in Kinaesthetics. Er ist dipl. Pflegefachmann im Gesundheitszentrum Grünau, sie Fachfrau Betreuung und Pflege im Gesundheitszentrum Sydefädeli. Im Rahmen eines Lerntreffens für ihre Weiterbildung haben sie sich zu einem Interview bereiterklärt. Sie sprechen über ihre Faszination für Kinaesthetics, ihre Motivation und ihre Absichten für die Zukunft.   

Kinaesthetics ist die Lehre der Bewegungsempfindung. Warum habt ihr euch für eine Weiterbildung in diesem Bereich entschieden?
Severin Decensi (SeD): Mir war schon lange klar, dass ich mehr bewegen möchte in der Pflege. Ich möchte nicht einfach vor mich hinarbeiten, sondern Arbeitsabläufe stetig optimieren und einfacher machen – für mich und für meine Arbeitskolleg*innen. Darum habe ich mich aktiv nach einer Weiterbildung umgeschaut. Kinaesthetics kannte ich bereits aus meiner Lehre zum Fachmann Gesundheit. Mein Verständnis davon war aber – gelinde gesagt – sehr begrenzt. Das wollte ich ändern.

Sara Damnjanovic (SaD): Ich hatte mich schon während meiner Lehre zur Fachfrau Betreuung in das Konzeptsystem der Kinaesthetics verliebt. Meinem alten Betrieb war es aus Kapazitätsgründen nicht möglich, mich in diesem Bereich aufzubauen und wir hatten auch schon eine Kinaesthetics-Trainerin im Haus. Nach einer fünfmonatigen Reisepause habe ich temporär bei den Gesundheitszentren angefangen. Als sie mich unbefristet behalten wollten, habe ich meinen Wunsch geäussert, mich in Kinaesthetics weiterbilden zu dürfen und das zur Bedingung gemacht: ohne Kinaesthetics, ohne mich.

Was fasziniert euch an dem Konzeptsystem?
SaD: Ich liebe es, mit Menschen zusammenzuarbeiten. Kinaesthetics ist für mich eine logische Konsequenz davon. Beim Konzeptsystem geht es stark um das Zwischenmenschliche, das Miteinander. Zentral dabei sind das Vertrauen in sich selbst und die Sicherheit, die man damit vermitteln kann. Mit Kinaesthetics lassen sich Bewohnende ohne Kraftaufwand heben. Der Bewegungsapparat und was man mit dem Körper alles machen kann, fasziniert mich. Mir gefällt, dass Kinaesthetics sehr komplex ist und man nie ausgelernt hat. So wird mir nie langweilig. Es ist wie ein «Rabbit Hole»: Je mehr man weiss, desto mehr wird einem bewusst, was man nicht weiss.

SeD: Mein Zugang zum Thema ist ein anderer: Ich praktiziere seit einigen Jahren WingTsun Kung-Fu. Kinaesthetics und WingTsun überschneiden sich in Bezug auf die benötigten Kompetenzen in der taktilen Wahrnehmung des Gegenübers. Aber auch die Trainingsaspekte im Bereich der Achtsamkeit auf die eigene Körperwahrnehmung gaben mir gewisse Fertigkeiten, die mir hier sehr weiterhelfen, das Ganze besser zu verstehen und umzusetzen. Mich begeistert vor allem, dass mich das Konzeptsystem von Kinaesthetics im oftmals stressigen Arbeitsalltag auf eine gewisse Weise dazu zwingt, mich immer ganzheitlich auf das Gegenüber einzulassen und im Moment zu sein. Man geht hin, muss sich dem Tempo von Patient*in oder Bewohner*in anpassen, schaut und findet heraus, was jede Person individuell braucht. Eine Art Entdeckungs- und Forschungsreise in meinen Augen.  

Wie beurteilt ihr den Nutzen von Kinaesthetics?
SeD: Für mich ist klar, dass wir den Bewohnenden dank Kinaesthetics viel geben können in Bezug auf Selbstständigkeit, Autonomie und Selbsterfahrung. Kinaesthetics ist für mich ein Geschenk-Tool, das uns den Arbeitsalltag erleichtert und bei den Bewohnenden Ressourcen fördert. Und was besonders wichtig ist: Es schont unsere eigene Gesundheit.

SaD: Das hast du schön gesagt. Es muss nicht jeder die komplette Begeisterung für Kinaesthetics haben wie wir beide. Aber Menschen vom Bett in den Rollstuhl begleiten, sollte man schon können. Wenn man in der Pflege arbeitet, hat man ja die Intention, den Menschen zu helfen. Sonst ist man am falschen Ort. Darum sollte man zumindest die Basics kennen.

Kinaesthetics erleichtert den Arbeitsalltag: Könnt ihr das genauer ausführen?
SeD: Ich sage es mal so: Kein Wunder hat jemand Probleme mit dem Rücken, wenn er die Bewohnenden «herumhievt». Aber das müsste ja nicht sein. Wenn man sich zurücknimmt und achtsamer ist, geht es oftmals leichter. Und durch das Fördern der Bewegungsressourcen von Patient*in oder Bewohner*in sind diese mit der Zeit auch wieder in der Lage, mehr selbst mitzuhelfen. Man sollte nicht «wie ein Roboter» unterwegs sein, der einfach seine Arbeit abhaken möchte. Denn dann nimmt man die Widerstände nicht mehr wahr: weder bei sich selbst noch bei den Bewohnenden. Und man muss sich natürlich mit dem Konzept vertraut machen.

SaD: Genau, ein Teil des Stresses ist sicher hausgemacht und lässt sich vermeiden. Daraus entwickeln sich dann seltsame Körperhaltungen und Bewegungsmuster.

SeD: Das ist ein sehr wichtiger Punkt: Mit Kinaesthetics nimmt man den Stress raus. Man ist dadurch aber nicht langsamer, wie oftmals behauptet wird, sondern sogar schneller. Denn durch das konsequente Anwenden der Grundsätze von Kinaesthetics können Patient*innen und Bewohner*innen in ihrer Selbstständigkeit gefördert werden und man verliert keine Zeit, weil man Widerstände auf ihrer Seite überwinden muss.  

Was macht ihr in eurem Betrieb für Erfahrungen als Kinaesthetics-Expert*in?
SaD: Meine Erfahrungen sind sehr positiv, egal, ob ich mit Praktikant*innen oder Lernenden zu tun habe. Auch andere Mitarbeitende schreiben mir und fragen, ob ich mal Zeit hätte, um ihnen etwas zu zeigen. Ich habe spezielle Tage nur für Kinaesthetics, an denen ich mitgehe und schule. Bei der Umsetzung ist der entscheidende Punkt, dass man das Vertrauen der Bewohnenden hat. Und man muss ihnen die Chance und die Zeit geben, es selbst zu versuchen.

SeD: Ich erlebe das zum Teil ein bisschen anders. Mir wird manchmal gesagt: «Klar, dass das bei dir geht. Du bist ja auch ein starker Mann. Bei mir funktioniert das nicht» oder «Ich kann diese Position nicht einnehmen». Dabei geht es gar nicht um die Kraft oder Beweglichkeit. Manche sagen, sie können das nicht, bevor sie es überhaupt versucht haben, weil sie limitierende oder eher festgefahrene Glaubenssätze haben, wie die Dinge funktionieren.

SaD: Dazu habe ich einen Tipp: Zeig eine bestimmte Technik erst am Personal und noch nicht an einem Bewohner. Frage sie dann, wie sie selbst aufstehen würden. Durch Selbsterfahrung lernt man am besten. Das funktioniert bei unseren Lernenden sehr gut.

Apropos Lernende: Wie erlebst du sie im Umgang mit Kinaesthetics?
SaD: Ich stelle bei den Lernenden eine sehr grosse Offenheit fest, das freut mich und macht mich stolz. Sie sind sehr direkt und stets bestrebt, Dinge zu optimieren. Während meine Generation noch «machte, was der Chef sagte», hinterfragen sie viel mehr. Sie kommunizieren auch, wenn es ihnen nicht gut geht. Und beim Mobilisieren fragen sie: «Geht das nicht einfacher?» Sie wollen smart, statt hart arbeiten. Kinaesthetics ist daher genau ihr Ding. 

Was macht man als Peer-Tutor*in genau?
SeD: Wir lernen hauptsächlich zu beschreiben, wie die Mobilisationen oder Transfers ablaufen sollen. Unter anderen für die Dokumentation. Diese soll die Mitarbeitenden möglichst einfach anleiten, ohne ihnen zu konkrete Vorgaben zu machen. Denn jeder erlebt die Welt anders und muss seinen eigenen Weg finden. Es ist ein bisschen wie beim Spiel Twister: Jeder macht genau gesehen eine andere Bewegung, wenn es heisst «rechte Hand auf Grün».

SaD: Der grösste Schwerpunkt liegt darauf zu erklären, was im menschlichen Körper passiert. Welcher Teil geht bei welcher Bewegung auf, welcher zu? Das ist hochkomplex.

Was erhofft ihr euch vom Abschluss des Kurses?
SaD: Es macht mir einfach mega Spass, Leuten etwas beizubringen, das sie weiterbringt. Ausserdem habe ich einen guten Draht zu den Lernenden. Ich nehme sie an der Hand und sage: «Komm, ich zeig dir, wieʼs geht!» Das Praktische ist mein Ding! Mein Ziel ist der Tainer Stufe 1 und 2 – den Trainer Stufe 3 lasse ich mal noch offen.

SeD: Ich möchte in Bezug auf Kinaesthetics einfach so weit machen, wie ich kann. Es motiviert mich beispielsweise zu wissen, dass man ab Trainer Stufe 2 selbst Schulungen geben kann und man so ein zweites Standbein haben kann nebst dem eigentlichen Beruf. Ich bin kein Planungsmensch, aber ich habe eine Vision. Ich möchte Kinaesthetics in mein Leben integrieren, da es mehrere Aspekte abdeckt, die mich interessieren und ich dabei Menschen helfen kann. Vielleicht mache ich mich ja irgendwann mal selbstständig. Wer weiss.