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Exzellenz in der Pflege: Dignity Therapy in der Palliative Care

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Die Dignity Therapy – oder würdezentrierte Therapie – ist ein empirisch bestätigter therapeutischer Ansatz, der die Lebensqualität von Palliativpatient*innen verbessern kann. Yves Brandenberger ist Pflegefachmann HF mit Zusatzaufgaben auf einer der gerontopsychiatrischen Abteilungen im Gesundheitszentrum für das Alter Entlisberg. Anhand eines Beispiels erzählt er, welche Erfahrungen er mit dem Ansatz gemacht hat.

20. Juni 2024

Porträt von Yves Brandenberger, Pflegefachmann HF mit Zusatzaufgaben auf einer der gerontopsychiatrischen Abteilungen im Gesundheitszentrum für das Alter Entlisberg
«Gemäss Dr. Harvey Chochinov wird das Sterben extrem erschwert, wenn die Würde im Sterbeprozess tangiert ist. Dann ist die Agonie unter Umständen viel schlimmer.»
Yves Brandenberger, Pflegefachmann HF mit Zusatzaufgaben

Würde ist ein zentraler Begriff in der Palliative Care. Der kanadische Psychiater Dr. Harvey Chochinov, Gründer der Dignity Therapy, startete seine Forschung mit einer Frage: Sterben in Würde – Welche Bedeutung hat das? Drei grundlegende Erkenntnisse aus seiner Forschung sind:

  • Patient*innen mit herabgesetztem Würdegefühl sind signifikant depressiver und ängstlicher.
  • Der Verlust von Würde ist oftmals ein Grund für einen vorzeitigen Sterbewunsch.
  • Bei vielen Sterbenden besteht der Wunsch, etwas Konkretes als Erinnerung für die Nachwelt zu hinterlassen.

Aus diesem Wissen heraus entwickelten Dr. Harvey Chochinov und sein Team einen Ansatz, der darin besteht, dass Schwerstkranke ihre Lebensgeschichte einer geschulten Fachkraft erzählen können. Die betroffene Person entscheidet dann, an wen das Dokument abgegeben wird. Dieser Ansatz, dessen Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen ist, verbessert die Lebensqualität und das spirituelle Wohlbefinden der betroffenen Person.

Welche Möglichkeiten hat die moderne Pflege, einem sterbenden Menschen Würde zu verleihen? Diese Frage beschäftigt auch Yves Brandenberger, Pflegefachmann HF mit Zusatzaufgaben, in seinem beruflichen Alltag.

Yves, wie bist du auf das Thema Dignity Therapy aufmerksam geworden?
Ich habe als Quereinsteiger am ZAG Winterthur Pflege studiert. Dort haben wir im Fachenglisch die Dignity Therapy behandelt. Dieser Ansatz kam mir im Zusammenhang mit einer Bewohnerin, Frau K., in den Sinn. Ihre Lebensgeschichte, ihre Affinität zu Büchern, ihre Liebe zum geschriebenen Wort: Das waren Dinge, die mich darin bestärkten, mit ihr zusammen unsere Interpretation der Dignity Therapy zu machen.

Wie sah diese Interpretation aus?
Vor allem Menschen, die keine Kinder haben, haben Angst, dass sie vergehen, wenn sie sterben. Dass sie keine Spuren hinterlassen, einfach vergessen werden. Je nach Persönlichkeit kann ein Zeitstrahl mit den schönen Lebensereignissen gemacht werden. Oder man vertieft einzelne Episoden. Am Ende geht es darum, den Charakter und das Leben des Menschen fassbar zu machen. Mit Frau K. habe ich das in Form eines Buches umgesetzt, denn sie wollte immer schon eine Autobiografie schreiben. Sie hatte früher in einer bekannten Zürcher Buchhandlung gearbeitet und lektoriert. Ich habe sie darum gefragt, was sie von der Idee hält, ein Buch zu schreiben – und wer aus ihrem Umfeld eins bekommen soll. Am Ende sind es zehn Exemplare geworden. Dass ich auch eins bekommen habe, bedeutet mir sehr viel.

Wie hast du Frau K. erlebt, persönlich und durch das Buch?
Sie war eine sehr kritische und starke Persönlichkeit, eine Kämpferin. Andere wären an ihrer Stelle schon längst liegengeblieben. Trotz ihres Gesundheitszustands hat sie die zwei karierten Bücher vollgeschrieben, die ich ihr gebracht hatte. Sie hat sogar alles schon verklausuliert geschrieben, man musste nichts anonymisieren.

Worum ging es in ihrem Buch genau?
Das Buch bildet über zwei Jahre den Alltag im Entlisberg ab. Frau K. schreibt von ihrer letzten Station. Der Gedanke sei am Anfang brutal gewesen, dann aber eigentlich gar nicht so schlimm. Da muss man leer schlucken, wenn man das liest. Sie schreibt, es war alles: ätzend bis wunderschön. Sie hat im Buch aufgearbeitet, wie sie hergekommen ist. Wie sie durch einen Liebeswahn in die Mühlen der Psychiatrie gekommen sei. Der schmerzhafte Teil sei gewesen, sich zurückzuerinnern.

Wie schätzt du die Bedeutung des Buches für ihren Sterbeprozess ein?
Ich bin sicher, das Buch hat ihr das Abschiednehmen erleichtert. Das wäre für sie sonst «Unfinished Business» gewesen. Das Buch hat ihr eine Last genommen und ihr einen würdevollen Abschluss gegeben. Gemäss Dr. Harvey Chochinov wird das Sterben extrem erschwert, wenn die Würde im Sterbeprozess tangiert ist. Dann ist die Agonie unter Umständen viel schlimmer. Du gehst im Kopf durch, was du alles nicht hast, was du noch gewollt hättest.

Was hat dieser Prozess mit dir persönlich gemacht?
Es hat mir bewusst gemacht, was für ein Schicksal so viele Leute hier tragen. Wenn du das Buch von Frau K. liest, merkst du, dass du keine Ahnung hast. Wenn man sowas liest, wächst man. Mich hat es zur Selbstreflexion gezwungen. Ich finde, wir sind zu locker mit Aussagen wie: Ich verstehe das.