Nach einem grossen Brande im Jahre 1078 begann man 1104 mit dem Bau des heutigen Grossmünsters. Am Ende des 12. Jahrhunderts gliederte man der Kirche ein einstöckiges Gebäude mit einem Kreuzgang an. In diesem Stift wohnten die Chorherren. Das waren Geistliche, die in der Kirche predigten, am Altar sangen und für die Toten beteten. Die Chorherren redeten untereinander in lateinischer Sprache. Auch ihre Gesänge und Gebete waren lateinisch; das Volk aber verstand sie nicht.
Nach einer Sage soll Karl der Grosse bei einem Aufenthalt auf der kaiserlichen Pfalz in Zürich Schüler geprüft haben. Vielleicht fand dieses Examen in der Stiftschule des Grossmünsters statt. Im Chorherrenstift war nämlich eine Schule für Knaben eingerichtet, die Geistliche werden wollten. Die Schulstube lag in der nördlichen Ecke des Gebäudes. Sie war ziemlich gross, aber niedrig und düster. Die dicken Butzenscheiben liessen nur wenig Helligkeit herein.
Später sassen etwa zwanzig bis dreissig Knaben verschiedenen Alters auf den langen, niederen Bänken oder kleinen Stühlchen ohne Lehne. Auf den Knien hielten sie Schreibtafeln aus Holz, Glas oder Metall, welche mit einer dünnen Wachsschicht überzogen waren. Einige hatten sogar nur ein Stück glatter Baumrinde vor sich. In das Wachs kritzelten sie mit spitzigen Stäbchen die Buchstaben, Wörter und Sätze. Da eine Wandtafel fehlte, musste der Lehrer jedem vorschreiben. Den Anfängern wies er hölzerne Buchstaben vor. Denn Schulbücher gab es noch keine.
Im Lehrstuhl sass der Schulmeister. Er trug den langen, schwarzen Priestermantel und auf dem Kopfe die hohe Mütze. Die Sätze und Gebete sprach oder sang er den Schülern vor. Diese wiederholten das Gehörte, bis sie es auswendig konnten. Dann rief er jeden einzelnen zu sich her. Lateinisch redete er den Schüler an, lateinisch musste dieser antworten. Wenn er Fehler machte oder gar deutsch sprach, wurde ihm zur Strafe ein kleiner hölzerner Esel an den Hals gehängt. Prügel mit der Rute waren etwas Alltägliches. Der Lehrer ermahnte die Schüler, auch unter sich lateinisch zu reden.
Nach den Lesestunden übten die Knaben fleissig lateinische Kirchengesänge; denn sie mussten während des Gottesdienstes auf den Altargesang der Priester antworten. Zum Andenken an Kaiser Karl hiess die Schule Karolinum.

- Kreuzgang: um den Innenhof eines Klosters laufender, offener Bogengang
- Stift: Kloster
- Chorherren: Die Chorherren leben an einer bestimmten Kirche, dem Stift, für dessen Gottesdienste sie zuständig sind.
- Altar: erhöhter, einem Tisch ähnlicher Aufbau für religiöse Handlungen
- Sage: ursprünglich mündlich überlieferte Geschichte über ein nicht bewiesenes Ereignis
- Pfalz: (im Mittelalter) dem deutschen König bzw. Kaiser u. a. als Gerichtsstätte dienende wechselnde Residenz
- Stiftschule: vor allem der Ausbildung von Geistlichen dienende Schule
- Butzenscheiben: runde, in Blei gefasste Scheiben mit einer Verdickung in der Mitte
- Rute: langer, dünner, biegsamer Zweig
Nach Ostern 1802 wurde ich das erste Mal in die Schule geführt und zwar zur alten Jungfer Weber an der Untern Zäune. In ihrer Stube sassen etwa fünfzehn Knaben und Mädchen um einen langen Tisch, nach Alter und Betragen eingereiht.
Der Unterricht begann mit dem Unservater. Voll staunender Bewunderung blickte ich auf einen älteren Schüler, der das lange Gebet auswendig hersagte. Es schien mir ganz unmöglich, dass ich in einem Jahr selbst jenen Platz einnehmen und das nämliche Gebet ebenso rasch und gedankenlos herunterleiern sollte. Dann mussten wir mit dem «Namenbüchlein» buchstabieren. Zu jedem Buchstaben gehörte ein Bildchen, zum A ein lustiger Affe, zum Z eine Zibetkatze. Als Übungen beim Buchstaben X standen die Wörter «Xell», «xaltzen» und «xotten»!
Nach einem Jahr durfte ich das «Namenbüchlein» mit dem «Lehrmeister» vertauschen. Dieses Büchlein enthielt eine Sammlung von Bibelsprüchen und Liedern. Nebenher lernte ich fleissig Sprüche, Gebete und Kirchenlieder aus dem «Waserbüchlein». Das wichtigste Schulbuch aber war eine Art Katechismus, die «Zeugnuss», deren Fragen und Antworten ich bald auswendig hersagen konnte, ohne freilich ihren Sinn zu verstehen. Die älteren Schüler durften schliesslich einige Psalmen oder gar etwas aus dem Neuen Testament lesen.
Schreiben lernten wir auf Schiefertafeln. Das Gekreisch der Griffel fuhr einem manchmal durch Mark und Bein. In der Rechenstunde nahmen wir unsere nicht immer sauberen Finger zu Hilfe oder zählten mit weissen Böhnchen, mit welchen wir uns nachher gegenseitig bewarfen. Das Einmaleins begriff ich lange nicht, und manche Träne tropfte deswegen auf meine Tafel. Mehr Freude bereitete mir das Singen, besonders wenn uns die liebe Jungfer Weber auf ihrer kleinen Hausorgel begleitete.

- Hausschule: Schule für 4- bis 6-jährige Mädchen und Knaben
- Jungfer: alte Bezeichnung für unverheiratete Frau
- Betragen: Benehmen, Verhalten
- Unservater (auch Vaterunser genannt): Das Unservater ist das am weitesten verbreitete Gebet des Christentums
- hersagen: aufsagen
- das nämliche: dieses
- herunterleiern: aufsagen
- Zibetkatze: Schleichkatze, die in Asien und Afrika vorkommt
- Katechismus: christliche Schrift mit Fragen und Antworten
- Psalmen: Lieder aus dem Alten Testament
- Griffel: Schreibstift für Schiefertafeln
- durch Mark und Bein fahren: Wenn jemandem etwas durch «Mark und Bein» fährt, dann wird das Betreffende als besonders unangenehm, wenn nicht gar als unerträglich empfunden
Nach dem Besuch der Kinder- oder Hausschule kam ich in die Deutsche Schule am Neumarkt, in der die oberen Primarklassen unterrichtet wurden. In meiner Abteilung befanden sich nur Knaben. Unser Lehrer war früher Wachtmeister gewesen, was man ihm noch im Alter gut anmerkte. Er verlangte Gehorsam, Ruhe und Ordnung. Sein Unterricht war sehr lehrreich. Wer diesen störte, wurde mit Tatzen bestraft, aber nicht sofort, sondern stets am Freitag zwischen drei und vier Uhr. Inzwischen schrieb ein Aufseher für jeden Knaben die Anzahl der Tatzen auf.
In der Pause vor der allwöchentlichen Abrechnung rauchte der Lehrer aus einer langen Pfeife einen scharfen Tabak. Dann brachte ihm seine Frau aus der Wohnung schwarzen Kaffee herab. Das Becken war so gross, dass ich darin fast die Füsse hätte baden können. Daraus trank er einige Schlucke, um sich zu stärken. Hierauf zog er hinter dem Ofen einen Haselstock hervor und befahl dem Aufseher, seine Strafliste zu verlesen. Die kleinen Missetäter mussten sich in eine Reihe stellen und abwechslungsweise die linke und die rechte Hand vorhalten, um ihre Tatzen in Empfang zu nehmen. Es gab solche, die nach und nach bis zu einem Dutzend erhielten. Wer dabei weinte, wurde vom Lehrer noch verspottet: «So, du bist mir ein schöner Eidgenoss! Wie willst du künftig im Kanonendonner bestehen, wenn du nicht einmal ein paar Tätzlein ertragen magst? Schäme dich!» Dann schlürfte er seinen Kaffee zu Ende und begab sich in die Wohnung hinauf.

- Hausschule: Schule für 4- bis 6-jährige Mädchen und Knaben
- Wachtmeister: Dienstgrad im Militär
- Tatzen: Tatzen stellen eine Form der Körperstrafe dar, die überwiegend im Schulunterricht angewandt wurde. Es handelt sich dabei um Schläge auf die Handfläche(n)
- Missetäter: Übeltäter, jemand der etwas Schlechtes gemacht hat
- ein Dutzend: zwölf Stück
- Kanonendonner: Lärm von feuernden Kanonen
Um die Kinder beim Essen an feinere Sitten zu gewöhnen, schrieben besorgte Jugendfreunde ausführliche, gereimte Anstandsregeln, die zum Auswendiglernen an die Wand gehängt wurden. Auf einem solchen Merkzettel aus dem Jahre 1645 steht:
Ist nun nach eurem Brauch der Tisch gedeckt zum Essen,
so werde des Gebätts zum Herren nicht vergessen.
Und sitzest du am Tisch, bei Jungen oder Alten,
so sollst du deine Füsse still und beisammen halten.
Nicht kratz auf deinem Haupt, nicht an den Armen dein,
das Nasengrübeln gar lass underwegen sein.
Beiseits abwende dich beim Schneuzen, Husten, Niesen,
das Riechen an der Speis tut männiglich verdriessen.
Den zweiten Bissen sollst du mit deinem Mund nicht fassen,
du habest dann zuvor den ersten abgelassen.
Auch trinke nicht, wenn du noch etwas hast im Mund,
noch rede dannzumal, auch sonst nicht ohne Grund.
Die Speisen und Getränk zu tadeln nicht gedenke
und auch zu rühmen nicht, das Maul nicht drüber henke.
Was du gekostet hast, das leg nicht andern für,
und werfe nichts von dir bis zu der Stubentür.
Was angebissen ist, das tunk nicht wieder ein,
auch gaff nicht wie ein Aff und schmatz nicht wie ein Schwein.
Und ist das Mahl zu End, so sag für Speis und Trank
mit Ernst und lauter Stimm Gott freudig Lob und Dank!
- Sitten: Benehmen, Manieren, Umgangsformen
- Gebätt: Gebet
- zum Herren: zu Gott
- männiglich: jeder, ohne Ausnahme
- verdriessen: jemanden missmutig machen; bei jemandem Ärger auslösen
- abgelassen: heruntergeschluckt
- dannzumal: in jenem Augenblick, dann
- tadeln: kritisieren, missbilligen
- rühmen: loben
- gekostet: probiert
Das Oetenbachquartier verdankt seinen Namen einem Bach, der draussen beim Zürichhorn in den See mündet. Er heisst Hornbach, in seinem Oberlauf Wehrenbach und kommt von der Burgwies her. Auf den alten Landkarten heisst er Oetenbach. Das um 1230 an seinem Südufer errichtete Nonnenkloster nannte man deshalb Oetenbachkloster. Die frommen Frauen stritten sich viel mit den Chorherren des Grossmünsters, in deren Zehntengebiet sie wohnten. Schliesslich schritt der Bischof von Konstanz ein. Er verlegte das Kloster in die Mauern der Stadt auf den Sihlbühl. Doch seinen Namen behielt es. Nach der Aufhebung der Klöster wurde es als Waisenhaus und sogar als Zuchthaus benutzt.
Nur der Name «Oetenbachgasse» weist jetzt auf das ehemalige Kloster hin. Für die Buben, die früher rund um den Lindenhof wohnten, war der «Oetenbach» Hauptkampfplatz der alljährlich wiederkehrenden Bubenschlachten gegen die Münsterhöfler, die Niederdörfler oder die Aussersihler.
Die Aussersihler kamen stets am Fastnachtsmontag, am «Prügelmäntig», in die Stadt. Sie waren fürchterlich verkleidet, schwenkten Schweinsblasen, liessen ihre Rätschen schnarren und drohten mit Stöcken und Stecken. Da herrschte jeweils eine atemlose Spannung unter den Buben am Oetenbach und am Rennweg.
Überall wurden Vorposten verteilt und Kundschafter ausgesandt. Schliesslich traf dann die Meldung ein: «Sie chömed! Sie chömed! Sie sind scho über d'Sihlbrugg!» Die ersten Vorhuten bewegten sich Richtung Löwenplatz und Sihlporte, wo erste Geplänkel stattfanden. Dort zeigte man sich die Zähne, stichelte und neckte: «Chömed, wänn er Guri händ! Chömed doch!» «Böh, Guri!» tönte es verächtlich zurück. Beschimpfungen flogen hin und her, und die Spannung wurde fast unerträglich.
Die Hauptschlacht wurde jedoch stets am Oetenbach und auf dem Lindenhof geschlagen, wo die Rennwegler geduckt, aber zum Sprunge bereit auf die heranschleichenden, dann plötzlich anstürmenden Aussersihler lauerten. Jetzt standen sich die beiden Heere gegenüber, und ein wildes Schlachtgetümmel hob an. Auf beiden Seiten hagelte es Stösse, Schläge, Hiebe. Manche Nase blutete, manche Beule wurde geschlagen und manches Hemd wurde zerrissen. In all den Jahren gelang es den Aussersihlern nur ein einziges Mal, die Oetenbachgasse zu stürmen und den Lindenhof zu erobern.
Noch wichtiger als die Schlachten am «Prügelmäntig» aber waren die alljährlichen Kämpfe gegen die Niederdörfler um den Lindenhof. Jeden Vorfrühling wurden diese Kämpfe ausgefochten, soweit zurück man sich erinnern konnte. Meistens siegten die Rennwegler. Vielleicht gaben sie sich besonders Mühe, weil freundliche Anwohner des Lindenhofs sie nach dem Sieg mit Kaffee und Kuchen bewirteten oder ihnen sogar eine römische Münze schenkten.

- Chorherren: Die Chorherren leben an einer bestimmten Kirche, dem Stift, für dessen Gottesdienste sie zuständig sind
- Zehnt: Der Begriff Zehnt bezeichnet eine etwa zehnprozentige traditionelle Steuer in Form von Geld oder Naturalien wie Lebensmittel, die im Mittelalter von der Bevölkerung an eine religiöse Einrichtung (Kirche, Tempel) oder eine weltliche Einrichtung (König, Grundherr) bezahlt werden musste. Die Nonnen des Oetenbachklosters mussten den Zehnt an die Chorherren des Grossmünsters abliefern
- Rätsche: Instrument aus einem an einer Stange befestigten Zahnrad, gegen dessen Zähne beim Schwenken eine Holzzunge schlägt
- Geplänkel: in Rede und Gegenrede vor sich gehende, harmlose Auseinandersetzung; [scherzhaftes] Wortgefecht