
Ilona Ruegg wollte sowohl die Architektur als auch die mit dem neuen Gebäude verbundenen Tätigkeiten kennenlernen, als sie zum Kunst-und-Bau-Wettbewerb für den neuen Werkhof Bullingerstrasse von Entsorgung und Recycling Zürich (ERZ) eingeladen wurde. Um den architektonischen Ort in seiner Plastizität zu erfahren, erstellte die Architektin Kathrin Füglister für die Künstlerin ein Modell jenes Teils des erst im Entstehen begriffenen Baus, in dem sie ihr Werk platzieren wollte. Um zu begreifen, in welchem Kontext dieses so elegante, weite Gebäude im städtischen Zusammenhang steht, tauchte Ruegg in das «Inferno voller Büchsen, Flaschen und Abfälle» an der Langstrasse ein und fuhr nachts auf einer dieser Kleinkehrsaugmaschinen mit, die mit unablässig kreisenden Bürsten die Strassen und Trottoirs fegen und die Abfälle in sich einsaugen. Um zu verstehen, was mit diesen Abfällen passiert, nachdem sie kurzzeitig im Werkhof deponiert worden sind, blickte die Künstlerin – «auch dies ein Inferno» – in den Schlund der Kehrichtverbrennung Hagenholz, wo alles verbrannt und zu einer Trockenschlacke wird, die dann in einer in Hinwil entwickelten Anlage für Thermorecycling weiterverarbeitet und mit topmodernen Verfahren des «Urban Mining» aufgeschlossen wird. Dabei werden Metallteile bis zu einer Kleinheit von 0,3 mm aufgespürt, rückgewonnen und wieder in den industriellen Kreislauf der Produktion eingespiesen. «Ich staunte – und mir wurde klar, dass ich mit Metallen und Mineralien am Ende der Recyclingkette arbeiten wollte», sagt Ilona Ruegg. Ihr Material hat die Künstlerin also vor Ort finden können – und ihre Form?
Mulde aus Sammelgut
Ihr Blick fiel im Werkhof auf die Mulden, die in der Abfallbewirtschaftung eine zentrale Rolle spielen. «Es gibt verschiedene Mulden», wie Stephan Ilg erläutert, der als Leiter Abteilung Region West bei ERZ unter anderem auch für den Betrieb des neuen Werkhofs zuständig ist. «Neben grösseren, eckigen Mulden werden an einigen Stützpunkten noch die kleineren eingesetzt. Mit Deckeln versehen dienen diese dazu, die Dinge aufzunehmen, die auf den Strassen zusammengenommen werden.» An denen hat sich Ilona Ruegg orientiert. Es ging ihr jedoch nicht darum, existierende Mulden als Ready Made aufzugreifen und diese als Ikonen zu (v)erklären. Rueggs Anliegen ist es, Momente von Produktionsprozessen zu verdeutlichen. In diesem Fall sollte dies durch Mulden geschehen, die aus den Produkten hergestellt werden, die in ebendiesen Mulden gesammelt werden. Erlebbar wird so eine Art alchemistischer Prozess, bei dem Werte aus Abfall geschöpft werden. Die im Rahmen von Kunst und Bau gegossenen Mulden verkörpern den Kreislauf von recycelten Metallen und Mineralien, die gleichzeitig eine Nahtstelle von Kunst und Abfall vor Augen führen.
An der Schnittstelle von Innen und Aussen
Ilona Ruegg ging im Juni 2019 als Gewinnerin aus dem Kunst-und-Bau-Wettbewerb des Amts für Hochbauten hervor und konnte anschliessend ihr sorgfältig recherchiertes Projekt ausführen. Seit Juli 2020 hängt das fertige Werk nun neben der Toreinfahrt zum Werkhof und äugt leise hinter dem Sichtbeton der Fassade hervor. Es ist festgemacht im drei Meter breiten, dreissig Meter langen Raum zwischen den Räumen für die Mitarbeitenden und der riesigen, ohne Stützen auskommenden Garagenhalle für die Busse der VBZ (die ERZ-Einstellhalle befindet sich im UG). Der schmale, lange Raum ist Lichtzubringer, Treppenhaus und Atrium, wo sich Kletterpflanzen hochranken. Andreas Sonderegger von pool Architekten, der am Bau mitgewirkt hat und an der Kunstwahl beteiligt war, freut sich über das Resultat: «Ilona Ruegg hat für das Kunstwerk genau den Ort gefunden, der die Schnittstelle bildet, wo die Mitarbeitenden zirkulieren auf dem Weg zu ihren Büros, der Garderobe und dem Aufenthaltsraum, und wo Passantinnen und Passanten auf der Herdernstrasse vorbeigehen und das Werk sehen.» Sonderegger bekräftigt: «Wir sind sehr glücklich über Ilona Rueggs Arbeit. Die Künstlerin hat sich extrem intensiv mit der Aufgabe auseinandergesetzt. Manchmal zittert man als Architekt ja etwas bei Kunst-und-Bau-Aufgaben. Aber wenn es so harmonisch aufgeht und man während des Baus offen aufeinander eingeht, ist das der optimale Fall.»
Diskretes Werk
Die beiden Mulden sind mit Chromstahlbügeln verstrebt und am Gebäude befestigt. Die Position der Bügel suggeriert, dass die beiden zusammengefügten Mulden sich aneinander reiben und kippen könnten – sie sind aber unverrückbar miteinander verschweisst. Das Kunstwerk heisst «das Fassungsvermögen». Die Funktion als Sammelbecken für Abfälle können die Mulden in dieser Position nicht übernehmen. Das Sammelgut manifestiert sich allenfalls virtuell in Form der durch den Anblick freigesetzten Assoziationen, die in der hängenden Position der Mulden allerdings permanent nach unten ab-fallen und ausgegossen werden… Nach oben aber gibt «das Fassungsvermögen» den Blick zum Himmel frei, durch das offene Dach des Raums und durch feine Löcher in den Mulden, die sich beim Giessen durch die eingeworfene Schlacke ergeben haben. Das Werk ist den atmosphärischen Bedingungen samt Regen und Schnee ausgesetzt. Es schimmert rötlich, gelb und grün, hat an manchen Stellen schon die bei Bronze typische Patina angesetzt. «Die Mulden werden möglicherweise nicht von allen als Kunst wahrgenommen», sagt Stephan Ilg. «Sie stören jedenfalls auch niemanden. Für viele handelt es sich wohl einfach um alte, durchgerostete Mulden, da die wenigsten den Hintergrund des Kunstwerks kennen.» Ilona Rueggs Kunstwerk ist diskret. «Es ist eine Bronzeskulptur, bei der Rückstände sichtbar sind. Sie altert sehr schön», ist sich Andreas Sonderegger gewiss.
Text: Peter Schneider
Foto: Bilder 1: Andrea Helbling, Zürich; Bilderstrecke: Kunstgiesserei St. Gallen
Video: Kunstgiesserei St. Gallen