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Exzellenz in der Pflege: Advanced Practice Nursing – ein Pilotprojekt

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Immer mehr Bewohnende in den Gesundheitszentren für das Alter zeichnen sich durch Multimorbidität und Hochaltrigkeit aus – oft kombiniert mit kognitiver Beeinträchtigung. Mit einem Pilotprojekt begegnen die Gesundheitszentren für das Alter den dadurch wachsenden Anforderungen an die Pflege.

20. Mai 2024

V.l.n.r.: Karin Büscher Djafer, Leiterin Betreuung und Pflege, und Corinne Steinbrüchel, Pflegeexpertin APN
V.l.n.r.: Karin Büscher Djafer, Leiterin Betreuung und Pflege, und Corinne Steinbrüchel, Pflegeexpertin APN

Das veränderte Profil der Bewohnenden stellt neue Anforderungen an die klinische und pflegerische Expertise, die Koordination sowie die Kommunikation. In vier Gesundheitszentren mit dem Angebot «Wohnen im Alter» wurde darum ein Pilotprojekt durchgeführt. Um die Pflegeteams in ihrem Berufsalltag in komplexen Situationen mit Fachexpertise zu unterstützen, haben die Gesundheitszentren eine Rolle Pflegeexpert*in APN (Advanced Practice Nursing) für die Gesundheitszentren adaptiert. In einem zweijährigen Pilotprojekt wurde die neue Funktion eingeführt, umgesetzt und evaluiert. Am Projekt beteiligt waren vier Gesundheitszentren, zwei Pflegeexpertinnen APN (Corinne Steinbrüchel und Andrea Christen), die Leiterin klinische Pflegeentwicklung (Eva Horvath) sowie ein Facharzt für Geriatrie (Dr. Sacha Beck).

Corinne Steinbrüchel, Pflegeexpertin APN, und Karin Büscher Djafer, Leiterin Betreuung und Pflege im Gesundheitszentrum für das Alter Limmat, haben das Pilotprojekt am diesjährigen Schweizer Pflegekongress Anfang Mai in Bern präsentiert. Im Interview sprechen sie über das Projekt und ihre Erfahrungen damit.

Was waren die Ziele des Projekts?
Karin Büscher Djafer (KBD): Das übergeordnete Ziel war die Etablierung der Rolle einer Pflegeexpert*in APN in den Gesundheitszentren mit dem Angebot «Wohnen im Alter». Und selbstverständlich, dass die Pflegeteams und Bewohnenden einen Nutzen aus dieser zusätzlichen Funktion ziehen können.

Wie seid ihr vorgegangen?
Corinne Steinbrüchel (CS): Die ersten paar Tage bin ich mit den Pflegeteams mitgegangen und habe mir ein Bild von den Abläufen in den jeweiligen Gesundheitszentren gemacht. Eine besondere Herausforderung in den Betrieben Wohnen im Alter ist das Hausarztmodell. Im Gegensatz zu den Gesundheitszentren mit dem Angebot «Spezialisierte Pflege» (ehemalige Pflegezentren), in denen festangestellte Ärzt*innen tätig sind, arbeiten die Gesundheitszentren mit dem Angebot «Wohnen im Alter» (ehemalige Alterszentren) mit den externen Hausärzt*innen der Bewohnenden zusammen. Je nach Gesundheitszentrum sind dies 10 bis 30 verschiedene Hausärzt*innen.

KBD: Diese Zahl zeigt die Komplexität der Situation sehr gut auf. Die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Hausärzt*innen ist sehr unterschiedlich. Manche haben ihre Praxis direkt bei uns um die Ecke, machen Hausbesuche und sind auch am Wochenende erreichbar. Das ist für uns natürlich ideal. Bei anderen ist dies nicht der Fall.

Karin, wie ist das Angebot bei deinen Pflegeteams angekommen?
KBD: Sehr gut. Zuerst waren wir alle überrascht, dass Corinne in Betriebskleidung arbeitet und nahe an der Pflege ist. Eine Pflegeexpertin aus dem Büro hatten wir uns anders vorgestellt. Die anfängliche Überraschung ist aber sehr schnell grosser Wertschätzung gewichen – und jetzt sind wir laufend dabei, gemeinsam neue Berge zu erklimmen. Klar, das Risiko, dass Corinnes Rolle von den Pflegeteams als Kontrollfunktion gesehen wird, ist da. Das war bei uns aber zum Glück kein Thema.

CS: Das ist auch sehr stark dein Verdienst, weil du offen warst für diese Neuerung und die Vorteile gesehen und dem Team gegenüber entsprechend kommuniziert hast. Die Leitung Betreuung und Pflege ist in diesem Setting eine Schlüsselperson. Wenn sie nicht hinter dem Vorgehen steht, kann es nicht gelingen.

KBD: Dieses Lob gebe ich gerne an meine Pflegeteams weiter. Ich habe das Glück, dass sie sehr aufgeschlossen sind, was Veränderungen angeht. Sie wollen dazulernen und sich weiterentwickeln. Das schätze ich sehr.   

Wie seid ihr damit umgegangen, wenn Schwachstellen sichtbar wurden?
KBD: Schwachstellen gibt es in jeder Organisation. Wichtig ist, wie man diese bewertet. Wenn Corinne eine Schwachstelle sieht, ist das eine Chance und kein Grund, in Panik auszubrechen. Es geht nicht darum, nach Fehlern zu suchen, sondern gemeinsam an einer Verbesserung zu arbeiten. Wir haben eine gute Fehlerkultur – und auch Spass bei der Arbeit. Das sind wichtige Voraussetzungen für Wachstum und Entwicklung.  

Welchen konkreten Nutzen bringt die Rolle der Pflegeexpertin APN für die Pflegeteams?
KBD: Wir haben im Rahmen des Pilotprojekts festgestellt, dass es Schlüsselsituationen gibt, in denen Corinnes Fachexpertise besonders gefragt ist. Das sind vulnerable Situationen wie etwa Neueintritte oder die Rückkehr aus dem Spital. Ebenso selbständige Bewohner, die noch keine Unterstützung erhalten und wir eine Veränderung nur am Rande wahrnehmen.

CS: Genau. Wenn in einem Gesundheitszentrum mit Angebot «Spezialisierte Pflege» ein Bewohner aus dem Spital zurückkommt, liest der Arzt oder die Ärztin vor Ort den Bericht und schickt ihn an die jeweilige Hausarztpraxis. Bei Gesundheitszentren mit Angebot «Wohnen im Alter» sind keine Ärzt*innen angestellt. Darum übernimmt die Pflege diese Schnittstellenfunktion und stellt den Einbezug der jeweiligen Hausärzt*innen sicher. Das bedingt ein entsprechendes Know-how.

Gab es Unklarheiten bezüglich der Rolle der Pflegeexpertin APN?
KBD: Am Anfang musste ich ein bisschen nachsteuern. Denn obwohl Corinne in Berufskleidung am Bett arbeitet, hat sie eine separate Rolle. Sie kommt nicht zur Entlastung, beispielsweise um Medikamente zu richten oder die Pflege zu übernehmen.

CS: Körperpflege mache ich schon auch – in schwierigen Situationen. Meine Aufgabe ist es, die Pflegeteams zu befähigen, komplexe Situationen zu erkennen und professionell damit umzugehen.

Wie verankerst du die zusätzliche Fachexpertise in den Pflegteams?
CS: Inhalte lassen sich am besten aufnehmen, wenn sie einen direkten Bezug zum Berufsalltag haben. Ich mache darum Fachinputs, die sich auf spezifische, erlebte Situationen beziehen: zum Beispiel einen Sturz oder eine Lungenentzündung.

Wie schaffst du es, die richtige Flughöhe für die Fachinputs zu finden?
CS: Das ist in der Tat eine Herausforderung. Der Skill-Grade-Mix ist hier ein anderer als im Spital, wo ich zuvor gearbeitet habe. Das heisst, wir haben auch Personen im Team, die wenig pflegerischen Hintergrund haben. Zudem gibt es neben dem Wissen, das für alle relevant ist, auch Kompetenzen, die nur diplomierte Pflegefachpersonen haben müssen. Darum haben wir angefangen, zusätzlich Fallkolloquien nur mit ihnen durchzuführen, dafür aber betriebsübergreifend.

KBD: Die Fachinputs und Fallkolloquien sind tolle Gefässe, um Theorie und Praxis miteinander zu verbinden. Wenn man die Theorie mit dem Praxiserleben verknüpfen kann, erzielt man die nachhaltigsten Ergebnisse.

Was für komplexe Fälle besprecht ihr in den Fallkolloquien?
CS: Neulich hatten wir zum Beispiel eine Bewohnerin, die nach einer Schenkelhalsfraktur hoch delirant aus dem Spital zurückkam. Wie geht man als Pflegeteam damit um?

KBD: Daneben geht es auch um ethische Dilemmata: beispielsweise, wenn zwischen Sicherheit und sozialen Aspekten abgewogen werden muss. Ein Ehepaar lebt gemeinsam bei uns. Der Zustand der einen Person verschlechtert sich sehr stark. Dann stellt sich die Frage: Wie lange kann man einen Verbleib bei uns verantworten, bevor eine Verlegung in ein Gesundheitszentrum mit Angebot «Spezialisierte Pflege» zwingend wird? Das ist im Übrigen ein grosser Vorteil der Gesundheitszenten. Durch den Zusammenschluss der ehemaligen Alters- und Pflegezentren sind wir in einem engen Austausch und können noch besser gewährleisten, dass jede Person am für sie richtigen Ort gepflegt und betreut wird.

Corinne, was ist dein beruflicher Hintergrund als Pflegeexpertin APN?
CS: Ich bin diplomierte Pflegefachfrau und habe ein Masterstudium in Pflegewissenschaft absolviert. Mit dem Studium habe ich 2008 begonnen, weil ich mich zwar weiterentwickeln wollte, jedoch ohne Personalführung zu übernehmen. Das Studium gibt es erst seit dem Jahr 2000, es ist also vergleichsweise jung. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es in Amerika bereits seit den 60er-Jahren existiert.

Corinne, was ist die grösste Herausforderung in deiner Rolle als Pflegeexpertin APN?
CS: Definitiv die Organisation. Zu Beginn war ich jeweils nur einen Tag am Stück in einem Gesundheitszentrum. Das hat sich als wenig ideal herausgestellt, da ich an dem Tag stark mit Einlesen beschäftigt war und den von mir initiierten Prozess am nächsten Tag nicht weiterverfolgen konnte. Darum bleibe ich inzwischen an je zwei aufeinanderfolgenden Tagen in einem Gesundheitszentrum. Noch länger wäre zwar gut, aber das würde bedeuten, dass ich in jedem Betrieb nur alle vier Wochen bin.

Wie bewertet ihr die Pilotphase?
KBD: Für uns als Gesundheitszentrum ist die zusätzliche Rolle ein grosser Gewinn. Die Pflegeteams können niederschwellig bei Corinne nachfragen, wenn sie in einer Situation nicht weiterkommen. Dadurch sind sie nicht auf externe Hilfe angewiesen und fühlen sich nicht allein gelassen.

CS: Mein Fazit ist ebenfalls sehr positiv. Ich bin froh um Rückmeldungen aus den Pflegeteams. Wenn ich zum Beispiel einen Vorschlag mache, den die Pflegeteams zwar gut finden, aber aus irgendwelchen Gründen nicht umsetzen können, müssen wir das besprechen und alternative Lösungen finden. Es ist wichtig, dass wir längerfristig an den Neuerungen dranbleiben, sonst versanden sie im Berufsalltag. Dafür ist die Leitung Betreuung und Pflege zentral. Das Einführen von Neuerungen kann nur funktionieren, wenn alle mitziehen.