«Wer zu uns kommt, hat sehr viel Freude an der Arbeit. Schade, dass das Image nicht besser ist.»
Gaby Bieri, ärztliche Direktorin
Gaby, worauf liegt der Fokus bei der ärztlichen Tätigkeit im Heim?
Plakativ gesagt: Wir machen die Medizin, wegen der die meisten angefangen haben zu studieren. Während die Medizin an den meisten Orten vorwiegend technisch ist, machen wir klinische Medizin. Das heisst, wir fokussieren uns auf das, was das ärztliche Handwerk ausmacht: gute Anamnese, gute Untersuchung, gute Beurteilung, gute Behandlung.
Was ist für dich der spannendste Aspekt daran?
Wir machen eine ganzheitliche Medizin. Das heisst, wir schauen nicht nur das gebrochene Bein oder die Demenz an, sondern den Menschen als Ganzes: Wir beziehen bei der Behandlung die somatischen und die psychiatrischen Erkrankungen, das soziale Umfeld und die psychischen Auswirkungen mit ein. Vergangenen Sommer habe ich eine Kollegin eingestellt, die Mühe hatte mit der Medizin, wie sie im Spital gelebt wird. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, sich ganz aus dem Beruf zurückzuziehen. Seit sie bei uns ist, hat sie wieder Freude an der ärztlichen Tätigkeit.
Worauf führst du das zurück?
Wir können hier eine Medizin machen, die Sinn hat. Bei der man auch das Gefühl hat, man macht etwas Richtiges. Da die Menschen länger bei uns sind, haben wir zudem ganz andere Möglichkeiten des Beziehungsaufbaus.
Was verstehst du unter einer «Medizin, die Sinn hat»?
Unsere Behandlung muss zu einer Verbesserung der Lebensqualität und nicht zu einer Verlängerung der Lebensdauer führen. «Den Jahren Leben geben» ist eine sehr schöne und passende Grundhaltung. Bei der Rekrutierung von Ärzt*innen stelle ich jeweils ein paar klinische Fragen. Zum Beispiel: Was denken Sie sind übliche Diagnosen bei unseren Bewohnenden? Und wonach würden Sie priorisieren? Oft höre ich dann von Ärzt*innen, die im Spital ausgebildet wurden: Nach dem, was am Akutesten ist, was die Lebenserwartung am stärksten einschränkt. Darauf stelle ich die ketzerische Frage: Denken Sie, dass das mit 90 Jahren noch relevant ist? Wir behandeln das prioritär, was die Lebensqualität einschränkt. Wir versuchen, Komplikationen zu verhindern: Mangelernährung, Delir, Polymedikation, Stürze. Darum behandeln wir prioritär zum Beispiel Schmerzen, Atemnot und Einschränkungen der Funktionsfähigkeit. Wir leben eine andere Ausrichtung der Medizin. In der Pflege ist man sich dessen sehr bewusst, bei den Ärzt*innen ist das nicht immer der Fall.
Weshalb haben die Gesundheitszentren dennoch Mühe, ärztliches Personal zu finden?
Möglicherweise liegt es daran, dass viele Ärzt*innen keine oder eine falsche Vorstellung von Geriatrie haben. Dabei wäre das sehr wichtig. Denn auch wer in einer Hausarztpraxis arbeitet, sollte sich damit auskennen. Aufgrund der demografischen Entwicklung werden geriatrische Themen in der Gesundheitsversorgung und -prophylaxe immer wichtiger.
Wie liesse sich das lösen?
Zum Beispiel, indem mehr Ärzt*innen ein Assistenzjahr im geriatrischen Setting machen und Einblicke bekommen. Wir haben diesbezüglich attraktive Stellen. Da wir klinische Medizin machen, kann man bei uns sehr viel praktische Erfahrung sammeln.