«Integration ist ein gesellschaftlicher Auftrag, den wir ernst nehmen.»
Markus Musholt, Fachexperte Demenz, und Maja Stojkovic, Abteilungsleiterin Pflege
Die spezialisierte Demenzbetreuung ist ein Schwerpunkt der Gesundheitszentren. Seit diesem Jahr hat auch das Gesundheitszentrum für das Alter Gehrenholz eine Demenzabteilung. Diese unterscheidet sich von den Demenzabteilungen anderer Häuser in einem wichtigen Punkt: Das Gehrenholz hat sich für eine integrative Abteilung entschieden, um sich trotz baulicher Einschränkungen an den Schwerpunkt heranzutasten. Die Abteilung ist ein gutes Beispiel dafür, wie es den Gesundheitszentren gelingt, individuelle und passende Lösungen zu finden. Maja Stojkovic, Abteilungsleiterin, und Markus Musholt, Fachexperte Demenz, gewähren Einblicke.
Die neu eröffnete Demenzabteilung im Gehrenholz ist integrativ, was bedeutet das?
Markus Musholt (MM): Das bedeutet, dass in der Abteilung je 12 Bewohnende mit und 12 Bewohnende ohne Demenz zu Hause sind und wir die Aktivitäten gemeinsam gestalten. Da wir aufgrund der baulichen Gegebenheiten keine reine, geschützte Demenzabteilung anbieten können, haben wir uns für den integrativen Ansatz entschieden. Dafür ist eine gute Triage entscheidend. Wir können zum Beispiel keine Bewohnenden mit Demenz hier aufnehmen, die herausforderndes Verhalten zeigen. Das Atrium verunmöglicht zum Beispiel die dafür nötige Reizabschirmung.
Was sind eure Erfahrungen bisher?
Maja Stojkovic (MS): Wir haben gemerkt, dass es sehr gut funktioniert, auch wenn es fordernd ist, alle mitzunehmen. Und es ist schön zu sehen, wie entspannt die Atmosphäre ist – wir erleben Zufriedenheit und lachende Gesichter. Natürlich kommt es auch vor, dass Bewohnende mit Demenz unruhig werden. Hier hilf es sehr, dass sich die Bewohnenden ohne Demenz nicht von der Unruhe anstecken lassen. Sie sind eine Ressource für uns.
Sind die Bewohnenden ohne Demenz auf der Abteilung nicht eingeschränkt?
MM: Wir haben verschiedene Massnahmen wie etwa Liftsteuerungen umgesetzt, dabei aber darauf geachtet, dass die Bewohnenden ohne Demenz die Abteilung nach wie vor verlassen können – auch im Rollstuhl. Es ist auch nicht ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Bewohnende mit Demenz nicht mit ihnen in den Lift einsteigen.
MS: Genau, das ist unsere Aufgabe. Wenn wir jemanden beim Lift stehen sehen, nehmen wir die Person mit und gestalten den Tag bewusst mit ihr. Etwa durch Spiele oder Musik.
Was, wenn trotzdem jemand mit dem Lift wegfährt?
MS: Die Bewohnenden mit Demenz tragen ein Armband, das dem Pflegepersonal anzeigt, wenn sie sie sich entfernen. So können wir ihre Sicherheit gewährleisten. Der Garten ist bewusst demenzgerecht und geschützt gestaltet. Uns ist sehr wichtig, dass die Bewohnenden ohne Demenz eigene Aktivitäten weiterhin selbstständig ausführen können und sich nicht eingeschränkt fühlen aufgrund der zusätzlichen Sicherheitsmassnahmen.
Wie kommt das Angebot bei den Angehörigen an, hatten sie keine Vorbehalte?
MS: Wir konnten die Bewohnenden und ihre Angehörigen durch eine umsichtige Information vorgängig abholen, ihre Sorgen und Bedürfnisse verstehen und darauf eingehen. Es war uns wichtig, sie wissen zu lassen, dass es immer möglich ist, die Abteilung zu wechseln. Es muss für alle passen. Bisher wurde dieser Wunsch jedoch noch nicht geäussert. Wir haben sehr viel Verständnis erlebt – sowohl von den Bewohnenden ohne Demenz als auch von ihren Angehörigen.
MM: Die Angehörigen sind für uns die wichtigste Ressource. Sie wissen am besten, was die Bewohnenden bewegt und was wir berücksichtigen müssen, da sie sie meist bis zum Eintritt selbst zu Hause gepflegt haben. Sie sind quasi die Qualitätsmanager*innen ihrer Angehörigen. Darum legen wir grossen Wert auf einen guten Austausch. Viele empfinden die Abteilung gar als Bereicherung. Integration ist ein gesellschaftlicher Auftrag, den wir ernst nehmen. Es geht auch um die Entstigmatisierung von Demenzbetroffenen. Wir agieren nach dem Normalitätsprinzip und gestalten den Alltag gemeinsam. Dabei ist es unser Job, die Belastung möglichst gering zu halten. Wichtig ist zudem zu wissen, dass der Betreuungsaufwand äquivalent ist und niemand zu kurz kommt.
Markus, was ist deine Aufgabe als Fachexperte Demenz auf der Abteilung?
MM: Mein Job ist es, Inhalte zu vermitteln. Die Haltungsarbeit wird von der Abteilung gemacht, ich unterstütze sie dabei, auch immer wieder die Situation der Bewohner*innen zu reflektieren. Neben meiner Tätigkeit als Fachexperte Demenz im Gehrenholz bin ich Dozent an der ZHAW Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Ich finde das eine sensationelle Kombination, auch wenn sie mit einem gewissen organisatorischen Aufwand verbunden ist. Der wechselseitige Transfer zwischen Theorie und Praxis ist ein enormer Gewinn für beide Seiten.
Wie haben die Mitarbeitenden auf der Abteilung auf die Veränderung reagiert?
MS: Hier kamen uns die Kultur und die Haltung im Gehrenholz zugute. Die Bedürfnisse der Mitarbeitenden sind uns wichtig, das wird bis ganz oben so gelebt. Wir bieten zum Beispiel im Rahmen unserer Möglichkeiten Flexibilität bei den Arbeitszeiten. Das Wir-Gefühl, das wir damit stärken, steigert die Motivation und die Veränderungsbereitschaft. Für die Demenzbetreuung haben die Mitarbeitenden eine Weiterbildung absolviert. Diese Möglichkeit der Weiterentwicklung kam sehr gut an. Es hat sich gezeigt, dass die integrierte Abteilung vom Pflegepersonal als attraktiv wahrgenommen wird, da sie beide Optionen haben: Demenzbetreuung oder reguläre Langzeitbetreuung.
MM: Für mich war es schön zu sehen, wie sich die Mitarbeitenden auf den Themenwechsel eingelassen haben. Manche möchten sich sogar noch weiter vertiefen. Alltagsgestaltung, Ausflüge und Feste sind in diesem Kontext aufwändiger, aber auch lustvoll und interessant. Ich unterstütze das Pflegepersonal, indem ich einmal pro Woche auf der Abteilung bin und gezielt auf Punkte eingehe, die gestärkt werden sollen. Zudem arbeitet eine Fachbeauftragte Demenz auf der Abteilung, die ebenfalls über viel spezifisches Wissen verfügt.
Sind integrative Demenzabteilungen die Zukunft?
MM: Integrative Demenzabteilungen haben ganz klare Vorteile, sie fördern zum Beispiel die Durchlässigkeit. Zu sagen, dass sie die beste Option sind, wäre aber komplett falsch. Je nach Schweregrad der Demenz ist eine integrative Abteilung oder ein viel geschützterer Rahmen, wie ihn andere Demenzabteilungen bieten, die beste Lösung. Jede unserer Demenzabteilungen hat ihre Berechtigung und macht auf ihre Art einen exzellenten Job. Die Frage ist, welches ist der beste Lebensort für die jeweilige Person und ihre Bedürfnisse? Dass wir im Gehrenholz einen innovativen Ansatz mit demenziellem Schwerpunkt beisteuern können, freut mich.